1 - Inhaltsverzeichnis, Geleitwort und Prolog [Seite 7]
2 - Einleitung [Seite 17]
3 - Aufbau des Buches [Seite 20]
4 - 1 Begriffserklärungen [Seite 21]
4.1 - 1.1 Demenz [Seite 21]
4.2 - 1.2 Störendes Verhalten - herausforderndes Verhalten [Seite 23]
4.3 - 1.3 Schreien und Rufen [Seite 25]
5 - 2 Am Anfang war der Schrei? [Seite 27]
5.1 - 2.1 Die Bedeutungsebenen von Schreien und Rufen [Seite 29]
5.2 - 2.2 Der herausfordernde Schrei oder Ruf [Seite 30]
5.3 - 2.3 Warum schreien oder rufen Menschen mit Demenz? [Seite 32]
5.3.1 - 2.3.1 Erklärungsansätze in der Literatur [Seite 33]
5.3.2 - 2.3.2 Schrei- und Rufgru?nde aus der Praxis [Seite 36]
5.4 - 2.4 Prävalenz und Inzidenz [Seite 40]
5.5 - 2.5 Differenzierungen der Schrei- und Rufäußerungen in der Literatur [Seite 41]
5.5.1 - 2.5.1 Schrei- und Rufdauer [Seite 41]
5.5.2 - 2.5.2 Schreimuster, Lautstärke, Schreiintensität [Seite 42]
5.6 - 2.6 Differenzierungen aus Sicht der Pflegenden [Seite 42]
5.6.1 - 2.6.1 Grundloses Schreien gibt es nicht [Seite 42]
5.6.2 - 2.6.2 Signale erkennen können [Seite 43]
5.6.3 - 2.6.3 Schrei- und Rufverhalten [Seite 45]
6 - 3 Einfluss nehmende Faktoren [Seite 49]
6.1 - 3.1 Extrinsische Einflussfaktoren [Seite 49]
6.1.1 - 3.1.1 Institutionelle Rahmenbedingungen [Seite 50]
6.1.2 - 3.1.2 «Raumnutzung» [Seite 50]
6.1.3 - 3.1.3 Aspekt des «Zeitmangels» und der Personalbesetzung [Seite 58]
6.1.4 - 3.1.4 Sich trotzdem Zeit nehmen [Seite 59]
6.1.5 - 3.1.5 Die Mitbewohner [Seite 64]
6.1.6 - 3.1.6 Reaktionen der Pflegenden im Gruppenraum [Seite 66]
6.1.7 - 3.1.7 «Schreien steckt an» [Seite 68]
6.2 - 3.2 Intrinsische Einflussfaktoren [Seite 73]
6.2.1 - 3.2.1 Hohe Motivation - Engagement der Pflegenden [Seite 74]
6.2.2 - 3.2.2 Fehlende Flexibilität der Mitarbeiter [Seite 75]
7 - 4 Interventionsebene und Strategien der Pflegenden [Seite 79]
7.1 - 4.1 Interventionsziele und Motiv [Seite 82]
7.1.1 - 4.1.1 Pflegeziele Ruhe und Wohlbefinden [Seite 83]
7.2 - 4.2 Interventionsgestaltung und Strategien der Pflegenden [Seite 85]
7.2.1 - 4.2.1 Suche nach dem Schrei- oder Rufgrund [Seite 86]
7.2.2 - 4.2.2 Klima des detektivischen Wissenwollens [Seite 89]
7.2.3 - 4.2.3 Suche nach einem Schreimuster [Seite 91]
7.2.4 - 4.2.4 Versuch und Irrtum [Seite 92]
7.3 - 4.3 Emotionsfokussierte Interventionen [Seite 98]
7.3.1 - 4.3.1 Interventionsbeispiel: reden und nachfragen [Seite 98]
7.3.2 - 4.3.2 Interventionsbeispiel: sich einlassen (können, wollen) [Seite 99]
7.3.3 - 4.3.3 Interventionsbeispiel: Gemeinschaft erleben lassen [Seite 102]
7.3.4 - 4.3.4 Interventionsbeispiel: Alltag (er)leben lassen [Seite 105]
7.3.5 - 4.3.5 Interventionsbeispiel: ablenken und umlenken [Seite 112]
7.3.6 - 4.3.6 Interventionsbeispiel: Anwalt sein [Seite 115]
7.3.7 - 4.3.7 Interventionsbeispiel: Sitzordnung beeinflussen und/oder bestimmen [Seite 118]
7.3.8 - 4.3.8 Interventionsbeispiel: das Wohnsetting anpassen [Seite 120]
7.4 - 4.4 Körperlich-therapeutische Interventionsansätze [Seite 122]
7.4.1 - 4.4.1 Interventionsbeispiel: «dru?cken» und «in den Arm nehmen» [Seite 122]
7.4.2 - 4.4.2 Interventionsbeispiel: den Körper spu?ren lassen - «Basale Stimulation» [Seite 126]
7.4.3 - 4.4.3 Interventionsbeispiel: Anwesenheit «geben» [Seite 129]
7.4.4 - 4.4.4 Interventionsbeispiel: Bewegung - «spazieren gehen» [Seite 130]
7.4.5 - 4.4.5 Interventionsbeispiel: Musik und Musiktherapie [Seite 131]
7.5 - 4.5 Medizinisch-medikamentös orientierte Interventionsansätze [Seite 133]
7.5.1 - 4.5.1 Bedarfsmedikation [Seite 136]
7.5.2 - 4.5.2 «Stummes» Schreien erleben [Seite 137]
7.5.3 - 4.5.3 Krankenhauseinweisung [Seite 140]
7.6 - 4.6 Abwehrorientierte und «restriktive» Interventionsansätze [Seite 142]
7.6.1 - 4.6.1 Interventionsbeispiel: «schreien oder rufen lassen» [Seite 144]
7.6.2 - 4.6.2 Interventionsbeispiel: zuru?ckschreien [Seite 147]
7.6.3 - 4.6.3 Interventionsbeispiel: «ins Zimmer bringen» [Seite 152]
7.6.4 - 4.6.4 Fazit [Seite 157]
8 - 5 Auswirkungen und Konsequenzen [Seite 161]
8.1 - 5.1 Hilflosigkeit spu?ren [Seite 162]
8.2 - 5.2 Aggressivität spu?ren [Seite 166]
8.3 - 5.3 Unzufriedenheit spu?ren [Seite 167]
8.4 - 5.4 Mitleid spu?ren [Seite 169]
8.5 - 5.5 «Akzeptieren können» versus «ertragen und aushalten mu?ssen» [Seite 170]
8.6 - 5.6 Einschränkungen bei der Interventionsgestaltung erleben [Seite 173]
8.6.1 - 5.6.1 Tunnelblick haben? [Seite 174]
8.6.2 - 5.6.2 Gewaltfantasien haben/«u?ber eigene Gedanken erschrecken» [Seite 177]
8.6.3 - 5.6.3 Schutzschild aufbauen [Seite 182]
8.6.4 - 5.6.4 Die Beziehung ändert sich (nicht) [Seite 185]
9 - 6 Bewältigungsstrategien [Seite 191]
9.1 - 6.1 «Auszeit nehmen» - Arbeit an Kollegen abgeben [Seite 191]
9.2 - 6.2 Insel haben [Seite 195]
9.3 - 6.3 Fachlichkeit/Kompetenz der Pflegenden [Seite 196]
9.4 - 6.4 Berufliche Eignung [Seite 201]
9.5 - 6.5 Fazit [Seite 202]
10 - 7 «Gegenspieler» und «Kompensatoren» [Seite 203]
10.1 - 7.1 Reduzierter Stellenanteil [Seite 203]
10.2 - 7.2 Energiequellen im Arbeitsumfeld haben [Seite 204]
10.2.1 - 7.2.1 Belastungsmomente ansprechen und reflektieren [Seite 204]
10.2.2 - 7.2.2 Erfahrung der Kollegen nutzen und reflektieren [Seite 204]
10.3 - 7.3 Energiequellen durch seine Arbeitshaltung haben [Seite 206]
10.3.1 - 7.3.1 Arbeit macht Spaß [Seite 207]
10.3.2 - 7.3.2 Ausgeglichenheit spu?ren [Seite 208]
10.3.3 - 7.3.3 Schreien als kreative Herausforderung sehen [Seite 210]
10.4 - 7.4 Wu?nsche haben [Seite 211]
10.5 - 7.5 Fazit [Seite 214]
11 - 8 Erleben und Gestalten der Unerträglichkeit [Seite 215]
11.1 - 8.1 Genese der Wahrnehmung von Unerträglichkeit [Seite 216]
11.1.1 - 8.1.1 An Grenzen stoßen [Seite 218]
11.1.2 - 8.1.2 «Schreien macht mir nichts» [Seite 223]
11.2 - 8.2 Zerrissenheit spu?ren [Seite 227]
11.3 - 8.3 Eine Erwartung entwickeln/haben [Seite 228]
11.4 - 8.4 Aspekt der Unausweichlichkeit [Seite 232]
11.5 - 8.5 «Irgendwann ist es einfach unerträglich» [Seite 234]
11.6 - 8.6 Kumulation versus Energiequellen aktivieren (können) [Seite 238]
11.7 - 8.7 Anmerkungen zum Phasenverlauf bis zur Unerträglichkeit [Seite 238]
11.8 - 8.8 Denkanstöße fu?r die Pflegepraxis [Seite 240]
11.9 - 8.9 Beziehungsfeld zwischen Auslöser und Bewältigungserleben [Seite 241]
11.10 - 8.10 Bewältigungserleben [Seite 245]
11.11 - 8.11 Fazit [Seite 247]
12 - 9 Zusammenfassende Gedanken [Seite 249]
12.1 - 9.1 Ergebnisse zum herausfordernden Schrei oder Ruf [Seite 249]
12.2 - 9.2 Ergebnisse zu Interventionsgestaltung und Strategien der Pflegenden [Seite 252]
12.3 - 9.3 Fazit [Seite 256]
13 - 10 Empfehlungen fu?r die Pflegepraxis [Seite 259]
13.1 - 10.1 Empfehlung 1: in der Pflegeausbildung thematisieren [Seite 259]
13.2 - 10.2 Empfehlung 2: in Fort- und Weiterbildungseinheiten thematisieren [Seite 260]
13.3 - 10.3 Empfehlung 3: im Team austauschen [Seite 260]
13.4 - 10.4 Empfehlung 4: (pflegewissenschaftliche) Fachbegleitung [Seite 262]
13.5 - 10.5 Empfehlung 5: keine unerfu?llbaren Wu?nsche haben [Seite 262]
13.6 - 10.6 Empfehlung 6: Segregation kontra Inklusion? [Seite 263]
13.7 - 10.7 Empfehlung 7: Paternalismus vermeiden [Seite 264]
13.8 - 10.8 Empfehlung 8: Recht auf Schreien oder Rufen einräumen! [Seite 264]
13.9 - 10.9 Empfehlung 9: Schreien oder Rufen nicht als aggressives Verhalten werten [Seite 265]
13.10 - 10.10 Empfehlung 10: Pflegende brauchen eine besondere Unterstu?tzung! [Seite 265]
13.11 - 10.11 Empfehlung 11: Ruhe nicht «erkaufen» oder «erzwingen» [Seite 266]
14 - 11 Schlusswort [Seite 267]
15 - 12 Literaturverzeichnis [Seite 271]
16 - 13 Schreien und Rufen als herausforderndes Verhalten bei Menschen mit Demenz [Seite 277]
16.1 - 13.1 Definitionen und Differenzierung [Seite 277]
16.2 - 13.2 Herausforderndes Verhalten im neuen Pflegebedu?rftigkeitsbegriff und der Pflegebegutachtung [Seite 279]
16.3 - 13.3 Vorkommen herausfordernden Verhaltens in der Praxis [Seite 280]
16.4 - 13.4 Ansätze zum Verständnis herausfordernden Verhaltens [Seite 282]
16.4.1 - 13.4.1 Das Adaptation-Coping-Modell [Seite 282]
16.4.2 - 13.4.2 Das Modell der unbefriedigten Bedu?rfnisse [Seite 282]
16.4.3 - 13.4.3 Das Modell der niedrigeren Stress-Schwelle [Seite 284]
16.4.4 - 13.4.4 Das Modell der Ursachen störender Vokalisationen (disruptive vocalizations) [Seite 290]
16.5 - 13.5 Herausforderndes Verhalten im Pflegeprozess [Seite 291]
16.5.1 - 13.5.1 Pflegeassessment herausfordernden Verhaltens [Seite 293]
16.5.2 - 13.5.2 Pflegediagnosen und herausforderndes Verhalten [Seite 297]
16.5.3 - 13.5.3 Pflegeinterventionen bei herausforderndem Verhalten [Seite 305]
16.5.4 - 13.5.4 Pflegeinterventionen zum Management u?bermäßiger Vokalisationen [Seite 312]
16.6 - 13.6 Ausblick [Seite 320]
16.7 - Literatur [Seite 321]
17 - Literaturverzeichnisse (dt.) [Seite 324]
17.1 - Das Dementia-Care-Programm des Verlages Hogrefe [Seite 324]
17.2 - Herausforderndes Verhalten - bei Menschen mit Demenz [Seite 329]
18 - Autorenverzeichnis, Nachruf auf Prof. Dr. Wilfried Schnepp, Sachwortverzeichnis [Seite 331]
2 Am Anfang war der Schrei?
An dieser Stelle wird die Darstellung des Ursprungs der Sprache in Verbindung mit der Bedeutung des Schreis kurz skizziert.
Trabant (2008) schreibt, dass im 18. Jahrhundert der Schrei an den Anfang der menschlichen Sprache gestellt wurde, wonach Condillac die Sprache aus dem «cri des passions», dem Schrei der Leidenschaft entstehen ließ. Herder übersetzte diesen «cri des passions» als «Geschrei der Empfindungen». Demnach empfand der «Urmensch» ein Bedürfnis wie Hunger oder Durst, das er nicht unmittelbar und alleine befriedigen konnte, so dass er, begleitet durch eine Bewegung seines Körpers, einen Schrei ausstieß. Dieser Schrei wurde von den anderen Menschen wahrgenommen und in einem Akt des Mit-Leids kamen sie ihm zu Hilfe. Trabant (2008) bemerkt weiter, dass Rousseau diese Entstehung kritisierte, weil er an dem angeborenen Instinkt des Mit-Leids zweifelte. In seinem 1. Discours stellt Rousseau den Schrei ebenfalls als Ursprung der Sprache des Menschen dar:
Le premier langage de l'homme [...] est le cri de la Nature. [...] Quand les idées des hommes commencérent à s'étendre et à se multiplier, et qu'il s' établit entre eux une communication plus étroite, ils [...] exprimoient [...] les objets visibles et mobiles par des gestes, et ceux qui frappent l'ouye, par des sons imitatifs [...]; on s'avisa enfin de lui [au geste] substituer les articulations de la voix, qui, sans avoir le même rapport avec certaines idées, sont plus propres à les représenter toutes, comme signes institués; substitution qui ne put se faire que d'un commun consentement (I, 122; Herv. P.G.)
Die erste Sprache des Menschen ist der Schrei der Natur. Als die Vorstellungen der Menschen sich zu erweitern und zu vermehren begannen und eine engere Kommunikation unter ihnen aufkam, drückten sie die sichtbaren und beweglichen Gegenstände durch Gebärden und diejenigen, die das Gehör wahrnimmt, durch nachahmende Laute aus: schließlich ließ man es sich einfallen, die Gebärde durch die Artikulation der Stimme zu ersetzen, die, ohne die gleiche Beziehung zu bestimmten Vorstellungen zu haben, geeigneter sind, sie als eingeführte Zeichen alle zu repräsentieren: eine Ersetzung, die nur mit allgemeiner Zustimmung geschehen konnte. (Übersetzung nach Geyer (2005)
Trabant (2008: 50) bemerkt dazu, dass im 18. Jahrhundert Rousseau unter Sprache «im Wesentlichen ein kommunikatives soziales Verhalten, also etwas Gesellschaftliches» verstand, während Herder vor allem «Sprache als Erzeugung von Gedanken begriff». Weiter äußert Trabant in diesem Zusammenhang, dass im 18. Jahrhundert die Suche nach dem Sprachursprung nicht unter dem Gesetz der Biologie stand, sondern unter dem der Philosophie. Er bemerkt weiter (ebd.: 30): «Im 18. Jahrhundert geht, wie immer sich auch die Geschichten über den Ursprung der Sprache im Detail unterscheiden, Sprache aus dem Schrei hervor: Stille Schrei Interjektion artikulierte Sprache. Die Sprache ist ein Zähmen des Schreis durch Artikulation.» Trabant (2008) weist zudem darauf hin, dass damals die Philosophie die Religion infrage stellte und die philosophische Emanzipation besonders das Verhältnis zu Gott in den Vordergrund stellte und er betont, dass es auch heute um dieselbe Frage geht. «Nur daß Gott jetzt nicht mehr Gott, sondern heißt.» (Trabant, 2008: 51).
Schnell (2005: 37) schlägt bei dem Thema Sprache den Bogen zur Pflege, wenn er die These formuliert: «Dass das Zur-Sprache-Kommen der Pflege damit zusammenhängt, dass die Pflege sich als ein Ort konstituiert hat oder noch dabei ist, sich als ein Ort zu konstituieren, an dem auf das artikulierte Befinden eines Menschen eingegangen werden kann und in Zukunft noch besser eingegangen werden könnte. Eingehen bedeutet: sich dem anderen Menschen zuzuwenden, kommunikativ, ethisch, alltagspraktisch.» Schnell spricht von artikuliertem Befinden eines Menschen und fasst so den Schrei eines Menschen mit Demenz ein. Die Bedeutung der artikulierten Bedürfnisse wird dem Menschen mit Demenz nicht abgesprochen, sondern deutlich unterstrichen. Abt-Zegelin und Schnell (2005: 13) betonen, dass auch Menschen mit Demenz als Gesprächsteilnehmer gelten, wobei die Kommunikation besonderen Bedingungen unterliegt. Sie sagen: «Während kleine Kinder sich in der Phase der Vorsprache hinsichtlich der Artikulation, Bedeutung und Regelhaftigkeit befinden, treten Menschen mit Demenz allmählich in eine Phase nach der Sprache ein, die nicht auf vollen Spracherwerb aus ist, sondern gerade den Abschied von ihm bedeutet.» Sachweh (2008: 135) weist in diesem Zusammenhang ausdrücklich darauf hin: «wenn demenziell erkrankte Menschen im fortgeschrittenen Krankheitsstadium in die Welt ihrer Kindheit regrediert sind oder von sich aus keinen Kontakt mehr zu uns aufnehmen [können], heißt das nicht, dass sie nicht mehr kommunizieren wollen und dass wir sie deshalb ignorieren können».
2.1 Die Bedeutungsebenen von Schreien und Rufen
Schreien und Rufen eines Menschen hat immer eine Bedeutung, weil die Schreie oder Rufe absichtsvoll und zielgerichtet sind und weil sie zum Beispiel Ausdruck von Emotionen sein können. Schreien besitzt sehr vielschichtige, komplexe und ineinandergreifende Ebenen. Wichtig ist jedoch, dass jeder Schrei und jeder Ruf nicht isoliert betrachtet wird, sondern der räumliche und gesellschaftliche Kontext sowie die soziale Lebenswelt der Menschen immer und umfassend Berücksichtigung finden. Die Schreie und die Rufe, die stets eine individuelle Färbung einer Person tragen, sind mehr als unartikulierte und laut ausgestoßene Laute, wie der Duden (1997) es kurz zusammenfasst. Es geht um viel mehr als allein um die Intention der Schreienden oder Rufenden, die den Informationsgehalt ihrer Nachricht auch in weiter Entfernung gehört wissen wollen (Urselmann, 2004).
Buchholz et al. (1983) greifen diese Zusammenhänge auf und fragen provokativ: «Wer schreit denn noch?» Sie stellen diese Frage mit einem Blick auf die «Disziplin der Selbstbeherrschung», die alle Menschen in ihren Sozialisierungsphasen erlernt haben. «Nimm-dich-zusammen», «Schreie nicht so rum», «Verliere nicht die Fassung», «Wer schreit, hat unrecht» sind nur einige plakative Postulate, die unseren Erziehungsprozess begleiten. Es ist eine zu erlernende Disziplin, sich zu beherrschen, sich anzupassen und nicht aufzufallen. Es gibt keine Gesellschaft, in der Schreien oder Rufen die «normale» verbale Kommunikationsebene darstellt. Das muss gelernt werden. Gelernt wird allerdings auch, dass es Ausnahmen gibt. Ein Beispiel ist der Schrei, der ein Bild der Macht und Machtlosigkeit widerspiegeln kann und einzelne Stufen der gesellschaftlichen Hierarchie betont. Gemeint ist die Situation, in der es einem Vorgesetzten durchaus erlaubt sein kann, den Untergebenen mit pseudojovialen Gesten, wie auf die Schulter klopfen, zu begegnen oder ihn in Konfliktsituationen anzuschreien (Urselmann, 2004). Schreie und Rufe können zur Macht in der Statushierarchie transzendieren, wie Buchholz et al. (1983: 8) an einem anderen Beispiel deutlich machen: «. beschwert man sich bei seiner türkischen Schneiderin darüber, daß sie einen wertvollen Stoff zerschnitten hat, und brüllt sie laut zurück, so wird eine Dimension ihrer Macht spürbar, der wir - die wir den Schrei zu unterdrücken gelernt haben - uns nicht gewachsen fühlen».
Searl (1983: 33) sieht den Schrei bei Säuglingen sogar als «... einzige machtvolle Waffe in jeder Situation des inneren oder äußeren Unbehagens oder der Gefahr». Er sagt weiter: «Die früheste menschliche Reaktion auf Gefahr ist nicht Flucht, sondern ein Schrei.» Säuglinge können nicht nur schreien, sondern sie müssen schreien. Für sie steht der Schrei am Anfang der menschlichen Kommunikation. Diese Schreie müssen gehört und verstanden werden, weil indem «die Mutter die jeweils schreiend artikulierte Not oder Wut des Babies versteht, verleiht sie dem Schrei einen zunehmend differenzierten Bedeutungsgehalt, der in subtile Ausdrucksformen befriedigend und befriedend übergeht» (Buchholz et al., 1983: 9). Der Säugling kann und muss auf Verständnis und Toleranz der Eltern bauen, weil sein Schrei gehört, befriedigt und befriedet werden muss. Aber auch erwachsene Menschen können mit ihren Schreien oder Rufen durchaus auf Toleranz hoffen. Ein Beispiel ist der körperliche Schmerzschrei oder der kollektive Schrei bei einem Tor eines Fußballspiels. Bis zu einer bestimmten, situativ und kontextuell festgelegten Grenze werden Schreie gesellschaftlich toleriert (Urselmann, 2004).
An dieser Stelle stellt sich jedoch die Frage, wie auf die Schreie und Rufe reagiert wird, die auf den ersten Blick völlig sinnlos erscheinen und für die es offenbar keinen Grund gibt. Gemeint ist der Schrei der «Verrückten», deren Geschrei zum bestätigenden Zeichen ihrer «Geistesgestörtheit» wird. Dieses Geschrei wird nicht verstanden, es stört, und diesem Schreien oder Rufen will man sich entziehen. Hierbei wird oft vergessen, dass diese Menschen aufgrund ihrer Erkrankung vielfach in einer anderen, nicht leicht zugänglichen Welt leben. Es ist eine Welt, die verrückt ist, verrückt im Sinne von verschoben und nicht leicht erreichbar. Erst wenn es gelingt, Eingang in diese Welt zu finden, erscheinen diese Schreie nicht mehr sinnlos. Den Schrei gilt es also aus seiner ordnenden Alltäglichkeit zu lösen und er gehört nicht an das Ende der verbalen Kommunikation, sondern kann auch den Anfang bilden (Urselmann, 2004). Steppe (1983: 130) sagt in diesem Zusammenhang, als sie zwei Erlebnisse aus ihrer Pflegearbeit im Krankenhaus schildert: «Das Schreien hat weniger Lärm verursacht als viele leise...