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Was haben meine Oma und Johann Wolfgang von Goethe beim Thema Stress gemeinsam? Die Antwort lautet: Sie haben nie davon gesprochen, dass sie gestresst waren oder sind. Seltsam, oder? Meine Oma hat schließlich als junge Frau den 2. Weltkrieg in Berlin miterlebt, später den Mauerbau und die Teilung des Landes. Sie hat drei Kinder großgezogen und als sie Rentnerin war, stellte ich den Alltag meiner Großeltern in den Ferien manchmal ganz schön auf den Kopf. Steckt hier nicht eine Menge Stress-Potenzial drin?
Immer wenn ich meine Oma auf ihrem Sofa mit den vielen Kissen und Plüschtieren zu ihren Erfahrungen im Krieg befragte, waren ihre Schilderungen weit weniger konkret als die Bilder aus den Dokus, die ich kannte. Mein Eindruck war, dass sie vieles in eine innere Schublade gepackt hat, so wie es sicher die psychische Überlebensstrategie vieler war. Sie erzählte mir aber von den Sirenen und dass es ihr Opa an einem Tag nicht schaffte, rechtzeitig in den Bunker zu kommen. Als sie wieder oben waren, war das Haus in der Weddinger Badstraße nur noch eine Ruine, die ihn mit allem Hab und Gut begraben hatte. Sie erzählte davon, dass ihr jüngerer Bruder, nicht mehr Kind, aber auch noch nicht Mann, in den Krieg musste und nie wieder nach Hause kam und irgendwann auch ihr Vater trotz seines Alters eingezogen wurde. Sie begleitete ihn noch zum Bahnhof und er verabschiedete sich von ihr, als ob sie sich zum letzten Mal sehen würden. Auch von ihm kam nur die Todesmeldung zurück. Und dann war ihr Mann, mein Opa, im Krieg. Irgendwo in Österreich, irgendwo in Frankreich, und sie erhielt keine Guten-Morgen-SMS und kein "Ich lebe noch" am Abend, sondern nur ab zu einen Brief. Das klingt doch nach extrem stressigen, ja traumatischen Belastungen. Und trotzdem keine Rede von Stress?
Und Goethe saß oft vor einem weißen Blatt, das zu Weltliteratur werden sollte, kümmerte sich darum, dass seine Stücke im Theater aufgeführt wurden, arbeitete außerdem als Minister und reiste - ohne google maps, airbnb, WhatsApp und Online-Banking - fast zwei Jahre durch Italien. Als er zurück in sein Weimar kam, interessierten sich alle mehr für den jungen Dichter namens Friedrich Schiller, dem Goethe lange Zeit versuchte, aus dem Weg zu gehen. Aus seinen Tagebüchern und Briefen wird immer wieder herausgelesen, dass er möglicherweise depressive Phasen hatte und es ihm keineswegs immer leichtfiel, sich für das Schreiben zu motivieren. Und auch in seinen literarischen Texten geht es häufig um Gefühle von Traurigkeit und innerer Leere, was zu seiner Zeit auf eine romantische Weise als Melancholie bezeichnet wurde. In seinen 82 Lebensjahren machte Goethe immer wieder negative Erfahrungen und erlitt Rück- und Schicksalsschläge. Man geht davon aus, dass er in dem Briefroman Die Leiden des jungen Werther seine unglückliche Liebe zu der vergebenen Charlotte Buff und den Suizid seines Bekannten Karl Wilhelm Jerusalem verarbeitet hat. Außerdem trafen Goethe die frühen Tode seiner Kinder, die er mit seiner Lebensgefährtin und späteren Ehefrau Christiane Vulpius hatte. Sie starb mit 51 Jahren weit vor ihm, genauso wie sein - inzwischen - guter Freund Friedrich Schiller. Und trotzdem keine Rede von Stress?
Also halten wir fest: Natürlich haben meine Oma und Goethe herausfordernde Dinge erlebt, so wie sie für uns alle zum Leben dazugehören. Sie fühlten sich überfordert, hatten Zeitdruck, waren traurig, wütend oder auch aufgeregt, weil etwas Wichtiges bevorstand. Sie hatten Ängste und Sorgen, erlebten Konflikte, verloren jemanden oder etwas und konnten abends nicht einschlafen. Allerdings gehörte das Wort Stress nicht zu ihrem Wortschatz, ganz einfach, weil es im deutschen Sprachraum ein relativ neues Wort ist. Es stammt aus dem englischen Sprachraum und wurde erst im 20. Jahrhundert ins Deutsche übernommen. Es geht auf den lateinischen Begriff stringere zurück, der so viel wie straff anziehen, zusammenziehen, eng schnüren bedeutet. Im Wort Anstrengung ist diese Wurzel noch am deutlichsten erkennbar. Zuerst sprachen Ingenieure von Stress. Allerdings ging es bei ihnen nicht darum, wie gestresst sie bei der Arbeit waren, sondern um Anspannung und Druck in Bezug auf Maschinen und Materialien.
In der Wissenschaft wird der Begriff seit dem 1. Weltkrieg benutzt, im Alltag erst allmählich seit den 1950er Jahren. Ab den 1970er Jahren wurde er zu einem Schlagwort für ein Phänomen, über das die Medien immer häufiger berichteten. Bis meine Oma von Stress gehört hatte, verging sicher noch einige Zeit, denn ohne Fernsehen und Social Media verbreiteten sich Themen deutlich langsamer. Auf sie muss "Stress" wie ein Jugend- oder sogar Unwort gewirkt haben, mit dem sie nicht viel anfangen konnte, da sie bisher auch alles ausdrücken konnte, was sie bewegte. Heute hört und liest man hingegen ständig von Stress, weshalb ich Dich in den nächsten Minuten dazu einladen möchte, mit mir in eine Zeitmaschine zu steigen und zu schauen, wie Menschen früher ausgedrückt haben, dass sie gestresst sind. Auf unserer Zeitreise können wir auch mal über die spannende Frage nachdenken, ob man überhaupt Stress haben kann, wenn es das Wort gar nicht gibt. Du wirst unterwegs von verschiedenen Deutungen und Erkenntnissen erfahren sowie mit kulturellen Konstruktionen, Lebensumständen und Verhaltensmustern der jeweiligen Zeit in Berührung kommen, die uns dabei helfen, Stress und unseren eigenen Umgang damit besser zu verstehen.
Unseren ersten Zwischenstopp auf der kleinen Reise in die Vergangenheit machen wir vor ungefähr 2500 Jahren in der Antike. Aus dieser Zeit sind uns einige der ältesten Schriften von Philosophen und Herrschern überliefert. Daraus lässt sich ablesen, wie das Leben der Menschen damals war, worüber sie nachdachten und eben auch, welche Wörter sie nutzten. Eine konkrete Entsprechung für Stress gibt es in in dieser Zeit nicht. Stattdessen werden verschiedene Konzepte und Begriffe verwendet, um Überforderung oder Anspannung auszudrücken. Drei wichtige Begriffe im Griechischen sind ponos, tarache und pathos. Ponos hat zwei Bedeutungen: Einerseits kann dieses Wort Arbeit bedeuten, andererseits Anstrengung und Schmerz. Wenn Menschen vor Herausforderungen standen, drückten sie damit aus, dass viel zu tun ist bzw. dass etwas mühsam ist. Tarache wird mit Unruhe oder Aufruhr übersetzt und konnte auch innere Zustände beschreiben. Hiermit wurden also emotionaler Stress und Aufregung ausgedrückt. Und pathos bedeutete ursprünglich Leiden oder Gefühlszustand und wurde von den Philosophen genutzt, um zu beschreiben, wie unsere Emotionen unser Denken und dann auch Handeln beeinflussen.
Drei zentrale lateinische Begriffe in der Philosophie der Antike sind: labor, angor und anxietas. Auch hier begegnet uns wieder Arbeit (= labor) im doppelten Sinne: einerseits eine Tätigkeit, um den Lebensunterhalt zu sichern, andererseits die Bedeutung Mühe, Leiden, Anstrengung. Der Begriff angor lässt sich am besten übersetzen mit Angst oder seelischer Not. Hier geht es also um eine innere Anspannung oder um emotionalen Druck. Und wenn von anxietas gesprochen wurde, ging es um Sorgen und die damit verbundene Unruhe.
Eine bedeutende Stellung nimmt in der Antike die philosophische Strömung des Stoizismus ein. Sie entstand im 3. Jahrhundert vor Christus in Athen und befasste sich damit, wie wir Menschen ein gutes Leben führen können, ganz besonders, wenn wir mit Negativem konfrontiert sind. Ein wichtiges Prinzip der Stoiker ist die Unterscheidung zwischen Aspekten, die wir kontrollieren, und solchen, die wir nicht kontrollieren können. So empfahlen sie, dass wir uns nicht auf andere Menschen, äußere Umstände und das Schicksal fokussieren sollten, sondern stattdessen auf unsere Gedanken, Einstellungen und Handlungen. Sie gingen davon aus, dass wir eine Haltung der Gelassenheit, die auch in schwierigen Zeiten trägt, nur entwickeln können, wenn wir lernen, das Schicksal und die Welt, wie sie ist, anzunehmen, und alles, was passiert, als Teil einer natürlichen Ordnung zu sehen. Ein berühmter Ausspruch aus dieser Zeit lautet amor fati (= liebe das Schicksal). Aus dieser philosophischen Strömung leitet sich auch der Begriff stoisch ab. Wenn wir heute sagen, dass jemand stoisch ist, meinen wir, dass sie oder er äußere Umstände und Schwierigkeiten mit Ruhe, Gelassenheit und Selbstbeherrschung erträgt oder gefasst bleibt.
Du siehst: Ängste, Sorgen, Herausforderungen und die Beschäftigung mit der Frage, wie man mit schwierigen Situationen und Phasen umgehen kann, ist nichts Neues. Das sehen wir auch, wenn wir auf unserer Zeitreise einen weiteren Zwischenstopp im Mittelalter einlegen. Unser dortiger Aufenthalt ist besonders spannend, weil wir es nun auch mit deutschen Begriffen zu tun haben.
Im Mittelalter gab es viele Bedrohungen durch Kriege und Krankheiten, es gab große soziale Unterschiede, die einen Einfluss auf Armut und Reichtum hatten. Und zu dieser Zeit formte die Kirche maßgeblich den Blick der Menschen auf das Leben und den Umgang mit Herausforderungen. In der Bibel wird beispielsweise dazu geraten, sich über die Sorgen des Lebens nicht so viele...
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