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Ein polnisches Elternhaus, englische Schulen und Ferien mit französischen Cousins und Cousinen - all das setzte mich von klein auf verschiedenen Bildern von Napoleon aus, die einander heftig widersprachen: Mal war er ein gottähnliches Genie, mal eine romantische Kunstfigur, dann ein bösartiges Monstrum oder einfach ein widerwärtiger kleiner Diktator. In diesem Kreuzfeuer von Phantasie und Vorurteil entwickelte ich eine empathische Nähe zu jeder dieser Versionen, ohne mich einer von ihnen vollständig ausliefern zu können.
Napoleon war ein Mensch; und obwohl ich weiß, dass andere ihm übermenschliche Qualitäten zuschreiben, kann ich nichts Übermenschliches an ihm entdecken. Er ließ zwar einige außerordentliche Eigenschaften erkennen, aber in vielem war er sehr durchschnittlich. Es fällt mir schwer, jemandem Genialität zu attestieren, der trotz all seiner vielen Triumphe die schlimmste (und ganz und gar selbstverschuldete) Niederlage der Kriegsgeschichte verantwortete und aus eigenem Antrieb das große Unternehmen zerstörte, das er und andere unter großen Mühen auf den Weg gebracht hatten. Zweifellos war er ein brillanter Taktiker, wie man so etwas von einem gewieften Macher kleinstädtischer Herkunft erwarten würde. Aber er war kein Stratege, wie sein trauriges Ende bezeugt.
Ebensowenig war Napoleon ein bösartiges Monstrum. Er konnte selbstsüchtig und gewalttätig sein wie jeder andere, aber nichts bezeugt, dass er anderen mutwillig Leid zufügen wollte. Seine Motive waren im großen und ganzen lobenswert und seine Pläne nicht ehrgeiziger als die von Zeitgenossen wie Alexander I. von Russland, Wellington, Nelson, Metternich, Blücher, Bernadotte und anderen mehr. Was seinen Ehrgeiz so außergewöhnlich machte, war dessen Ausmaß, das die Umstände ihm möglich machten.
Als er von seinem Tod erfuhr, verfasste der österreichische Dramatiker Franz Grillparzer ein Gedicht. Er war Student in Wien gewesen, als Napoleon die Stadt im Jahr 1809 beschoss; er hatte also keinen Grund, ihn zu mögen. In seinem Gedicht aber bekennt er, dass er ihn zwar nicht lieben, sich aber auch nicht durchringen könne, ihn zu hassen. Für Grillparzer war er nur das sichtbare Symptom der Krankheit seiner Zeit, und als solchem wurde ihm die Schuld an den Sünden aller angelastet. In dieser Beobachtung steckt viel Wahrheit.[1]
In dem halben Jahrhundert vor Napoleons Machtantritt führte ein gigantischer Kampf um globale Vorherrschaft dazu, dass die Briten Kanada, große Teile Indiens, einen Kranz von Kolonien erwarben und danach strebten, die Weltmeere zu kontrollieren; dass Österreich Provinzen in Italien und Polen an sich riss, Preußen sich um zwei Drittel vergrößerte und Russland seine Grenze 600 Kilometer nach Europa hineinschob, weite Gebiete in Zentralasien, Sibirien und Alaska besetzte und Ansprüche sogar auf das ferne Kalifornien erhob. Und doch werden Georg III., Maria Theresia, Friedrich II. und Katharina II. im allgemeinen nicht beschuldigt, größenwahnsinnige Monstren und zwanghafte Kriegstreiber gewesen zu sein.
Napoleon wird häufig wegen seiner Invasion Ägyptens verdammt, während die ihr folgende britische Besetzung, die das koloniale Monopol auf Indien absichern sollte, vergleichbaren Vorwürfen nicht ausgesetzt ist. Stets wird ihm die Wiedereinführung der Sklaverei auf Martinique angelastet, während Großbritannien sie in seinen Kolonien noch für weitere dreißig Jahre fortbestehen ließ, und jede andere Kolonialmacht noch für etliche Jahrzehnte mehr. Sein Einsatz von polizeilicher Überwachung und Zensur wird ebenfalls immer wieder getadelt, obgleich ihm dies jeder andere Staat in Europa nachtat, mit unterschiedlichen Graden der Diskretion und Heuchelei.
Der Tenor wurde von den Siegern von 1815 vorgegeben, die sich die Rolle von Verteidigern einer angeblich gerechten Sozialordnung gegen das Böse anmaßten; was seit dieser Zeit über Napoleon geschrieben wurde, atmete stets eine Moral, die zur Verleumdung oder zur Verherrlichung nötigte. Angefangen mit Stendhal, der behauptete, von Napoleon nur in einer religiösen Perspektive schreiben zu können, und Goethe, der sein Leben als das «eines Halbgotts» sah, hatten französische und andere europäische Historiker große Mühe, das Numinose aus ihren Werken herauszuhalten, und noch heute haben sie einen Beigeschmack von Ehrfurcht. Bis vor kurzem noch scheuten sich angelsächsische Historiker, sich mittels eines Verständnisses für den damaligen Zeitgeist zu einer Sichtweise durchzuringen, in der Napoleon etwas anderes war als ein fremdartiges Monstrum. Nationale Mythen haben darin gewetteifert, weitere Schichten von Vorurteilen hinzuzufügen, die zu überwinden vielen schwerfällt.[2]
Napoleon war in jeder Beziehung ein Kind seiner Zeit; er war in vielerlei Hinsicht der Inbegriff seiner Epoche. Will man verstehen, was für ein Mensch er war und was ihn bewegte, muss man ihn in seinen Kontexten sehen. Dies aber erfordert eine kühle Distanz gegenüber überlieferten Schemata und nationalistischen Vorurteilen, und eine unvoreingenommene Untersuchung dessen, was die Erschütterungen und Umbrüche jener Zeit an Bedrohungen und Chancen mit sich brachten.
In den 1790er Jahren betrat Napoleon eine Welt im Kriegszustand, eine, in der die fundamentalen Grundlagen von Gesellschaft überhaupt in Frage gestellt wurden. Es war ein Kampf um Vorherrschaft und Überleben, in dem sich jeder Staat auf dem Kontinent von seinem Eigeninteresse leiten ließ, Verträge brach und seine Verbündeten schamlos hinterging. Auf allen Seiten zeigten Monarchen, Staatslenker und Feldherren ein ähnliches Ausmaß von angstbesetzter Aggression, Gier, Abgebrühtheit und Brutalität. Irgendeinen der beteiligten Staaten als moralisch besser zu bezeichnen, ist ahistorischer Unsinn, und die Machtgier zu verdammen hieße, die Natur des Menschen und die politischen Notwendigkeiten zu leugnen.
Für Aristoteles war die Macht, neben Reichtum und Freundschaft, einer der wesentlichen Bestandteile individuellen Glücks. Für Hobbes war der Erwerbstrieb nicht nur angeboren, sondern auch wohltätig, denn er brachte die Menschen dazu, zu herrschen und zu diesem Zweck Gemeinwesen zu organisieren; seiner Auffassung nach könne keine wie auch immer aufgebaute soziale Ordnung bestehen, wenn in ihr die Macht nicht bei einer oder mehreren Personen, oder auch einer Institution, konzentriert wäre und alle beherrschte.
Es war nicht Napoleon, der den Krieg auslöste, der 1792 begann, als er ein einfacher Leutnant war, und der mit einer kurzen Unterbrechung bis 1814 andauerte. Eine Debatte darüber, welche Seite am Ausbruch und den anhaltenden Feindseligkeiten schuld war, ist müßig, denn die Verantwortung kann nicht eindeutig einer oder der anderen Seite zugeschrieben werden. Die Kämpfe forderten Menschenleben, wofür oft Napoleon allein verantwortlich gemacht wird; das aber ist absurd, denn die Schuld daran müssen alle kriegführenden Parteien tragen. Und er opferte das Leben seiner Soldaten nicht so verschwenderisch wie manch anderer.
Die französischen Verluste werden für die sieben Jahre revolutionärer Revolutionsregierung (1792-1799) auf vier bis fünfhunderttausend geschätzt, die in den fünfzehn Jahren von Napoleons Herrschaft auf knapp das doppelte, auf acht bis neunhunderttausend. Angesichts der Tatsache, dass die Zahlen nicht nur Tote, Verwundete und Kranke, sondern auch Vermisste umfassen, deren Anzahl exponentiell anstieg, als seine Kriegszüge in größere Entfernungen reichten, wird klar, dass die Verluste in den Schlachten unter Napoleon niedriger lagen als während der Revolutionszeit - und das, obwohl zunehmend schwere Artillerie zum Einsatz kam und die Armeen größer wurden. Die Mehrheit jener, die als Vermisste geführt wurden, waren Deserteure, die entweder zurück nach Hause strebten oder sich in anderen Ländern niederließen. Damit sollen weder das Leiden noch die Traumata des Krieges kleingeredet, sondern in einen angemessenen Kontext gestellt werden.[3]
Mein Ziel in diesem Buch besteht nicht darin, zu rechtfertigen oder zu verdammen, sondern vielmehr, in all seinen Facetten das Leben des Mannes zusammenzusetzen, der als Napoleone Buonaparte geboren wurde, und zu untersuchen, wie er «Napoleon» wurde und das erreichte, was er erreichte, und wie es dazu kam, dass er es zerstörte.
Dafür habe ich mich auf überprüfbare Primärquellen konzentriert und die Memoiren von Personen, die wie Bourrienne, Fouché, Barras und andere mit ihren Schriften vor allem sich selbst rechtfertigen oder ihr eigenes Profil schaffen wollten, mit der gebührenden Skepsis genutzt, und es vermieden, die Schriften der Herzogin von Abrantès als Belege ...
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