Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Jeder Quadratzentimeter Landmasse ist entdeckt, jeder Winkel Welt identifiziert, fast jede Nische Raum erkundet. Der Globus ist bis in seine letzte Dezimale ausgeleuchtet, die Ränder sind interpretiert, die Flächen genutzt, die Strukturen erforscht. Jede Idylle ist kartografiert, jede Ruine vermarktet, jeder Berg bestiegen. Jede Achse ist vermessen, jede Grotte entdeckt, jede Wüste durchquert. Von jeder Bucht gibt es ein Foto, jedes Hochplateau ist bestiegen, in jeden Vorort schwebt Google Earth per Mausklick ein. Wenig Welt ist noch unberührt. Eventagenturen beschwören immer grenzsprengendere Extremerlebnisse, vorgebuchte Komfortpakete für organisierte Abenteuer führen bequem in die entlegensten Erdwinkel; Reiseführer liefern auf vierhundert Seiten Tipps, Routen und Highlights nun auch für Äquatorialguinea, Kamtschatka und Kiribati, und das allgemeine Bedürfnis nach der ultimativ coolsten Megadestination hat zum Geschäftsmodell von Influencern geführt, die von anderen Influencern erspähte Orte hip machen, indem sie sie für hip erklären. Je polierter eine Story gepostet wird, desto schöngefärbter wird der entsprechende Ort als Einladung zur Inszenierung.
Bevor die coronaische Pandemie die Welt ins künstliche Koma versetzte, hatten Reiseveranstalter stets verlockendere Wechsel auf portionierte Exotik ausgestellt, hatten sich immer mehr Länder und Inseln den Verheißungen des organisierten Massentourismus unterworfen und im kurz hereinspringenden Besucher die einzig verbliebene volkswirtschaftliche Existenzgrundlage entdeckt. Vor lauter Massen wurde der Massentourismus zum Overtourism, die Berichte über einheimische Bürgerwehren gegen Besucherfluten häuften sich. Und wie immer auf dem unzähmbaren Markt einer Sehnsuchtserfüllungsindustrie förderte die Ausleuchtung der letztverbliebenen Räume mit dem Ziel ihrer Kommerzialisierbarkeit seit Jahren genau das Gegenteil zutage: das Bedürfnis nach dem Authentischen und Abgeschiedenen.
Zuhause, sagen wir in Deutschland, ist jeder Quadratmeter Lebenswelt durch Vorschriften, Vorgaben und Verordnungen vorbestimmt. Jeder Bedarf scheint identifiziert, jedem Bedürfnis wird eine Dienstleistung angepasst. Die Wohlstandssubjekte arbeitsteiliger Funktionsgesellschaften wachsen in zunehmend vorgefertigten Wirklichkeiten auf - in auserzählten, von Ordnungsämtern überwachten Habitaten und regulierten Koordinatensystemen durchkalkulierter Lebenswelten, deren standardisierte Abläufe ein von vornherein bereits zu Ende definiertes Dasein nahelegen. Oder etwa nicht? Auf der Reise aber erobert der Reisende sich Wissen, ohne es zu wissen. Im Müßiggang erarbeitet er sich Weltwissen, indem es ihm widerfährt. Müßiggang ist eine andere Art Arbeit: die Wiedereroberung der Wahrnehmung, die es zulässt, die vernachlässigte Beiläufigkeit zu adeln. »Bück dich nach Nebensächlichkeiten«, riet Peter Handke, der kluge Repetitor geschulter Empfindung, in aller Öffentlichkeit wem auch immer. Bei der Eroberung einer Nebensächlichkeit muss es sich ja nicht gleich, wie bei Goethe auf seiner Italienischen Reise, um die Wiedereroberung der eigenen Identität als Künstler handeln. Und doch ist jede Reise ein Vehikel zur wachsenden Weisheit. Unter der Hand reift eine Art Wissen heran, das sich nicht durch Anwendbarkeit bewähren und auszahlen muss. Erkenntnisse sind ja nur selten rein wissenschaftliche Angelegenheiten, sondern meist nachgereichte Bewusstseinsschübe als Ergebnis einer wirkmächtigen Erinnerung. Auf Reisen räumt der Reisende dem Original den Vorzug vor der Simulation ein. So ergibt sich unbewusst und ungewusst ein anderes Wissen - ein Wissen, das, hat es die Vorläufigkeit seines eigenen Entstehens aufgespürt, zur Weisheit werden kann, wenn der Druck der Zeit keine Rolle mehr spielt.
In meinem Fall geschah das zufällig vor einiger Zeit in Norditalien.
Einmal stand ich vor dem Hotel Villa Angst und übte mich in Verklärung. Ich stellte mir vor, wie der Engländer Frederick Fitzroy Hamilton vor mehr als hundert Jahren in Bordighera an der italienischen Riviera ankam, den eleganten Flug einer Silbermöwe verfolgte und in diesem komfortvollen Grandhotel in Bordighera eine Suite bezog. Man lebte damals dort inmitten herrlich wilder Terrassen mit 50 000 Olivenbäumen, wie berichtet wird, genoss den Duft des nachtaktiven Jasmins, der afrikanischen Tamarisken und der die Luft parfümierenden Orchideen, und am Ende des Dorfs war ein kleiner Fischerhafen, zu dem ein schmaler Weg hinabführte.
Hamilton war aus London angereist. Wie so viele andere zu seiner Zeit hatte auch er Il dottor Antonio gelesen, den Roman des Chevalier Giovanni Ruffini aus dem Jahr 1855, der ihn und seine Landsleute derart erregt haben muss, dass sie, das Buch im Reisegepäck, sehnsuchtsvoll in Richtung Süden aufgebrochen waren, einem Pionierstück reiseliterarischer Romantik auf der Spur, dessen Geschichte sich wie folgt zusammenfassen lässt: Im Frühling des Jahres 1840 fährt eine von vier Pferden gezogene Kutsche die Grande Corniche entlang. In der Kabine sitzen zwei englische Touristen, Sir John Davenne und seine Tochter Lucy. Doch, ach, die Achse der Kutsche bricht in Bordighera, Miss Lucy ist verletzt, und zur Hilfe eilt: der schöne Doktor Antonio. Liebe kommt ins Spiel.
1857 in London publiziert, wurde das übersetzte Buch schnell zum Bestseller und die Blumenriviera zum Symbol des liebeslyrischen Elysiums, in dem Dattelpalmen nicht der Früchte, sondern der Schönheit ihrer Blätter wegen angebaut wurden. Zu Tausenden machten fernwehgeschmerzte Briten fortan auf der neu eröffneten Eisenbahnlinie dort Halt, wo das bel paese von der Natur verschwenderisch verwöhnt wird: in Bordighera, Provinz Imperia, Repubblica Italiana, im Angesicht des Apennin und schneebedeckter Kappen der französischen Seealpen. Bekanntlich war die Fernreise damals eine Angelegenheit der oft bildungsbürgerlich behauchten Upperclass, die das nötige Kleingeld und, zumindest im Falle der Engländer, genügend leidvolle Erfahrung mit klammer Kälte hatte, um ein vitales Interesse an milden Wintern auszubilden. Es war der Beginn einer emsigen Reiserei. Die Inselbriten wurden zu Meistern der Welterkundung, die, in Form einer pfiffigen Geschäftsidee des Baptistenpredigers Thomas Cook, schließlich den Massentourismus hervorbrachte. Seit Reverend Cook vor 150 Jahren das Reisen vom hohen Ross der Exklusivität befreit, dem Adel das Privileg der Paradieseroberung streitig gemacht und per Hotelvoucher der Unterschicht die Pauschalreise ermöglicht hatte, zeitigt die touristische Vereinnahmung der Welt zunehmend schlimmere Folgen: soziale, ökologische, kulturelle und neuerdings auch politische. Das Verhältnis zwischen Neugier und Ressourcenschädigung ist so prekär wie bekannt und empirisch gut dokumentiert. Das Dilemma des Massentourismus scheint kaum lösbar: Je mehr Exotik er für immer mehr Menschen erfahrbar macht, desto schneller zerstört er sie. Die Zerstörung der Welt durch ihre organisierte Besichtigung wird schon seit Mitte des 19. Jahrhunderts kritisiert, und die Ausschweifungen des kommerzialisierten Massentourismus werfen die berechtigten Fragen auf: Wo sind die Grenzen? Und wer legt sie mit welchem Recht fest?
In Bordighera, Via Romana, Hanglage, in der seit Jahrzehnten verfallenden Villa Angst, könnte Fitzroy Hamilton einst abgestiegen sein, verliebt in den Leichtsinn des Südens, in die Quirligkeit junger Eidechsen und das Karminrot der Gladiolen, deren Pracht mir nahezu verschwenderisch vorkam. Ich sah hinauf, wo Bordigheras Grandhotels noch immer posierten, als erwarteten sie in Kürze die alte Aristokratie in angesteifter Noblesse, und je weiter hangaufwärts ich blickte, desto freskenprächtiger und stuckfassadenreicher inszenierten sich die von herrschaftlichen Parks umgebenen Jugendstilvillen aus der Glanzzeit des Ortes - Häuser einer großen Vergangenheit, in denen dieser Tage kleine Apartments untergebracht waren.
Die grandios verfallende Villa Angst mit ihrem ramponierten Stolz dagegen, mit verrosteten Eisengittern, Plastikmüll im Vorgarten und unbeschnittenen Palmen, stand leer und, von den Weltläuften vergessen, nahezu vereinsamt. Vernarbt die Fassade, verwahrlost die Seele. Am rostbesetzten Eisengitter der Villa kuschte eine den Niedergang beweinende Katze, wie mir schien, bevor sie sich vom Straßenkehrer verscheuchen ließ. Die Belle Époque war definitiv zu Tod gekommen.
Auf dem Balkon meines Piccolo-Lido-Hotels sitzend, den Blick aufs Wasser und die himmelwärts strebenden Antennen der motorisierten Jachten, sah ich später die blau-weiß gestreiften Sonnenschirmmützen, die wie glückliche Pilze zwischen heißen Steinchen steckten, und ich hörte die Fontänen sprühenden Wassermotorräder und das anbrandende, schmatzende, in den Grobkiesel des Strandes krabbelnde Meer. Ich sah, dass der Lungomare Argentina, diese einst grandiose Seepromenade, heute den Bladern, Skatern, Gauklern und Joggern gehörte. Der Strand war liegestuhlverwaltet, sauber und ordentlich. Es knatterten Piaggios, und in den Hollywoodschaukeln wippten gebräunte Signori in wohlgemerkt glänzenden Trainingsanzügen. Wieder schloss ich die Augen und stellte mir vor, wie Frederick Fitzroy Hamilton als einer von dreitausend Untertanen Seiner Majestät Eduard VII. in Bordighera über das dunkle, mit Intarsien versehene Parkett des Grandhotels stolziert, sich in die roten Plüschpolster der dreiteiligen Couch setzt, dahinter schwere Gardinen mit buschigen Troddeln. Und wie er dann, vorbei am Ginster, an den Geranien, den Pfirsich- und Eukalyptusbäumen, in den Vorgarten mit den Heckenrosen hinabgeht, um auf der Viale Regina...
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