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1 Lebensgefährliche Luft
Frühjahr 1481
Sonntag, sieben Uhr morgens. Die Sonne konnte jeden Moment aufgehen. Alle standen, der Priester und sein Weihrauch schwenkendes Gefolge schritten schon zum Altar der Pfarrgemeinde, die Klänge der Messe füllten den Raum. Als Erster wurde der Priester, dann der Altar und schließlich die Gottesdienstbesucher mit der sonntäglichen Menge an geweihtem Wasser besprengt, während die Sänger den Wechselgesang Asperges me (»Besprenge mich«) vortrugen. So konnten alle Anwesenden spirituell gereinigt mit der Messfeier beginnen und das allerheiligste Sakrament (die erhobene Hostie und den erhobenen Kelch) schauen.
Manche Gemeindemitglieder hatten ihre sonntägliche Pflicht bereits in der Frühmesse erfüllt, nachdem sie um halb sechs auf dem Weg zur Kathedrale der klirrenden Kälte getrotzt hatten. Doch die meisten besuchten die Hauptmesse, die bis etwa acht Uhr dauerte. An einem normalen Sonntag wäre die Kathedrale gedrängt voll gewesen, und die Gottesdienstbesucher wären noch etwas länger geblieben, um die erste Predigt zu hören, die gleich nach der Messe begann. Die Frömmsten wären anschließend der kleinen Prozession von Geistlichen gefolgt, die um neun Uhr auf einem festgelegten Weg durch das Kirchengebäude zog. Danach konnte man das Hochamt der Geistlichen hören, das für die Gottesdienstbesucher nicht sichtbar im abgetrennten Hochchor zelebriert wurde, oder an den sonntäglichen Messfeiern der Kaplaneien, Gilden und Bruderschaften an einem der vielen Nebenaltäre teilnehmen. Außerdem wurde nachmittags eine zweite und sogar eine dritte Predigt gehalten, sodass wirklich alle Gemeindemitglieder in den Genuss spiritueller Weisheiten kommen konnten. An liturgischen Feiern, Predigten und gemeinschaftlichen Ritualen herrschte an den Sonntagen gewiss kein Mangel.
Doch dies war kein normaler Sonntag. 1481 war in Antwerpen die Pest ausgebrochen.
Wie die Heringe im Fass
Die Niederlande waren bis weit über ihre Grenzen hinaus für ihre gut besuchten Kirchen bekannt. Fremde zeigten sich außerordentlich beeindruckt von der Menge der Kirchgänger, die dem Land den Ruf besonderer Frömmigkeit eintrugen, nicht nur im 15. Jahrhundert, sondern auch später noch. So notierte der süditalienische Geistliche Antonio de Beatis, der im Gefolge des kulturbeflissenen Kardinals Luigi d'Aragona in den Jahren 1517/18 Europa bereiste, in seinem Reisetagebuch, die Kirchen in den Niederlanden seien jeden Tag aufs Neue voll. Ein halbes Jahrhundert später berichtete ein venezianischer Gesandter, dass in den Kirchen an fast jedem Sonntag Almosen verteilt und Prozessionen abgehalten wurden. Und was die Teilnahme am Gottesdienst anging, sah man seiner Ansicht nach nirgendwo mehr Frömmigkeit als hier.
Doch zu Zeiten der Pest war die Situation eine völlig andere. Wie in fast allen europäischen Städten kam es auch in Antwerpen regelmäßig zu Pestausbrüchen. Die schwersten waren allen noch frisch im Gedächtnis, besonders die Jahre 1436-1439 und 1456-1459 waren katastrophal gewesen. 1481 brach erneut eine solch unheilvolle Zeit an, und diese Pestepidemie sollte bis 1485 wüten. In solchen Zeiten der Todesangst und des Chaos griffen die Einwohner der Stadt zu allen nur erdenklichen medizinischen und religiösen Hilfsmitteln. Zum Beispiel behauptet die Chronijc der Stadt Antwerpen, eine aus dem 17. Jahrhundert stammende Kompilation älterer Chroniken, dass man im Jahr 1487 den Schwarzen Tod vertrieben habe, indem man zum Fest des allerheiligsten Namens Jesu gedruckte Andachtsbildchen an sämtliche Haustüren hängte. Es handelte sich um Darstellungen mit dem IHS-Monogramm, das auf die griechische Abkürzung des Namens Jesu zurückgeht. (Abb. 8) In der Regel wurden kleine papierene Andachtsbildchen dieser Art als geweihte Schluckbildchen von kranken Gläubigen heruntergeschluckt, um sich gegen Unheil zu schützen. Aber auch an die Eingangstür des Hauses geheftet wurde ihnen nachgesagt, die Pest fernhalten zu können.
Außerdem war die Teilnahme an Prozessionen ein bewährtes Mittel gegen einen plötzlichen Tod und anderes Unglück. Zahllose Einwohner Antwerpens zogen in unsicheren, angstvollen Zeiten in der Hoffnung auf spirituellen Schutz für Leib und Leben durch die Straßen. Ob eine Prozession ihren Zweck erfüllen würde, maß man teilweise sogar daran, wie oft sie veranstaltet wurde. Als im Jahr 1524 die Lebensmittelpreise immer weiter stiegen und Epidemien das Land heimsuchten, erließ Margarete von Österreich, Tochter Maximilians I. und Statthalterin der habsburgischen Niederlande, die Anordnung, dass die Stadtbewohner zwei Monate lang mindestens einmal pro Woche an einer Prozession teilzunehmen hatten, »um den Zorn und Ingrimm unseres Schöpfers und Erzeugers Jesus gegen uns zu besänftigen, und für das Wohlergehen und Glück der kaiserlichen Majestät und seiner Verbündeten«.
So verwundert es kaum, dass Altäre, die den bekanntesten Pestheiligen wie Rochus und Sebastian geweiht wurden, wie Pilze aus dem Boden schossen. Diese Heiligen erfüllten die spezielle Aufgabe von Beschützern gegen den Schwarzen Tod, weil bestimmte Ereignisse ihres Lebens mit der Krankheit in Verbindung gebracht wurden.
Der Glaube an religiöse Abwehrmittel gegen Krankheit und gegen die Pest im Besonderen war also stark und fest verwurzelt. Dennoch: Während eines Pestausbruchs am Sonntag im Seitenschiff der Kathedrale aneinandergedrängt wie die Heringe im Fass der Pfarrmesse beizuwohnen, war schon reichlich viel verlangt.
Gewiss, der für die Messfeiern der Pfarrgemeinde bestimmte Teil der Liebfrauenkirche war unvergleichlich viel größer als früher, als es noch die kleine Seitenkapelle beim Hochchor gewesen war. Und 1477 waren die Kirchen Sankt Georg, Sankt Walburga und Sankt Jakob zu Pfarrkirchen erhoben worden, wodurch sich die Masse der Antwerpener Gottesdienstbesucher wenigstens etwas verteilte. Außerdem hatten sich die Stadtbewohner das Geld für ihren neuen liturgischen Raum in der Kathedrale buchstäblich vom Mund abgespart: In den Jahren 1454-1460 hatte die Stadt mit einer Sondersteuer auf Weizen die gesamte Einwohnerschaft zur Kasse gebeten. Deshalb empfanden viele Gemeindemitglieder, als sie 1469 zum ersten Mal am neuen Ort einer Sonntagsmesse beiwohnen konnten, die Kirche als »ihre« Kathedrale. Eine Kathedrale, die noch dazu immer schöner wurde. 1481 wurde der große neue Altar der Pfarrgemeinde geweiht, und fünf Jahre später sollte ein prachtvolles steinernes Retabel das Ganze vervollständigen.
Doch selbst in dem großen neuen Raum herrschte an normalen Sonntagen Geschiebe und Gedränge. Grob geschätzt war in der Westhälfte der Kathedrale, also dem Langhaus inklusive sämtlicher Seitenschiffe, Platz für etwa 12 000 Menschen. Die Anzahl der Gläubigen, die zusammen der Pfarrmesse beiwohnen konnten, dürfte also über ein paar Tausend nicht hinausgegangen sein. Zu dieser Zeit wohnten jedoch bereits zehnmal so viele Menschen innerhalb der Stadtwälle, um die 40 000, und es wurden immer mehr. 1526 kamen schon ungefähr 55 000 Einwohner Antwerpens auf damals vier Pfarrkirchen, und um 1568 lebten allein innerhalb der Grenzen des Liebfrauen-Pfarrbezirks über 30 000 Einwohner. Die anderen Pfarrkirchen waren von ebensolcher Übervölkerung betroffen. Mehr als 20 000 Einwohner entfielen auf die Jakobskirche und jeweils über 10 000 auf Sankt Walburga, Sankt Georg und Sankt Andreas. Dabei sind die ausländischen Händler und Seeleute, die Reisenden und Pilger noch gar nicht mitgerechnet.
Schon rein physisch war es also unmöglich, die gesamte Pfarrgemeinde im selben Moment in ihrer Pfarrkirche zusammenzubringen. Freilich waren da noch die an Zahl zunehmenden Privatmessen der Kaplaneien, Bruderschaften, Gilden und Zünfte, denen die Gläubigen beiwohnen konnten. Von einer gemeinsamen Messfeier aller Gemeindemitglieder vor dem Hauptaltar »ihrer« Kirche konnte folglich keine Rede sein. Schon im 15. Jahrhundert war es vielmehr gang und gäbe, seine sonntägliche Pflicht in einer Kirche eigener Wahl und sogar durch eine Messe eigener Wahl zu erfüllen.
Körpersäfte im Ungleichgewicht
Zurück zum Pestausbruch von 1481. Nicht ohne Grund befürchteten Kirchenbesucher das Schlimmste, wenn sie sich in die bekanntermaßen schlecht belüftete und überfüllte Liebfrauenkirche wagten. Das undurchdringliche Geruchsdickicht bestand aus allerlei Ausdünstungen menschlichen, tierischen und pflanzlichen Ursprungs, die sich miteinander verbanden oder um Aufmerksamkeit wetteiferten. Während des Mittelalters und auch später noch klagten Stadtbewohner unablässig über die fehlende Luftzirkulation in dieser Art von geschlossenen öffentlichen Räumen. So schrieb der Antwerpener Jesuit Papebrochius noch Ende des 17. Jahrhunderts, es sei wünschenswert, »dass man in der Kathedrale hier und dort die Fenster öffnen könnte, um bei gutem Wetter saubere Luft hereinzulassen«. Dabei ging es ihm und anderen Beschwerdeführern nicht nur darum, frischen Wind durch das Gebäude wehen zu lassen: Das körperliche Wohlergehen der Kirchenbesucher stand auf dem Spiel! Man verstand Luft als eine ortsgebundene Mischung aus Rauch, Schwefel sowie wässrigen, flüchtigen, fetten und salzhaltigen Dämpfen, die der Erde entströmte. Und ein Mangel an Luftzirkulation galt allgemein als ebenso gefährlich wie stehendes Wasser.
Nach den damaligen medizinischen Vorstellungen bildete faulendes organisches Material in Luft und Wasser krank machende Dämpfe, sogenannte Miasmen, die für Krankheiten und Epidemien verantwortlich waren, weil sie zu den Hauptverursachern eines Ungleichgewichts der vier...
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