Schweitzer Fachinformationen
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I'm going to paraphrase Thoreau here . Rather than love, than money, than faith, than fame, than fairness . give me truth.
(Jon Krakauer, Into the Wild)
Ich war fünfzehn, als ich das erste Mal meinen Rucksack packte. Einen alten Armeerucksack, ein steifes, dreckiges Ding, das muffig roch. Ein Billigschlafsack von Amazon für 20 Euro. Eine Isomatte, die mehr dem dünnen Sonnenschutz für die Autofrontscheibe ähnelte. Eine Dose Ravioli. Eine klobige Stirnlampe. Ich zog alles an, was ich hatte. Schnallte mir die Langlaufski an die Füße, den Schal eng um den Hals gewickelt. Extreme Kälte. Minus 25 Grad, warnte der Wetterbericht. Bis zu drei Meter hohe Schneewände an den Straßen. Schneesturm im Erzgebirge. Das Zuschlagen der Haustür hallte im Tosen des Windes wider. Dann stapfte ich los.
Meine Eltern trennten sich, als ich gerade eingeschult wurde. Ich zog mit meiner Mutter, ihrem neuen Mann und meiner vier Jahre älteren Schwester in ein winziges Erzgebirgsdorf, umgeben von rauen Wäldern, nahe der tschechischen Grenze. Meine Kindheit war geprägt vom Draußensein und dem Versorgen unserer unzähligen Haustiere - Hasen und Meerschweinchen, Hund und Katzen.
Wir bauten ein großes Haus direkt am Waldrand, einem Palast gleich, das mit der Zeit immer mehr das Gefühl eines sterilen Einrichtungshauses in mir hervorrief. Ich erinnere mich nicht mehr genau, wann das Unbeschwerte, das Leichte verloren ging. Wann etwas schleichend Einzug hielt, was ich zunächst nicht bemerkte und nicht benennen kann, was niemand bemerkte und auch niemand wahrhaben wollte. Denn es war unsichtbar.
Meine Mutter war Lehrerin. Irgendwann begann sie auch am Wochenende zu arbeiten in diesem riesigen Haus, in dem die wenigen Türen, die es gab, aus Glas waren. Ich musste leise sein, durfte keinen Lärm veranstalten, wenn gearbeitet wurde. Freunde hatte ich wenige, denn so abgeschieden, wie wir lebten, war es schwer, mal schnell mit dem Bus wohin zu fahren. Und wenn mich Freunde besuchen wollten, war das ein schwieriges Thema. Immer präsenter wurde in meinem Zuhause eine nahezu klinische Sauberkeit, ein Ordnungszwang. Und Stille. Wenig Leben, wenig Liebe und leere Räume. Bereits in den frühen Morgenstunden röhrte der Staubsauger, Schränke durften nur mit einem Tuch geöffnet werden, um keine Fingerabdrücke zu hinterlassen. Auf dem Herd durfte nicht gekocht werden. Er könnte ja schmutzig werden. Manchmal konnten wir am Wochenende erst dann wohin fahren, wenn das ganze Haus geputzt war. So warteten wir im Auto, bis meine Mutter alles picobello fand. Immer öfter gab es katastrophalen Streit.
Heute weiß ich nicht mehr, warum es zu diesen Ausbrüchen in der Familie kam, zu diesen Dramen daheim. Jedoch weiß ich heute, dass meine Mutter psychische Probleme hatte, die damals niemand ernst nahm. So etwas schien es einfach nicht zu geben. Heute weiß ich auch, wie wichtig emotionale und körperliche Nähe für das gesunde Aufwachsen, das Entwickeln von Selbstbewusstsein, Resilienz und Beziehungsfähigkeit sind. Meine Eltern haben das vermutlich nicht gewusst. Natürlich haben sie mich unterstützt. Durch ihre Taten, auch finanziell. Aber es sind manchmal eben diese nichtmateriellen Dinge, das In-den-Arm-Nehmen, Zuhören, Trösten, das Ich-bin-für-dich-da-Gefühl.
Wo lernen wir für unser späteres Leben? Wo lernen wir Zusammenleben? Das soziale Miteinander? Wer zeigt uns, wie man eine Beziehung führt? Es ist unsere Familie. Idealerweise ein Ort der Geborgenheit, der Sicherheit und der Wärme. Wo man so sein darf, wie man ist. Wo man jederzeit willkommen ist. Wo man Rückhalt und Unterstützung erfährt, eine bedingungslose Annahme und Vertrauen. Vertrauen in sich und die Welt.
Aber jeder Mensch kann nur das geben und vorleben, was er selbst erlernt hat. Jeder Mensch, auch meine Eltern oder ich - wir versuchen immer, das Beste zu geben und alles richtig zu machen. Heute weiß ich, dass es für mich nicht das Richtige war. Dass mir etwas gefehlt hat. Meine Schwester sagte einmal zu mir: "Irgendwie hatte ich und hatten auch Mutti und Vati das Gefühl, dass du einfach nur da warst. Aber niemand wusste, wie es dir geht. Du warst einfach nur da."
Ja. Ich war da. Körperlich anwesend, im Kopf und mit der Seele sehr weit weg. Ich beamte mich davon in Tagträume, weil ich mich zuhause nicht wohl fühlte. So erschuf ich mir eine Fantasiewelt, in der ich wirklich lebte, in der ich "ich" sein konnte. Schrieb Gedichte über schwarze Raben und dunkle Treppen. Über die Einsamkeit. Über den Tod. Meinen ersten Roman beendete ich mit dreizehn Jahren. Er hieß Traumfänger. Und erzählte von der Reise eines jungen Mädchens, das seine Träume verwirklichte, trotz aller Hindernisse und Schmerzen.
Wenn ich an meine Kindheit denke, ploppen Situationen in meinem Kopf auf und ich spüre die Gefühle von damals in meiner Brust. Wie ich mir die Faust in den Mund presste, um mein Schluchzen zu unterdrücken. Die Zähne fest in meine Haut drückte, bis es schmerzte. Wie ich mir allein die Seele aus dem Leib heulte, mich klein und wertlos fühlte, nicht geliebt und nicht gut genug.
Im Gymnasium war ich Klassenbeste. Genau wie meine Schwester. Sie brachte immer die besten Noten nach Hause und lernte trotzdem wie besessen, um noch besser zu werden. Warum, frage ich mich heute. War es der Wunsch nach Anerkennung? Der Wunsch nach Wertschätzung? Bald kam ein weiterer Wunsch hinzu, der dem meiner Mutter sehr ähnelte: der Wunsch nach totaler Kontrolle über sich selbst und den eigenen Körper. Heute weiß ich, dass dies ein Hilfeschrei war.
Wie meine Mutter trieb auch meine Schwester exzessiv Sport. Beide joggten sie, getrennt voneinander, zu nachtschlafender Zeit jeden Tag mehrere Stunden durch den Wald. Lebensmittel nahmen sie nur abends zu sich. Bis meine Schwester irgendwann mehr oder weniger ganz aufhörte zu essen und immer dünner wurde. Ich sah es, meine Eltern sahen es, doch niemand wusste damit umzugehen. Immer öfter eskalierten Situationen. Frieden und Harmonie gab es kaum, eher nur Waffenstillstände.
Es gab zwei Lehrer in der Schule, denen ich mich anvertraute. Die mit mir redeten und mir einen Hauch der Zuneigung gaben, die ich mir so sehr wünschte. Mein Vertrauenslehrer bot mir an, zu seiner Familie zu ziehen. Doch ich lehnte ab. Zu groß war die Angst, dadurch alles nur noch schlimmer zu machen. Denn woran sollte es denn liegen, dass in unserer Familie so viel schieflief, wenn nicht an mir? Irgendetwas konnte mit mir nicht stimmen, dass mich meine Eltern nicht so annehmen konnten, wie ich war. Echte Umarmungen waren mir fremd. Ja, ich umarmte Freunde, ich umarmte meinen Vater, wenn ich ihn besuchte übers Wochenende. Aber nur kurz. Kurz und mit Distanz zu allem und jedem. Und am meisten zu mir selbst.
Natürlich gab es auch Tage, an denen meine Lebensfreude durchbrach, an denen meine frühere kindliche Aufgewecktheit und der wilde Rabauke in mir zum Vorschein kamen. Doch dieser konnte nicht lange überleben. Zu ernst, zu schwer, zu unsicher fühlten sich diese Jahre für mich an.
Meine Schwester zog zum Studium an die Ostsee, gefühlt so weit weg, wie es nur ging. Es gab kaum noch Kontakt zu den Eltern. Bis sie mit 28 Kilogramm nur noch Haut und Knochen war. Ich bat darum, ihr zu helfen. Doch niemand wollte den Ernst der Lage wirklich wahrhaben. Bis es zum ersten Suizidversuch kam, der glücklicherweise scheiterte. Der Kontakt zu ihr war auch für mich schwierig. Es gab Zeiten intensiven Kontakts. Ich nannte sie die hellen Tage. Und Zeiten ohne Kontakt, ein langwieriges Ignorieren oder kurze, heftige Wutausbrüche. Die dunklen Tage. Mittlerweile ist meine Schwester eine fürsorgliche Mutter für ihre Kinder und mir eine gute Freundin geworden. Doch der Weg dahin war nicht der leichteste. Ich schlug damals einen anderen Weg ein, um mit meinen Problemen umzugehen, um irgendwie zurechtzukommen. Ich war taub geworden. War nicht mehr wirklich da in dieser Welt. Konnte diese Gefühle, den Schmerz und die Verzweiflung, nicht begreifen, nicht in Worte fassen, verstand nicht, was mich zerriss, was mit mir los war. Warum ich so anders war als alle anderen. Ich fühlte mich wie eine Außerirdische, die von fern auf das Leben blickt. Als ich mir das erste Mal in die Hand biss, um meine Tränen, das Beben in meinem Körper zu unterbinden, zu kontrollieren, merkte ich, dass ich noch da war. Im Schmerz spürte ich, dass ich noch lebte. So fügte ich mir manchmal, in den Stunden der tiefen Verzweiflung, selbst Schmerzen zu, verwundete mich, spürbar, aber harmlos, so dass es niemand sah. Drückte Fingernägel oder Messerklingen oberflächlich in meine Haut, um den Abdruck zu sehen, zu fühlen. Ich erzählte niemandem davon. Doch schon bald merkte ich, dass ich etwas ändern musste, um dieses selbstzerstörerische Verhalten zu beenden, um mich am eigenen Schopf aus dem Sumpf zu ziehen.
Mit dreizehn Jahren fing ich an zu boxen. An einem Boxsack, den ich mir draußen zwischen den Bäumen aufhängte. Boxen...
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