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Als am frühen Morgen des 24. Juni 2016 das Ergebnis des Referendums über die Mitgliedschaft des Vereinigten Königreiches in der EU bekannt wurde, war allen Beteiligten klar, dass es sich um eine Zäsur in der Geschichte der Europäischen Integration handelte. Entgegen den Erwartungen der Meinungsforschung hatte sich eine knappe Mehrheit (51,89 %) der Wähler für den "Brexit" entschieden. Zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union hatte sich ein Mitgliedstaat zum Austritt aus der Gemeinschaft entschlossen und zudem mit dem Vereinigten Königreich ein politisches und wirtschaftliches Schwergewicht. Weder die Europäische Union noch die britische Regierung waren auf ein solches Ergebnis vorbereitet. Der britische Premierminister David Cameron, der das Referendum lanciert hatte, trat kurz nach der Verkündung des Ergebnisses zurück. Es dauerte neun Monate, bis seine Nachfolgerin Theresa May am 29. März 2017 den Austrittsprozess auch rechtlich einleitete. Nach langen und zähen Verhandlungen und einem weiteren Regierungswechsel in London trat das Vereinigte Königreich zum 1. Januar 2021 aus dem gemeinsamen Binnenmarkt und der Zollunion aus.
Es ist aus geschichtswissenschaftlicher Sicht gewiss noch sehr früh für einen analytischen Zugang zu diesen Ereignissen. Eine fundierte Interpretation wird erst nach der Öffnung der Archive in dreißig Jahren möglich sein. Klar ist allerdings bereits jetzt, dass der "Brexit" die Geschichte der Europäischen Integration und den Beitritt des Vereinigten Königreiches zur Europäischen Gemeinschaft im Jahr 1973 in eine neue Perspektive rücken wird. Viele Ereignisse der Vergangenheit erlangen durch so fundamentale Wendungen, wie dem Austritt des Vereinigten Königreiches aus der EU, eine neue Deutung. In diesen Augenblicken wird deutlich, dass die Interpretation der Vergangenheit auch von den Strukturen der Gegenwart geprägt wird. Das von der EU selbst propagierte Ziel einer "immer engeren Union der Völker" ist durch die britische Entscheidung in Frage gestellt worden. Bislang wurde der Europäische Integrationsprozess davon geprägt, dass sich immer mehr Staaten an der Europäischen Integration beteiligten. Selbst als die EU im Vertrag von Lissabon mit Art. 50 die Austrittsoption eröffnete, geschah dies nicht in der Erwartung, dass ein Mitgliedstaat diese Option ziehen könnte. Das Motiv war vielmehr, so hat es einer der Architekten dieses Artikels bezeichnet, auf den Fall vorbereitet zu sein, dass in einem Land ein autoritäres Regime die Regierung übernehmen könne. An das Vereinigte Königreich allerdings dachte in diesem Zusammenhang niemand. Zudem wollte die Europäische Union der absurden Argumentation einiger Kritiker entgegentreten, sie sei ein auf Zwang basiertes Imperium vergleichbar mit der Sowjetunion.
Auch wenn die Archive noch verschlossen sind, gibt es erste Interpretationen des "Brexit", die sich vor allem auf die Frage konzentrieren, wann die Entfremdung des Vereinigten Königreiches von der Europäischen Integration begann. So hat die britische Historikerin Anne Deighton argumentiert, dass die britischen Regierungen nach 1945 keine Antwort auf den Zusammenbruch des britischen Empire gefunden hätten. Eine Alternative habe sich zu Beginn der 1950er Jahre geboten, als Frankreich und die Bundesrepublik Deutschland das supranationale Europa auf den Weg brachten und das Vereinigte Königreich die Mitgliedschaft verweigerte. Auch bei der Gründung des Gemeinsamen Marktes 1957 hätte Großbritannien im Abseits gestanden. Dabei gab es im Rahmen der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl und später in der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft durchaus die Möglichkeit für eine britische Führungsrolle - wenn man denn in London die Chance genutzt hätte. Als das Land dann 1973 in die Gemeinschaft eintrat, waren die entscheidenden Weichen in politischer und wirtschaftlicher Hinsicht bereits gestellt. Die von den Anhängern des "Brexit" genutzten Schlagworte von der "globalen Führungsrolle" Großbritanniens, dem "nationalen Interesse" und der Idee, an die Stelle des gemeinsamen europäischen Marktes bilaterale globale Handelsabkommen zu setzen, verweisen darauf, so Deighton, dass wesentliche Teile der britischen Gesellschaft den Verlust des Empire und der globalen Führungsrolle des Landes nicht verarbeitet hätten. Noch weiter zurück greift Martin Conway in der Suche nach den Anfängen des "Brexit". Er sieht den Austritt Großbritanniens aus der EU als das vorläufige Ende eines Prozesses der Entfremdung des Landes vom europäischen Kontinent, die in seinen Augen bereits in den 1930er Jahren begonnen hat. Die europäischen Gesellschaften machten in den 1930er Jahren angesichts der ideologischen Konflikte andere Erfahrungen als die britische und auch die europäischen Exilanten in London während des Krieges, so seine These, hätten eher die Differenzen zur britischen Elite als ein Zusammengehörigkeitsgefühl entwickelt. Diese Tendenzen hätten sich nach 1945 noch verstärkt. Der Potsdamer Historiker Dominik Geppert verweist auf einen anderen Aspekt: Die Briten traten der EG 1973 bei, ein Zeitpunkt, als die Gemeinschaft, bedingt durch die Ölpreiskrise und den Zusammenbruch des Währungssystems von Bretton Woods, in eine wirtschaftliche Rezession geriet. Im Gegensatz zu Frankreich, Italien und der Bundesrepublik Deutschland ist die Mitgliedschaft in der EG daher im Vereinigten Königreich nicht mit einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte verbunden, sondern mit einer lang andauernden wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Krise. Dies, so Geppert, sei die Erklärung dafür, warum die EU in der britischen Gesellschaft nicht die Reputation genießt, die sie in den anderen europäischen Staaten hat. Man könnte die Geschichte des "Brexit" auch mit dem Europäischen Rat von Fontainebleau vom 25./26. Juni 1984 beginnen, als sich Großbritannien unter der Führung von Premierministerin Margaret Thatcher einen Rabatt in Bezug auf die Finanzierung der EG sicherte und damit eine Sonderrolle innerhalb der Gemeinschaft für sich beanspruchte. Verwiesen wird in diesem Zusammenhang aber auch auf den Vertrag von Maastricht vom 7. Februar 1992, als die Mitgliedstaaten der EG dem Vereinigten Königreich eine "Opt-out-Klausel" zugestanden, gemäß der das Land nicht an der im Vertrag vereinbarten Europäischen Währungsunion teilnehmen musste. Aber nicht nur der Beginn des Brexit-Prozesses, auch sein Ende ist unklar. Mit dem am 1. Januar 2021 rechtlich vollzogenen Austritt des Vereinigten Königreiches aus dem Binnenmarkt und der Zollunion blieben wesentliche Fragen offen: Dies betrifft beispielsweise den Status von Nordirland und die Zollgrenzen zwischen dem EU-Mitglied Irland und dem Vereinigten Königreich. Auch die Fischereirechte in der Nordsee sind zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich ungeklärt. Die Liste der offenen Fragen ließe sich noch fortsetzen. Es muss also offenbleiben, wann der Prozess des "Brexit" abgeschlossen sein wird und ob er sich überhaupt abschließen lässt. Alle diese Interpretationen der Geschichtswissenschaft beziehen sich auf die langfristigen Prozesse, die das Referendum vom Juni 2016 prägten. Die Erforschung der spezifischen politischen und gesellschaftlichen Strukturen in der Situation des Jahres 2016 können erst nach Öffnung der Archive in den Blick genommen werden.
Auch in den Sozialwissenschaften haben die Diskussionen darüber, wie der "Brexit" zu interpretieren ist, begonnen. In dieser Hinsicht stehen verschiedene Ansätze zur Debatte, die alle sicher keine alleinige Geltungsmacht beanspruchen, jedoch in ihrer Gewichtung umstritten sind. In diesem Zusammenhang wird erstens die Arbeitsmigration genannt, die auch von den Protagonisten des "Brexit" als wichtiges Argument angeführt wurde. Mit der Öffnung der europäischen Arbeitsmärkte 1992 waren in der Tat viele Menschen in das Vereinigte Königreich gekommen, um ihre Dienste dort anzubieten. Der Trend verstärkte sich mit dem Beitritt der osteuropäischen Länder in die EU, der 2004 begann. Im Gegensatz zu Deutschland und Frankreich öffnete die britische Regierung die Arbeitsmärkte ohne Übergangsfristen. Britische Handwerker sahen sich plötzlich der Konkurrenz von osteuropäischen Dienstleistern ausgesetzt, die ihre Arbeit zu geringeren Preisen anboten. Was die Nachfrager freute, war für die britischen Handwerksbetriebe eine existenzielle Bedrohung. Dabei war es gerade die britische Regierung unter Margaret Thatcher gewesen, die in den 1980er Jahren besonders stark auf die Öffnung der europäischen Märkte gedrängt und die EG vor allem als großen Binnenmarkt wahrgenommen hatte. Allerdings gab es in Großbritannien auch Verlierer dieses Prozesses, die auf die Schließung der Grenzen für Arbeiter aus anderen Ländern drängten. Die Einwanderung war aber nicht nur in wirtschaftlicher Hinsicht umstritten, viele Briten sahen sich - zweitens - auch in ihrer nationalen Identität bedroht. Die Europäische Integration nach dem Zweiten Weltkrieg hatte immer auch auf der...
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