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Mit einem gewissen Stolz berichtete Carl Goerdeler in seinem Lebenslauf, den er als Referendar 1907 der Juristischen Fakultät der Universität Göttingen für sein Promotionsverfahren präsentierte, dass er im März 1902 die Reifeprüfung abgelegt hatte, nachdem er ohne Sitzenbleiben «sämtliche Klassen in je einem Jahre durchgemacht hatte».[1] Zu diesem Zeitpunkt hatte weite Teile der deutschen Öffentlichkeit eine mitunter rauschhafte Flottenbegeisterung erfasst, eine im Konzert der Großmächte durchaus nicht ungewöhnliche Entwicklung. Im deutschen Fall entstand sie allerdings aus der strategischen Grundentscheidung, das Britische Empire im Zeichen der wilhelminischen Weltpolitik herauszufordern, was mit guten Gründen als «töricht» charakterisiert worden ist.[2] Im April 1902 meldete Goerdeler sich bei der Kadettenschule in Kiel zur Ausbildung als Marineoffizier. Es kann offenbleiben, ob er mit diesem Berufswunsch einer verbreiteten Modeerscheinung folgte oder ob der Auslöser «die rege Werbetätigkeit» der regierungsamtlichen Propaganda «unter der Jugend» war.[3] Mehr als unwahrscheinlich liest sich die Deutung, dass «um die Jahrhundertwende» der «Nationalismus» des damals 16-Jährigen «nahtlos in einen alldeutschen Imperialismus übergegangen» sei.[4] Jedenfalls wirkte der Flottenenthusiasmus bei Carl Goerdeler nicht nachhaltig, wenn er ihn denn überhaupt verspürt haben sollte. Denn er verließ die kaiserliche Marine schon im Juli 1902, da ihm «dieser Beruf [.] nicht zusagte».[5] Das war korrekt formuliert. Aber seine Witwe traf das emotionale Geschehen vermutlich überzeugender, wenn sie später schrieb: «Ein heftiges Heimweh und die Erkenntnis, dass das Leben eines Seeoffiziers wenig Raum für Familienleben ließ, packte den 17jährigen mit solch schmerzhafter Heftigkeit, dass der Vater eingriff und seinen Jungen - ungeachtet der bereits gemachten Anschaffungen - von Kiel abholte und nach kurzer Pause zum Studium nach Tübingen entließ.»[6]
Ein Studium an der Eberhard Karls Universität Tübingen gehörte für die Goerdelers inzwischen nahezu zur Familientradition. Carl Goerdelers Bruder Gustav begann dort sein Medizinstudium 1891; Franz studierte von 1896 bis 1897 in Tübingen Jura. Auch Carl Goerdeler hatte sich entschlossen, sich «der juristischen Laufbahn zu widmen».[7] Ihm folgte im Sommersemester 1904 sein jüngerer Bruder Fritz.[8]
In Tübingen belegte Carl Goerdeler neben den juristischen auch Vorlesungen zur Nationalökonomie und zur Neueren Geschichte, insbesondere zur Verfassungsgeschichte, zur Entwicklung Preußens und zu den Freiheitskriegen im Zeitalter Napoleons, er eignete sich damit eine politikgeschichtlich-ökonomische Allgemeinbildung an, die später in seinen Denkschriften und Entwürfen durchscheinen sollte.[9]
Die Semester in Tübingen bedeuteten für Carl Goerdeler offenbar «fröhliches und unbeschwertes Studentenleben, verklärt durch lebenslange Freundschaften, sicherlich die sorgloseste Zeit seines Lebens»,[10] in der er sich auch Geldstrafen der Universität wegen Ruhestörung und wegen verbotenen Singens einhandelte.[11] Der Rückblick seiner Witwe auf diesen Lebensabschnitt, in dem sich das Paar näher kennenlernte und verlobte - Anneliese Ulrich war eine Cousine zweiten Grades -, enthält keine weitere Auskunft zum Treiben des jungen Goerdeler im Milieu der studentischen Verbindungen. In Tübingen wurde er, wie später auch sein jüngerer Bruder, in die Turnerschaft Eberhardina zu Tübingen aufgenommen, die 1884 als studentisches Gesangsquartett entstanden war und sich 1890 als schlagende Verbindung konstituiert hatte. Es muss offenbleiben, warum die Söhne nicht dem Beispiel des Vaters folgten und einem der ungleich prestigeträchtigeren studentischen Corps beitraten. Die Netzwerke der Turnerschaften begünstigten selten den Aufstieg in berufliche Spitzenpositionen in Staat und Gesellschaft. Ihr Rekrutierungsfeld war nicht die Welt der Staatssekretäre und Regierungspräsidenten, sondern das mittlere, aufstrebende Bürgertum - die soziale Welt der Apotheker, Ärzte, Theologen und Anwälte.[12]
Seit den 1880er Jahren griff an deutschen Hochschulen ein akademischer Antisemitismus um sich, unter anderem angestachelt durch die berüchtigte, auch von Studenten verbreitete Antisemitenpetition von 1880 an die Adresse des preußischen Ministerpräsidenten und Reichskanzlers Otto von Bismarck, in der eine Art Rückabwicklung der Emanzipation und der mit der Reichsgründung gesetzlich verbürgten Gleichstellung der jüdischen Mitbürger gefordert wurde.[13] Das ideologisch aufgeladene antisemitische Ressentiment im akademischen Milieu hatte einen mit nationalen, moralisierenden Parolen drapierten materiellen Interessenuntergrund: Studierende namentlich aus den Mittelschichten, die in den 1880er Jahren in die Hochschulen strebten, wähnten sich im Zusammenhang mit einer vielfach beklagten «Überfüllungskrise» der Universitäten bei zeitgleich nicht wachsenden Beschäftigungsaussichten am Arbeitsmarkt für akademische Berufe in einem bedrohlichen Konkurrenzkampf mit Kommilitonen aus jüdischen Familien. Die ausgeprägte berufliche Mobilität jüdischer Bürger, der in jüdischen Familien traditionell sehr tief verankerte Lerneifer, das Bestreben der Eltern, ihren Kindern ein Optimum an geistigen Entfaltungschancen und beruflichen Startvoraussetzungen in der deutschen Gesellschaft zu ermöglichen, wurden in antisemitischen Kreisen als Begleiterscheinungen von Verdrängungsbestrebungen «gedeutet», obwohl der Anteil der Studierenden aus jüdischen Familien sich von den späten 1880er Jahren bis zum Ersten Weltkrieg sogar tendenziell rückläufig entwickelte.[14] Auch Mitglieder der Verbindung Eberhardina-Markomannia blieben von der antisemitischen Welle an den deutschen Universitäten nicht unberührt. Gegen Ende von Carl Goerdelers Studienzeit in Tübingen befasste sich eine Versammlung der Eberhardiner mit dem Verhältnis zu anderen Verbindungen und auch mit der «Stellung zu den in letzter Zeit in Tübingen leider recht zahlreich erschienenen Juden. Verschiedene Prügeleien zwischen ihnen und anderen Studenten machten uns auf diese Herren aufmerksam. Da wir infolge mehrfacher Erkundigungen Grund zur Annahme hatten, es könnte sich im nächsten Semester eine jüdische Verbindung auftun, so kamen wir zu dem Entschlusse, nicht für uns allein eine abwartende Haltung einzunehmen, sondern im Verein mit den anderen schlagenden Verbänden und Korporationen vorzugehen. Meine Besprechungen [.] ließen diesen Weg als erfolgreich erscheinen und so beriefen wir auf den 6.II. eine Vertreterversammlung, die von uns geleitet, einstimmig den Antrag unseres Vertreters annahm. Er lautet: Damit haben wir vor anderen Universitäten viel voraus und können hoffentlich unserem lieben Tübingen den Vorzug der Judenreinheit und damit des anständigen Tones erhalten. Vorläufig gehen wir größeren Teils zur Kneipe nur mit handfesten Stöcken bewaffnet.»[15]
Es war der 19-jährige Carl Goerdeler, der hier als Berichterstatter zentrale Versatzstücke, Elemente des akademischen Antisemitismus, zu einer Art Kampfansage an jüdische Kommilitonen zusammenfügte. Dabei bestand deren vermeintliche Missetat in nichts anderem als dem Versuch, sich in die Traditionen und Usancen studentischen Lebens dieser Jahre einzufügen, eine eigene Verbindung aufzubauen, weil ihnen der Eintritt in eine bestehende Verbindung verwehrt blieb. Es lässt sich den Quellen nicht entnehmen, auf welchen Wegen und durch welche Einflüsse Goerdeler in den trüben Dunst judenfeindlicher Schlagworte und Forderungen geriet und sie sich zeitweilig zu eigen machte. Es lässt sich jedoch erkennen, wie im Rückblick zu zeigen sein wird, dass es sich hier nicht um eine für den Rest seiner Biographie verfestigte, politisch-moralische Verblendung handelte. Hier wie auch in anderen Kontexten ist es unergiebig und irreführend, Positionen, die er formuliert hat, gleichsam dogmengeschichtlich als lebenslang eingefrorene Essenz seiner Identität zu beschreiben. In einem «Rechenschaftsbericht» aus dem Gestapogefängnis vom Januar 1945, wenige Tage vor seiner Hinrichtung, geißelte Carl Goerdeler den...
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