Schweitzer Fachinformationen
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Die Zeit, die vergeht, ist voller Leben. Nachdem wir einen Schilling auf die Gleise gelegt und uns in das hohe Gras am Bahndamm gesetzt hatten, läutete flussaufwärts ein Glöckchen, Insekten summten in der Mittagshitze. Die ewigen Holzarbeiten im Wald waren nicht mehr zu hören. Mein Großvater legte die Hand ans Ohr und flüsterte, dass es nun so weit sei. Bald darauf schossen die Garnituren der Regionalbahn vorbei und nahmen uns für einen Moment den Atem. Als der Zug nach einigen hundert Metern im Bahnhof anhielt und die Lautsprecher angingen, waren wir schon längst auf den Gleisen. Die Münze war in den Schotter gesprungen, ein namenloses Plättchen Kupfer, das ich in meiner Hand einschloss. Alles hat Bestand in anderer Form, sagte mein Großvater.
Im alten Bäckerhaus meiner Familie gab es Räume, die ich nur an der Hand der Erwachsenen betrat: die verlassenen Gesellenkammern, an deren Wänden Farbfotografien von Filmstars angepinnt waren, den Keller, wo schwere Reisekisten standen und man auf Augenhöhe mit der Straße war. Jeder Raum im Haus hatte eine andere Temperatur, ein anderes Licht, einen bestimmten Geruch. Abends saßen wir in Korbsesseln am Balkon, ich weiß nicht mehr, worüber wir geredet haben. Wenn sich der Verkehr der Salzkammergutstraße, die zu dieser Zeit noch durch den Ort führte, beruhigt hatte, kam die Zeit der Schwalben und der Himmel über den Kalmbergen wurde schwarz.
Ich erinnere mich an das Goiserer Tal meiner Kindheit, sehe die blühenden Wiesen bis in den Himmel hinein, für mich als Wiener Stadtkind ein Paradies, in dem man Blumen nicht kaufen, sondern pflücken konnte. Man band den Strauß mit wildem Hafer zusammen, eine Margerite wurde stets ins Knopfloch gesteckt. Im Laufe der Ferienwochen, die ich bei meinen Großeltern verbrachte, befüllte ich alle Gefäße im Haus mit Blumen. Wenn der Strauß Mist machte, die altdeutschen Kommoden mit Blütenstaub bedeckte, warf meine Großmutter das Gebinde in den Ofen. Die Glut verschmorte die Stängel, ein leises Sirren war zu hören, bis alles zu Asche zerfiel.
Meine Heimat ist ein fremder Ort, den ich gut kenne. In den Jahrzehnten, die ich nach Goisern komme, stellt sich das Vertraute unmittelbar ein. Die Stimmen einer angeheiterten Männerrunde an einem Freitagnachmittag in der Laube des Bahnhofsbeisls, der erste Blick auf die Traun, sobald der Zug den Bahnhof verlassen hat. Am liebsten reise ich in der Abenddämmerung an, wenn die Flanken des Krippensteins zartrosa gefärbt sind. Morgen wird es schön sein. In den oberen Ortschaften dröhnen die Mopeds der Jungen, hinter den Fenstern des Altenheims gehen die Fernseher an. Auch an den Hundstagen kommt mir die Luft frisch vor, "wieder zu Hause", denke ich im selben Atemzug. Vielleicht ist das mein Begreifen von Heimat, ich atme in Goisern tiefer. So viele Bilder kommen mir entgegen. Sie gehören mir, ich habe sie mitgebracht und sie sind immer hiergeblieben, sie stellen sich ein. Eine Collage, die sich verselbständigt und fortschreibt, das Forstner-Haus, die alte Paula saß gern auf der Veranda, die Sparkasse Salzkammergut, wo früher das Kino war, das Kriegerdenkmal mit den Namen der verlorenen Söhne, der Garten der Schnitzer-Pepperl, eine grüne Oase in der Marktstraße. Die Schläge der Kirchenglocken vierteln meine Stunden im Ort, ich höre sie nicht. Niemand hört ihn hier und jetzt, den Takt der Zeit.
Seit geraumer Zeit schreiben Lokalhistoriker an der Geschichte des Orts, wias gwen is, entnehmen den Chroniken Eckdaten der historischen Ereignisse, schürfen in den Vereinsarchiven. Die Gemeinde brachte allerlei Gedenktafeln an, ein Themenweg führt zu Stationen der frühen Arbeiterbewegung, das eine oder andere Denkmal wurde errichtet, man erfuhr einiges und verstand wenig. Geschichtsvergessenheit griff um sich. Nach und nach entschlug man sich der Auseinandersetzung mit dem Geschehen im Ort, der Geschichte der Eltern. 1940 und 1942 waren strenge Winter, ist in der Broschüre der Ortsgeschichte des Heimatvereins zu erfahren. Zeitgeschichte wurde durch atmosphärische Mythen ersetzt, Sozialgeschichte durch Brauchtumspflege. Die Bewohner des Orts verdrängten ihre Geschichte, sie schliffen und bogen sie zurecht. Die Erinnerung an den Widerstand gegen die katholische Herrschaft der vorjosephinischen Zeit wurde identitätsstiftend, und die protestantische Rückzugsgemeinde Goisern richtete sich ihre Narrative im Landlermuseum ein. Auch die alltagsgeschichtlichen Spuren der Wilderer und Vogelfänger wurden bewahrt, und das Goiserische verstand sich als keck und widerständig, man spottete über die feinen Leut', den Kaiser und seine Menagerie, kolportierte die Bonmots der Untertanen, erzählte sich dörfische Missgeschicke, Betrügereien, Schildbürgerstreiche und manche Tragödien. Da viele Ehemalige nach 1945 in den Schulen unterrichteten und die Geschichte fortschrieben, verblasste die Zeitgeschichte und geriet in Verlust. Solange die Alten lebten, schwieg man. Jeder Versuch von außen, der Geschichte die Decke vom Kopf zu ziehen, misslang. Die Heimatforscher verliehen der Gegend die Patina von Salz und Holz, als historische Angelpunkte setzte man die Gegenreformation und die Arbeiterbewegung. Gelegentlich gelang der Brückenschlag zur großen Geschichte, man schrieb über die Armut in den dreißiger Jahren, die schemenhaften Erinnerungen an den Krieg verloren sich zusehends. Man wusste voneinander Bescheid, das genügte.
Ich weiß nicht genau, wann ich die Idee, eine Ortsgeschichte zu schreiben, erstmals hatte. Sollten die alten Geschichten Konturen gewinnen, die Fülle meiner Erinnerungen in eine Form gegossen, etwa dem Ort ein Denkmal gesetzt werden? Vielleicht wollte ich einer Sehnsucht Ausdruck verleihen, vielleicht, um von dem Ort eines Tages Abschied nehmen zu können. Bekanntlich geht dem Handwerk der Historiker die Absicht voraus, etwas Gültiges zu erfassen, womöglich dem kollektiven Gedächtnis vor Ort eine Wendung zu geben. Zu Beginn der Arbeit sind die Werkzeuge grob, schlagen Gestein auf, zertrümmern Anekdotisches, verwerfen die gute alte Zeit. Dann die Feinarbeit, nun Bruchstücke und Splitter, die geordnet werden. Bin ich im Ort, fallen mir Geschichten zu, nichts ist ohne Belang. Ein Mann steigt aus der Traun und lässt sich in der Augustsonne trocknen, er erzählt über seinen Großvater im Ersten Weltkrieg. Irgendwo gab es Briefe, doch wer weiß, wo sie geblieben sind. Dem Schweigen der Männer nach den Kriegen ist Raum zu geben, dennoch sind die Leerstellen zu benennen, der Tonlosigkeit ein Ausdruck zu geben. Viele Menschen, die mir in meinen Goiserer Jahren begegneten, finden Einlass in den Text. Sie gehen ein Stück des Weges mit, auch wenn sie vergangen sind. Ich halte inne, gehe dem Vergessenen nach, verknüpfe Erinnerungen mit dem Duktus der Zeitgeschichte oder lasse es bleiben. Viele Namenlose stehen stramm auf alten Fotografien, die Frauen tragen lange Kittel, die Männer Bärte, da läuft ein bloßfüßiges Kind ins Bild. Es sind die Bewohner des Orts, die Geschichte erzählen, nicht die eine gültige, sondernd deren so viele. Um sie herum stets die Berge, die Traun, die Wälder und Wiesen. "Das Tal ist zwei Stunden lang und nahezu eine Stunde breit", schrieb der Gemeindevorsteher im Jahr 1909. Die Geschichte eines Orts zu erzählen ist ein Versuch, ein Kunststück, eine Provokation, in jedem Fall ein Liebesgeständnis.
Viele Gesprächspartner meinen zunächst, wenig über die Ortsgeschichte zu wissen, und verweisen auf Personen, die sich damit beschäftigen. Ich gerate an Sammler, die mir Wimpel des Veteranenverbands, Programmzettel des Männergesangsvereins und Zielscheiben der Armbrustschützen zeigen, auch gibt es Broschüren aller Art, die den Aufbruch der ländlichen Gesellschaft im 19. Jahrhundert dokumentieren. Da wären 150 Jahre Freiwillige Feuerwehr, 150 Jahre Arbeiter-Bildungsverein oder 130 Jahre Wegverein Sunnseitn, chronologisch aufgefächerte Geschichte, die Jubiläen geben Orientierung im Allgemeinen. Die Menschen vor Ort bleiben im Hintergrund, werden sie namentlich genannt, hatten sie eine bestimmte Funktion inne, Obmänner, Kommandanten, Vorsteher und Hauptmänner. Gelingt es jedoch, ein Gespräch in Schwung zu bekommen, den Fokus auf vermeintliche Nebensächlichkeiten zu lenken, dem Beiläufigen Gehör zu schenken, entstehen verschlungene Erzählbögen zwischen den unterschiedlichen Milieus und deren Repräsentanten. Lichtes Gewebe, das Figuren für einen Moment plastisch macht. Unvermutet treten Details zutage, Zufallsfunde in Halbsätzen, die einen bestimmten Augenblick wiedergeben. Der Großvater, der am Hackstock arbeitete und dem ein Finger fehlte, die Blutspur des Tieres, das der Schlachtbank entkam, nicht aber dem Tod. Es sind filmähnliche Streifzüge geworden,...
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