Mit dem Börsenkrach von 1873 erreichte der euphorische Fortschrittsoptimismus der liberalen Ära seine Grenze. Die folgende Wirtschaftskrise konfrontierte auch die renommierte Wiener Medizinische Schule mit rigorosen Einsparungen und ansteigendem Leistungsdruck. Sie versuchte ihr wissenschaftliches Niveau zu halten und konzentrierte sich auf eine ´deutsche` Elite, die im Medizinstudium und bei Berufungen gegenüber anderen Ethnien der Habsburgermonarchie bevorzugt wurde. Interkulturalität wurde nicht mehr als intellektuelles Kapital genützt. Das Fremde war negativ kodiert. Die Überrepräsentanz ostjüdischer Medizinstudenten an der Medizinischen Fakultät der Universität Wien wurde politisch instrumentalisiert, was zu den ersten antisemitischen Ausschreitungen führte. Besonders die ´jüdische` Poliklinik wurde Projektionsfläche von Konkurrenz- und Existenzängsten. Als Frauen ihr Recht auf ein Medizinstudium einforderten, wehrte es die Medizinische Fakultät mit biologistischer Rhetorik ab. Den "Tempel der Wissenschaften" festigten strenge Hierarchien und patriarchalische Strukturen. Doch der Versuch einer naturwissenschaftlichen Kategorisierung der Geschlechter und Ethnien misslang. Im Fin de Siècle enttarnten die Psychoanalyse, Künstler und Intellektuelle eine konservative Haltung gegenüber Juden und Frauen als Scheinwelt. Im Judentum entstand ein neues ethnisches Bewusstsein. Die beginnende soziale, intellektuelle und sexuelle Emanzipation der Frau führte 1900 zur Legalisierung des Medizinstudiums für Frauen. Die jüdische Ärztin widerlegte endgültig das Vorurteil, dass weder Frauen noch Juden zum Medizinstudium befähigt seien. Dieses Buch stellt die Frage, welche Ziele die Bildungs- und Wissenschaftspolitik in ökonomischen Krisen verfolgt und wie dadurch Veränderungsprozesse in der Wissenschaftskultur gesteuert werden können.
1 - INHALT [Seite 10]
2 - VORWORT [Seite 14]
3 - EINFÜHRUNG [Seite 16]
4 - "FREMDKÖRPER" IN DER MEDIZIN [Seite 20]
5 - I. UNIVERSITÄT ALS "HEIMAT" [Seite 21]
6 - II. BÜRGERLICHE GRUNDRECHTE UND MEDIZINSTUDIUM [Seite 49]
7 - III. URSACHEN UND FOLGEN DER WIRTSCHAFTSKRISE [Seite 68]
8 - IV. MEDIZINSTUDIUM AN "UNIVERSITÄTEN DER DEUTSCHEN NATION" [Seite 92]
9 - V. MACHTMECHANISMEN UND ERFOLGSSTRATEGIEN [Seite 120]
10 - VI. DURCHBROCHENE ROLLENMODELLE [Seite 150]
11 - VII. BILDUNGSAUFTRAG FRAUENSTUDIUM [Seite 174]
12 - VIII. BEDROHTE MÄNNERDOMÄNE UNIVERSITÄT [Seite 200]
13 - IX. INSTRUMENTE DES DEUTSCHNATIONALISMUS [Seite 230]
14 - X. ALLGEMEINE POLIKLINIK WIEN [Seite 254]
15 - XI. AKZEPTANZ UND ABWEHR DES ANTISEMITISMUS [Seite 280]
16 - XII. RHYTHMEN DER 'DEUTSCHEN' MEDIZIN [Seite 302]
17 - XIII. JUDENTUM UND MODERNE [Seite 328]
18 - XIV. KÖRPERBILDER [Seite 354]
19 - XV. ÄRZTINNEN IM ÖFFENTLICHEN RAUM [Seite 378]
20 - "DER ZEIT IHRE WISSENSCHAFT" [Seite 406]
21 - BIBLIOGRAPHIE [Seite 414]
22 - REGISTER [Seite 446]