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Vortrag vor der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Warschau am 7. Juni 1979
Die Geschichte des deutschen Nationalismus ist bisher überwiegend als die Geschichte seiner Denker behandelt worden. Im Vordergrund standen Ideen und nicht Interessen. Die Methoden der Forschung waren geistes- und nicht sozialgeschichtlich, eher phänomenologisch als analytisch.
Die Mängel dieses Ansatzes liegen auf der Hand. Der amerikanische Historiker Robert Berdahl hat 1972 einige der Fragen genannt, die bis heute nicht befriedigend beantwortet sind: «In welchem Verhältnis standen Idee und politische Realität? Auf welche Weise wurden die Gedanken einer intellektuellen Elite zur Erfahrung einer ganzen Nation? Oder - falls die frühen Nationalisten nur Gefühle artikulierten, die weniger deutlich von einem breiten Spektrum der Bevölkerung empfunden wurden - welche neuen Erfahrungen wurden dann durch die nationalistischen Ideen vermittelt? Schließlich: Wie läßt sich erklären, daß zwischen 1800 und 1848 der Nationalismus als politische Bewegung zunehmend Anklang fand?»
Berdahl befaßt sich mit der Zeit des deutschen Vormärz. Aber sein Unbehagen am bisherigen Forschungsstand läßt sich verallgemeinern. Wenn wir die Entstehung und die Wandlungen des deutschen Nationalismus erklären wollen, müssen wir nach seinen gesellschaftlichen Voraussetzungen fragen. Welche Funktionen hatte der deutsche Nationalismus, wer waren seine Trägerschichten? Haben Funktionen und Trägerschichten sich im Lauf der Zeit geändert - und wenn ja, warum?
Ich möchte zu zeigen versuchen, daß der sozialgeschichtliche Ansatz eine bessere Periodisierung des deutschen Nationalismus erlaubt als der geistesgeschichtliche. Überdies scheint mir, daß die sozialgeschichtliche Perspektive den deutschen Nationalismus erst international vergleichbar macht - daß sie das Typische und das national Spezifische des Phänomens «Nationalismus» schärfer zu unterscheiden hilft. Schließlich eröffnet diese Methode die Chance, Erklärungsversuche der systematischen Sozialwissenschaften aufzunehmen, kritisch zu überprüfen und einen Beitrag zu einer historischen Theorie des Nationalismus zu leisten.
Ich werde mich vor allem drei Problemen widmen. Erstens werde ich auf die Phase eingehen, in der der deutsche Nationalismus ein Ausdruck der bürgerlichen Emanzipation oder, anders gewendet, eine Modernisierungsideologie des aufstrebenden Bürgertums war. Zweitens will ich die Gründe und Folgen jenes Funktionswandels des Nationalismus erörtern, der aus einer «linken» eine «rechte» Ideologie machte. Drittens möchte ich mich der Frage zuwenden, warum es nach dem Zweiten Weltkrieg in Deutschland, und nicht nur dort, einen Funktionsverlust des Nationalismus gegeben hat.
Meine erste These lautet: Vom Vormärz bis in die Reichsgründungszeit war die nationale Parole in erster Linie ein Ausdruck bürgerlicher Emanzipationsbestrebungen. Die Forderung nach nationaler Einheit richtete sich gegen den landsässigen Adel als den Träger der partikularstaatlichen Zersplitterung. Das Bürgertum dagegen begriff sich selbst als die gesellschaftliche Verkörperung der deutschen Einheit, wobei die Bildungsschicht stärker auf die vor allem von ihr hervorgebrachte deutsche Nationalkultur hinwies, während die industriellen und kommerziellen Unternehmer die politische Einigung Deutschlands primär aus den Notwendigkeiten eines nationalen Marktes ableiteten. Das zweite Argument trat im Zuge der Industrialisierung immer mehr in den Vordergrund. Durch die Schaffung eines deutschen Nationalstaates sollte nicht zuletzt die wirtschaftliche Rückständigkeit gegenüber dem industriell fortgeschrittenen England abgebaut werden. Insofern war der frühe Nationalismus eine Modernisierungsideologie. Die ökonomische Herausforderung durch England hat den deutschen Nationalismus mindestens ebenso nachhaltig geprägt wie die politische Herausforderung durch das napoleonische Frankreich.
Wie stark das Bewußtsein, England wirtschaftlich unterlegen zu sein, Nationalismus hervorbrachte, läßt sich an den bekannten wirtschaftspolitischen Forderungen Friedrich Lists - seinem Programm eines nationalen Erziehungszollsystems - und den von ihm beeinflußten Schutzzöllnern zeigen. Aber auch die erstarkende freihändlerische Bewegung hielt einen deutschen Nationalstaat für eine conditio sine qua non des wirtschaftlichen Fortschritts. In dem Maß, wie sich nach 1848 die freihändlerischen Kräfte durchsetzten, verloren die «großdeutschen» zugunsten der «kleindeutschen» Nationalisten an Boden: Das Programm des wirtschaftlichen Liberalismus ließ sich nur mit Preußen und gegen das Habsburgerreich verwirklichen.
Der vormärzliche deutsche Nationalismus war ebensowenig pazifistisch wie irgendein anderer Nationalismus. List war nicht der einzige, der umfangreichen Annexionen das Wort redete. Der romantische Traum vom Völkerfrühling, von der Internationale der Nationalisten, wurde durch den tatsächlichen Verlauf der Revolutionen von 1848/49 zerstört: Nationale Gegensätze waren ein wesentlicher Grund ihres Scheiterns. Anders als die Revolutionäre von 1789 hielten es die wenigsten Liberalen noch für notwendig, nach der humanitären Legitimation der eigenen nationalen Forderungen und damit nach ihrer Vereinbarkeit mit den Interessen anderer zu fragen. Wo eine solche Legitimation versucht wurde, wie von Marx und Engels, diente sie vor allem dazu, zwischen «revolutionären» und «konterrevolutionären» Völkern - und das hieß: zwischen berechtigten und unberechtigten nationalen Bewegungen - zu unterscheiden. Zur ersten Kategorie gehörten die Polen, zur zweiten die Tschechen, Slowaken und Südslawen.
Die Frage, was denn «des Deutschen Vaterland» sei, beantworteten die Liberalen von 1848 überwiegend taktisch. Wo die Deutschen Angehörige einer fremden Nationalität assimiliert hatten (wie im Fall der Masuren), beriefen sich die Abgeordneten der Paulskirche auf die subjektive Entscheidung der Betroffenen. Waren Deutsche (wie in Elsaß und Lothringen) von einer anderen Nation assimiliert worden, galt der «objektive» Grundsatz «soweit die deutsche Zunge klingt». Im Zweifelsfall mußte behauptet werden, was schon im Besitz eines deutschen Staates war. Der Großteil der Provinz Posen sollte ungeachtet der Sprache und des Willens der Bewohner nach dem Beschluß der deutschen Nationalversammlung zu Deutschland gehören. Eines aber verstand sich für die bürgerlichen Liberalen aller Schattierungen von selbst: «National» und «fortschrittlich» waren zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Noch um 1860 sah sich das liberale Bürgertum so sehr als den eigentlichen Träger der nationalen Einheit, daß der Demokrat Hermann Schulze-Delitzsch 1861 der neugegründeten Partei der «entschiedenen Liberalen», der Deutschen Fortschrittspartei, am liebsten den Namen «Nationale Partei» gegeben hätte, «weil dies nicht bloß die deutsche Politik, sondern die ganzen übrigen Tendenzen der Partei gegenüber der dynastischen» einschließe. Zur gleichen Zeit bezeichnete die National-Zeitung, das Organ des rechten Flügels der Fortschrittspartei, die territoriale Zersplitterung Deutschlands als eine Folge der «Grundlagen des feudalen Staatswesens», während «im deutschen Bürgertum . die Spaltung der Nation überwunden» sei. «Wir sprechen hier», so fügte das liberale Blatt hinzu, «vom Bürgertum, und nicht vom Volk überhaupt, um die soziale Seite des Kampfes, welche die politische Doktrin oft zu sehr aus den Augen verloren hat, schärfer zu betonen.»
Die Revolution von 1848/49 und der preußische Verfassungskonflikt der Jahre 1862 bis 1866 führten die Liberalen im engeren Sinn, die politischen Vertreter des besitzenden und gebildeten Bürgertums, zu dem Schluß, daß sie weder die «Freiheit», d.h. einen stärkeren bürgerlichen Einfluß auf den Staat, noch die «Einheit» im frontalen Kampf gegen die alten Gewalten erzwingen konnten. Für eine revolutionäre Kraftprobe schien es den Liberalen einerseits zu früh, weil die Bevölkerung des platten Landes in Ostelbien größtenteils noch den Junkern folgte. Für eine bürgerliche Revolution war es aber andererseits in liberaler Sicht auch schon wieder zu spät, weil das Proletariat in zunehmendem Maß nicht mehr hinter der Politik der...
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