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Ein Massengrab macht sehr viel Arbeit
Tomasica, Oktober 2013
Überall Nebel. Er hüllt die Landschaft ein, die beiden Häuser, die wir soeben passiert haben, nimmt uns jeden Horizont jenseits der paar Meter vor dem Auto, das holpernd weiterfährt und dabei den mit Wasser gefüllten Schlaglöchern ausweicht. Der Weg, der zum Hügel hinaufführt, scheint für Traktoren gemacht, nicht für kleine Mietgefährte wie das unsrige, das im Schlamm festzustecken droht. Das Ermittlerteam überholt uns mit seinen zwei Geländewagen, es ist für solche Böden gerüstet. Massengräber befinden sich selten an leicht zugänglichen Orten. Dieses hier liegt auf dem Gebiet einer ehemaligen Eisenmine. Die Leichen dort verschwinden lassen, wo sich niemand über umgegrabene Erde wundern würde. Im Sommer 1992 war das wohl die ideale Lösung. Ein paar Monate zuvor war die Mine noch in Betrieb gewesen, vermutlich standen die Löffelbagger noch an Ort und Stelle.
Am Ende des Weges, hinter den riesigen Erdschollen, die seit Beginn der Grabungen aufgeschüttet wurden, liegt die offene Grube, deren Umrisse im Morgennebel versinken. Das Team zieht sich bereits vor dem Zelt um, das aufgebaut wurde, um das Material zu lagern. Senem hat ihre eigene Technik: Sie bindet sich einen Pferdeschwanz, streift Wollsocken über und dann einen weißen Schutzanzug, danach Handschuhe, die sie zur besseren Abdichtung mit Klebeband an den Handgelenken befestigt, zum gleichen Zweck wickelt sie sich Plastiktüten um die Knie, anschließend zieht sie einen zweiten Schutzanzug über den ersten und schlüpft in die Gummistiefel, zieht noch ein Paar Handschuhe an, eine Maske, eine Schirmmütze.
Drei Jahre sind seit unserer ersten Begegnung in Sejkovaca vergangen. Zwischendurch bin ich ins Identifikationszentrum zurückgekehrt, um Szenen für eine Web-Doku zu drehen, die ich gemeinsam mit Zabou gemacht habe, der Fotografin, die mich bei meinem allerersten Besuch begleitet hatte. Der Film erzählt die Geschichte des Dorfs Trnopolje, dessen Schule im Krieg zu einem Gefangenenlager umfunktioniert wurde. Während dieser drei Jahre habe ich Dutzenden Berichten von Überlebenden gelauscht, die weiterhin nach ihren im Sommer 1992 verschwundenen Angehörigen suchten. Senem hatte mir wieder von ihrer Arbeit erzählt, aber nun sehe ich sie zum ersten Mal »im Feld«, wie sie sagt, inmitten von Ausgrabungen.
Vor zwei Wochen habe ich erfahren, dass dieses Massengrab entdeckt wurde. Zunächst war ich zögerlich. Wäre das nicht ein Zeichen von krankhafter Neugier, wenn ich mich zu einer solchen Stätte begeben würde, ohne dass mich irgendein Sender beauftragt hatte? Dann habe ich meinen Kontostand geprüft, Zabou angerufen, dem Staatsanwalt gemailt, der für die Kriegsverbrechen zuständig ist, und sobald er mir grünes Licht erteilte, einen Flug gebucht. Ich hatte das Gefühl, dass ich es bereuen würde, wenn ich diese Gelegenheit verpasste. Ich wollte wissen, was es mit diesem Moment auf sich hat, wenn die Vergangenheit buchstäblich ans Licht kommt.
Es ist mein zweiter Tag vor Ort.
Senem zieht sich die Kapuzen ihrer beiden Overalls über die marineblaue Schirmmütze mit dem ICMP-Logo. Es sind nur noch ihre Augen zu sehen.
»Nur so entgeht man dem Gestank, der sich im Gewebe festsetzt . und das klappt auch nicht immer!«, ruft sie durch ihre Maske.
Davon sind hier alle besessen. Als ich gestern im Dorf ankam, wo ich übernachte, erzählte mir ein Freund von der Grabungsstätte, und das Erste, was er erwähnte, war ebendieser Gestank. Als könnte das Wort allein dieses Etwas erfassen, das es gar nicht geben dürfte.
Ein paar Dutzend Meter von den Geländewagen entfernt warten zwei Schaufelbagger und ein Bobcat, die Räder und Ketten voller angetrocknetem Schlamm vom Vortag. Die Fahrer schleppen Benzinkanister herbei, füllen die Tanks und steigen in die Führerkabinen. Die Fahrzeuge starten und versehen diese Stätte mit der Lärmkulisse einer Baustelle. Als ich die Augen schließe, habe ich den Eindruck, an meinem Fenster in Montreuil zu stehen, in meiner Straße, in der seit unzähligen Wochen der Belag ausgebessert wird. Der Bobcat gleitet langsam den Hang zur Grube hinunter, die Schaufelbagger erklimmen ihre Ränder, um weiter Erde auszuheben, damit das Team auf einer noch größeren Fläche suchen und in die Tiefe gehen kann.
Senem klettert zur Stelle hinunter, die gestern freigelegt wurde. Ich sehe, wie sie mit ihren Kollegen im Nebel vordringt, sie schnappen sich Schaufeln und Spitzhacken neben den beiden roten Festzelten, den einzigen Farbflecken in einer Landschaft, die von einem milchigen Schleier verdeckt wird. Ich steige auf die Erdschollen am Rand der Grube, die mit rot-weißem Polizeiflatterband markiert sind - eine Erinnerung daran, dass wir uns wirklich an einem Tatort befinden. Die Grabungsstätte wird rund um die Uhr von einem Polizisten bewacht, und ein Vertreter des zuständigen Staatsanwalts ist die ganze Zeit zugegen, während das Team arbeitet. Sein Name ist Eldar, er trägt ein großes marineblaues Notizbuch bei sich, in das sämtliche Funde und Daten des Tages handschriftlich eingetragen werden: die geborgenen Leichen, ihre jeweiligen Codes, die Gegenstände, die in den Taschen gefunden wurden, die Besucher der Stätte.
Unter den acht weißen Gestalten, die unten zugange sind, kann ich Senem kaum ausmachen, sie sehen sich alle ähnlich, die meisten haben sich die Kapuze über den Kopf gezogen. Die Juristen arbeiten zu zweit oder zu dritt, graben, halten inne, tauschen sich aus, legen Spitzhacke oder Schaufel beiseite, graben mit den Händen weiter, fotografieren, messen. Die Sonne vertreibt nach und nach den Nebel, und ich kann die Umrisse der gewaltigen Grube erkennen. Sie sieht aus wie eine riesige Waschschüssel, deren Boden mit Grabungsspuren übersät ist. Zwei weiße Silhouetten bewegen sich rund um einen dunklen Haufen, der aus der Erde ragt, eine dritte holt einen der weißen Leichensäcke, legt ihn auf dem Boden aus, aufnahmebereit. Ein Stückchen weiter weg zeigen Leitkegel an, wo als Nächstes gegraben werden soll.
Es ist nicht das erste Mal, dass ein Ermittlerteam hier tätig wird. 2003 fanden bereits Grabungen statt, in nur rund hundert Metern Entfernung. Damals wurden etwa zwanzig Leichen gefunden, dann hörte die Suche auf. Manche der hier ausgegrabenen Überreste gehörten zu Körperteilen, die man aus einem anderen Massengrab geborgen hatte, im dreißig Kilometer entfernten Jakarina Kosa, wo es 2001 gelungen war, 308 Opfer zu identifizieren. Die forensischen Anthropologen hatten gleich angenommen, dass diese Leichen versetzt worden waren, aber sie vermuteten, dass sich das primäre Grab in Jakarina Kosa befand. Wie sich allerdings herausstellte, war es umgekehrt.
»Wir wussten schon seit geraumer Zeit, dass es irgendwo in der Nähe von Tomasica ein größeres Massengrab geben musste«, erklärt mir Eldar während der morgendlichen Zigarettenpause. »Dieser Ort wurde immer wieder erwähnt, wenn es um die mutmaßliche Lage solcher Gräber ging. Aber wir kannten die Stelle nicht.«
Bis schließlich jemand das Schweigen brach. Es war der Fahrer von einem der Lastwagen, mit denen die Toten transportiert wurden.
»Im Rahmen unserer Ermittlungen zählte er zu den Verdachtspersonen. Am Ende war er bereit zu reden, nachdem er mit dem Gericht einen Deal geschlossen hatte. Na ja . im Gegenzug für sein Geständnis können wir ihn nicht mehr belangen.«
Die hier verscharrten Leichen sollen aus mehreren Dörfern der Region stammen sowie aus Gefangenenlagern und im Juni, Juli und August 1992 hierhergebracht worden sein, »vor allem im Juli«, ergänzt Eldar. In der Grube fand man Geschosse, die darauf schließen lassen, dass manche vor Ort getötet wurden. Die Opfer seien wohl fast alle Bosniaken, es gebe auch ein paar Kroaten, und sie wurden offenbar von serbischen Milizionären und Armeesoldaten getötet.
»Die Toten, die mit Lastwagen transportiert wurden,...
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