Schweitzer Fachinformationen
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Ein rundlicher, gemütlich aussehender Herr, passend zum Gute-Nacht-Geschichten-Motiv in Schlafanzug und Zipfelmütze gekleidet, sitzt in einem Lesesessel. In seiner Hand hält er ein monumentales Werk: Deutsche Heldensagen 1950-1960. Aus diesem Werk liest er einer Gruppe gebannt zuhörender Kinder vor: »Es war vor langer, langer Zeit - da gab es in der schönen, jedoch armen Bundesrepublik einen grossen, starken und sehr gescheiten Ludwig - alle nannten ihn den >Wirtschaftswunderpapa<«.1 Diese Szene entstammt einer Karikatur, die im November 1966 auf der Meinungsseite der Süddeutschen Zeitung veröffentlicht wurde. In der Karikatur zu sehen ist der >Wirtschaftswunderpapa< höchstpersönlich: Ludwig Erhard, Bundeswirtschaftsminister der Jahre 1949 bis 1963 und zweiter Kanzler der Bundesrepublik in den Jahren 1963 bis 1966, der seine eigene Heldengeschichte verliest. Aufgabe einer Karikatur ist es sicherlich, zu überzeichnen, zu parodieren, vorzuführen - und doch verbirgt sich hinter all dem Humor auch tiefer gehende Kritik. In seiner Karikatur spielte der Zeichner Ironimus mit der mythischen Verklärung Erhards zum erfolgreichen Wirtschaftsminister und Wirtschaftswundermann - zum Helden der bundesdeutschen Geschichte. Im November 1966 war von diesem Helden allerdings nur noch eine eher irdisch anmutende Figur zurückgeblieben. Nach drei erfolglosen Jahren im Kanzleramt stand Erhard unmittelbar vor seinem Rücktritt - doch anstatt sich der Realität zu stellen, flüchtete sich der Kanzler lieber in die Erfolge der Vergangenheit.
Betrachtet man unser heutiges Bild von Ludwig Erhard, so scheint die Karikatur kaum an Bedeutung eingebüßt zu haben: Heute, über 70 Jahre nach Gründung der Bundesrepublik, ist Ludwig Erhard in seiner Funktion als Bundeswirtschaftsminister und als >Vater des Wirtschaftswunders< und der Sozialen Marktwirtschaft fest im kollektiven Gedächtnis der Bundesrepublik verankert.2 Die Kanzlerschaft Erhards scheint hingegen als relativ unbedeutende >Übergangs<-Phase in Vergessenheit geraten zu sein. In einem Sammelband über die Kanzler der Bundesrepublik heißt es entsprechend, Erhards Kanzlerzeit »wirkt heute eher wie das entbehrliche Accessoire einer Lebensleistung, die ansonsten für die Geschichte der Bundesrepublik unentbehrlich ist.«3
Wie unentbehrlich der Bundeswirtschaftsminister Ludwig Erhard für die Geschichte der Bundesrepublik immer noch ist, zeigte sich insbesondere in den letzten Jahrzehnten, in denen die Bundesrepublik ein regelrechtes Wundermann-Revival erlebte, beflügelt von Jubiläen wie dem 100. Geburtstag Ludwig Erhards (1997) - im Jahr 2022 hätte er seinen 125. Geburtstag gefeiert -, dem 70-jährigen Jubiläum der Bundesrepublik Deutschland (2019) und damit eng verknüpft dem 70-jährigen Bestehen der Sozialen Marktwirtschaft (2018). Im Zuge dieser Jubiläen wurden Ludwig Erhard posthum zahlreiche Ehrungen zuteil, die von großen Ehrerbietungen bis hin zu kleinen Gesten reichten: Das Bundeswirtschaftsministerium benannte seine Aula in Ludwig Erhard Saal um, während die Deutsche Bahn einen ihrer ersten ice 4-Züge auf den Namen >Ludwig Erhard< taufte.4 In Fürth, der Heimatstadt Erhards, eröffnete im Jahr 2018 das >Ludwig Erhard Zentrum<, erbaut für 17 Millionen Euro, welches für sich beansprucht, das bedeutsame Wirken und die Verdienste des Wirtschaftswundermannes Erhard ins öffentliche Bewusstsein zu rücken und an die Nachwelt weiterzugeben.5 Auf Werbeplakaten des Museums, die ein übergroßes Abbild Erhards mit Baseballcap zeigen, ist zu lesen: »Alles andere als von gestern«.6
Auch in politischen Debatten ist der Wundermann Ludwig Erhard omnipräsent, zumal auffällig ist, dass die politische Verortung hier kaum eine Rolle spielt. Grüne, Linke, spd und fdp verlesen die Heldengeschichte des >Vaters des Wirtschaftswunders< und der Sozialen Marktwirtschaft ebenso überzeugt wie die Partei Erhards, die cdu.7 Denn Ludwig Erhard - dessen Parteizugehörigkeit bereits zeitlebens diskutiert wurde - gilt heute parteiübergreifend als politisches Markenlogo des wirtschaftlichen Erfolgs.8 Die Frankfurter Allgemeine Zeitung kommentierte dies mit den Worten:
»Überall, wo Politiker eine Rede mit zumindest einem Hauch wirtschaftspolitischen Bezugs halten, ist auch Ludwig Erhard vor Ort. Dabei ist ziemlich egal, wer spricht: Der Wirtschaftspolitiker, der sich nicht für den >wahren Erben Ludwig Erhards< hält, muss erst noch erfunden werden - auch außerhalb von cdu und fdp.«9
Quelle: LEZ Werbeplakat © Stiftung Ludwig-Erhard-Haus
Quelle: LEZ Neubau © Stiftung Ludwig-Erhard-Haus / Ken Schluchtmann
All diese Beispiele verdeutlichen, dass die Geschichte der Gegenwart - wie Michel Foucault feststellte - immer auch beeinflusst ist von unserer Erinnerung der Vergangenheit.10 Die Vergangenheit ist in Bezug auf unsere Gegenwart nicht nur deren untrennbare Vorgeschichte, sondern auch eine Ansammlung historischer Fragmente, die uns helfen, unsere Gegenwart zu verstehen, die uns zugleich aber auch die Willkürlichkeit des Zustandekommens unserer gegenwärtigen Situation verdeutlichen.11 Foucault folgend ist unsere gegenwärtige Erinnerung Ludwig Erhards somit auch Ausdruck unserer gegenwärtigen Erinnerung bundesrepublikanischer Geschichte. Denn die mythische Verklärung Ludwig Erhards zum >Vater des Wirtschaftswunders< und der Sozialen Marktwirtschaft bietet eine vereinfachte und zugleich positive Erzählung darüber, wie die Bundesrepublik zu dem wurde, was sie heute ist.12 Während das Wirtschaftswunder als Gründungsmythos auf den Fleiß und Willen der Deutschen verweist und den Auftakt einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte markiert, ist die Soziale Marktwirtschaft als flankierende und bis heute gültige Wirtschaftsordnung dieser Erfolgsgeschichte zur »dauerhaften Erfolgserzählung« avanciert - und dies nicht nur über innerdeutsche Parteigrenzen hinweg, sondern auch weit über die Landesgrenzen der Bundesrepublik hinaus.13 In der Person Ludwig Erhards wird diese Erfolgsgeschichte der Bundesrepublik Deutschland - werden das Wirtschaftswunder und die Soziale Marktwirtschaft - personalisiert.14 Die plakative These des Wirtschaftshistorikers Werner Abelshauser, nach der deutsche Geschichte seit 1945 vor allem Wirtschaftsgeschichte sei,15 ließe sich insofern ergänzen: Bundesdeutsche Wirtschaftsgeschichte ist vor allem Ludwig Erhard - zumindest auf einer symbolischen Ebene. In ihrer Rede anlässlich der Feierlichkeiten zu 60 Jahren Soziale Marktwirtschaft betonte Bundeskanzlerin Angela Merkel:
»Wir feiern eine der wirkungsmächtigsten positiven Zäsuren, die unser Land erlebt hat. Vor 60 Jahren erhielt die Freiheit in unserem Land ihre wirtschaftliche Grundlage. Wir feiern den politischen Mut, mehr Freiheit zu wagen und zu gewinnen. Wir feiern einen großen Gestalter unseres Landes und seine Gabe, die Menschen selbst zu Gestaltern ihres Schicksals zu machen. Wir feiern die Soziale Marktwirtschaft und mit ihr den Mann, der sie prägte und durchsetzte: Ludwig Erhard.«16
Wie in diesem Zitat ersichtlich, fungieren politische Mythen als »Interpunktionen und Ligaturen der Geschichte, die Vertrauen und Zuversicht stiften sollen«.17 Im Mythos, so stellen Herfried Münkler und Jens Hacke heraus, »wird die schlichte Faktizität des Geschehens narrativ und semantisch aufbereitet, sie wird mit Sinn und Bedeutung aufgeladen, durch die Vergangenheit und Zukunft miteinander verbunden werden.«18 Gleiches lässt sich auch für den Mythos des Wundermannes Ludwig Erhard festhalten, der einerseits der historischen Begründung bundesrepublikanischer Identität dient, andererseits aber auch eine nostalgische Erinnerung des wundersamen Aufstiegs der Bundesrepublik fördert - des »goldenen Zeitalters« der kapitalistischen Entwicklung.19 So fragte auch Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer ersten Regierungserklärung 2005: »Warum soll uns das, was uns früher und was uns zu Beginn dieser Bundesrepublik Deutschland, in den ersten Gründerjahren, gelungen ist, heute, in den - wie ich sage - zweiten Gründerjahren, nicht wieder gelingen?«20
Im politischen Kontext geben Mythen somit »Orientierung«, während sie zugleich »Elemente von Wahrheit und Lüge« enthalten.21 Politische Mythen zielen demnach weniger auf »historische Wahrheit«, als vielmehr auf...
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