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Jan Merk / Katharina Richter / Thomas Schmidt
Zur Geschichte und Atmosphäre einer literarischen Landschaft
Vom Belchen aus wacht Johann Peter Hebel über die Geschicke des Markgräflerlandes, des Breisgaus und des Hochschwarzwaldes. Er ist der literarische Schutzpatron Südbadens. Als der 31-jährige Präzeptoriatsvikar - Hilfslehrer würde man heute sagen - im Jahr 1791 mit seinem Freund Hitzig den vierthöchsten Gipfel des Schwarzwaldes erklomm, war eine solche Wanderung noch sehr ungewöhnlich. Eine Tourismuskultur mit Karten, Wegweisern und Ortsbeschreibungen gab es damals noch nicht einmal im Ansatz. Hebel und Hitzig mussten sich im unwegsamen Gelände auf einen Führer verlassen. Ganz abgesehen von einer Gefährdung durch Wegelagerer, machte man sich damals verdächtig, wenn man längere Strecken ohne Pferd oder Kutsche zurücklegte. Wer nämlich vor 1800 aus freien Stücken die Reise zu Fuß wählte, verletzte die Konventionen der Ständegesellschaft. Die Fußreise war damals Sache der unteren Schichten, zuallererst der Handwerksgesellen, denen die Zunftordnungen eine mehrjährige Abwesenheit von ihrem Heimatbezirk verordneten, aber auch der Kleinhändler, Hausierer, Tagelöhner - und der Nichtsesshaften. Hebel und Hitzig waren in gewisser Weise Vorläufer, denn sie deuteten das Wandern zu einem Aufbruch ins Unbekannte um, zu einer freien Form der Weltbegegnung und der naturnahen Selbstbildung.
War die Wanderung für Hebel aus sozialen Gründen eine heikle Angelegenheit, so deren Steigerung ins Bergwandern auch aus infrastrukturellen und vor allem aus physiologischen. So etwas konnte er noch nie erlebt haben, nicht nur, was die faszinierenden Ausblicke, sondern auch, was das körperliche Erleben betraf. Nach mehr als 30 Kilometern Fußmarsch noch fast 1000 Höhenmeter zu überwinden, war in einer Zeit, in der die Mediziner einen gemäßigten Umlauf der Säfte empfahlen, ein unüblicher Grenzgang. Der Alpinismus hatte eben erst begonnen. Sein Anfang wird gemeinhin auf das Jahr 1786 gesetzt und mit der Erstbesteigung des Montblanc verbunden, den die beiden Freunde fünf Jahre später bei guter Sicht vom Belchen aus gesehen haben könnten; ebenso wie das Straßburger Münster ganz im Norden, mit dem Hebel den Berg mehrfach verglich: 1805 vermerkte der Dichter nach dem Besteigen des Münsters, er sei soeben »auf dem Belchen aller Kirchthürme« gewesen, und im gleichen Atemzug nannte er den Belchen »das Straßburger Münster aller Berge«.
In seinem Hymnus >Ekstase< macht Hebel den Belchen gar zur »erste[n] Station von der Erde zum Himmel« und erhebt ihn zum »Altar« der Freundschaft. Dieses Gedicht zeigt, wie tiefgreifend die Wandererfahrung für Hebel gewesen sein muss. Hier haben sich ungeahnte körperliche Extremerfahrungen und intensive sinnliche Eindrücke zu einem rauschhaften, quasireligiösen Naturerleben verbunden. Von nun an hatte Hebel »den Blick zum Belchen gewendet«.
Kurz nach der »Belchenwallfahrt« mit Hitzig wird Hebel als Lehrer an jenes Karlsruher Gymnasium berufen, an dem er selbst gelernt hatte und dessen Leitung er später übernehmen sollte. Dort, weit vom Belchen entfernt, wird sein Aufstieg zum Professor, Rektor, Prälat der Landeskirche und Abgeordneten der Ersten Kammer des Landtages beginnen. Dort wird auch seine Karriere als Schriftsteller einsetzen und ihm durch die >Biblischen Geschichten<, durch das >Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes<, vor allem aber durch die >Alemannischen Gedichte< einen Platz auf dem »Parnaß« der deutschen Literatur einbringen, wie Goethe es formulierte.
In Hebels alemannischen Versen wird der Belchen gar zum wichtigsten Orientierungspunkt: im Gedicht >Die Vergänglichkeit<, das zu den einzigartigen Werken der deutschen Literatur gezählt werden kann. Es ist ein Nachtgedicht in Mundart, geschrieben im damals anspruchsvollsten Metrum für Gespräche, im Blankvers; ein Lehrgedicht über die letzten Dinge, in dem jedoch nicht zwei Weise debattieren, sondern ein Bauer seinem Sohn schonungslos die Unbeständigkeit alles Seienden vor Augen führt. Zuletzt werde die ganze Erde zerstört sein und der »Bueb« von einer verborgenen Stadt im Himmel hinuntersehen und zu einem wie selbstverständlich anwesenden Freund sagen: »Lueg, dört isch d'Erde gsi, und selle Berg / het Belche gheiße« (Sieh, dort ist die Erde gewesen, und dieser Berg / hat Belchen geheißen). Obgleich der Berg also seinen Namen verloren hat, liefert er auch nach dem Weltenbrand, bei dem die christliche Jenseitsvorstellung auf unorthodoxe Weise im Hintergrund bleibt, den zentralen Bezugspunkt. Der Belchen ist Hebels Berg, ein Berg der Gelassenheit, ein Berg der Freundschaft, ein Berg der Hoffnung und des Trostes. Durch Johann Peter Hebel wurde der Belchen zum literarischen Hausberg einer ganzen Region.
1791: Es war ein Abenteuer. Es war mühsam. Es wurde zum Glücksgefühl. Nie zuvor hatte Hebel so etwas getan. Er hatte den Belchen bestiegen. Folgt man heute seinem Weg auf den Berg, kann man - wie er damals - den Blick frei schweifen lassen: von den stets schneebedeckten Alpengipfeln und der großen Stadt Basel, in der Hebel geboren wurde, im Süden über die Vogesen gegenüber, die mit dem Grand Ballon auch ihren Belchen haben, bis hin zum »Belchen aller Kirchthürme«, dem Straßburger Münster, das sich im Norden hinter dem Kaiserstuhl zeigt. Und weiter über den ganzen Hochschwarzwald mit seinem höchsten Berg, dem Feldberg, auf dem das von Hebel ebenfalls bedichtete Flüsschen Wiese entspringt.
Wie Hebel auf dem Belchen, so machte Vladimir Nabokov auf dem Feldberg eine intensive Höhenerfahrung, als er 1925 - aus Stalins Sowjetreich exiliert - die 1493 Meter erklomm und in den großen Schwarzwaldtannen seine russische Heimat wiedererkannte. Edmund Husserl hingegen, der große Philosoph und Lehrer Martin Heideggers, ließ weiter nördlich, im hoch gelegenen St. Märgen, frei von körperlicher Belastung, seine Gedanken schweifen und entwickelte in der Sommerfrische seine phänomenologische Philosophie weiter. In Bollschweil, südlich von Freiburg und am Ausgang des Hexentals, hatte Marie Luise Kaschnitz, die Grande Dame der deutschen Nachkriegsliteratur, ihre »Herzkammer der Heimat«. Mit >Beschreibung eines Dorfes< ebnete die Weitgereiste dem Ort, aus dem ihre Familie stammt, einen Platz in der Literaturgeschichte; und sie lässt die Landschaft, ja die gesamte oberrheinische Tiefebene auf eine völlig neue Weise lebendig werden: »wenn sich die Gebirge wie ängstliche Hunde gegen den Boden drücken, während die Könige des Flachlandes, Mais, Weizen und Tabak, ihre Häupter erheben«. Auch René Schickele machte aus der Rheinebene Literatur. Bei ihm, einem der - ganz in Hebels Sinne - weltoffensten und tolerantesten Autoren, die hier, im Kurort Badenweiler nämlich, ihre Spuren hinterlassen haben, werden »[d]as Land der Vogesen und das Land des Schwarzwaldes« zu »zwei Seiten eines aufgeschlagenen Buches«, das der Rhein nicht trennt, sondern wie ein »Falz« verbindet.
Badenweiler als weitbekannter Kurort für Atemwegserkrankungen zog die Weltliteratur an. 1904 starb hier der berühmte Dramatiker Anton Tschechow an Tuberkulose; 1900 hatte den jungen Stephen Crane bereits dasselbe Schicksal ereilt. Mit seiner Tschechow-Gedenkkultur wird der Ort zu einem literarischen Zentrum des Markgräflerlandes: Hermann Hesse kurierte sich dort ab 1909; René Schickele und Annette Kolb zogen nach dem Ersten Weltkrieg ganz dorthin. Eine kleine Maler- und Dichterkolonie bildete sich - mit Blick auf Frankreich, sodass nach 1945 sogar das Künstlerpaar Ré und Philippe Soupault mehrmals aus Paris kam, um die Vorzüge des milden Klimas zu genießen.
Der Landkreis Breisgau-Hochschwarzwald, der auf der Karte zwei Lungenflügeln ähnelt, die das geistige Zentrum Freiburg umschließen, ist eine Region des Wortes, des Erzählens, des Buches - eine Region der Literatur. Bereits im Mittelalter finden sich hier - nicht zuletzt wegen der vielen Klöster - bedeutende literarische Zeugnisse: Nonnen wie Anna von Munzingen verfassten Chroniken im Geiste der Mystik; Brunwart von Augheim versuchte sich in Neuenburg am Hohen Minnesang, und Jörg Wickram schuf am Kaiserstuhl mit dem >Rollwagenbüchlein< launige Erzählungen, die damals die Kutschfahrt zu verkürzen halfen. Im ersten deutschsprachigen Roman der Weltliteratur, Grimmelshausens >Simplicissimus<, wird die Belagerung von Breisach im Dreißigjährigen Krieg erzählt und die Region zwischen Schwarzwald und Rhein damit auch literarisch auf den konfliktreichen Weg in die Neuzeit gebracht. Die Revolution von 1848 hinterlässt in den Büchern von Amalie Struve, die ihrem Mann, dem Revolutionsführer Gustav Struve, im Badischen zur Seite stand, ihre Spuren. Wie kein Zweiter registrierte der Erfolgsschriftsteller Heinrich Hansjakob, durch 1848 geprägter radikaler Demokrat, Pazifist und freigeistiger katholischer Geistlicher mit antisemitischen Ressentiments, um 1900 den Einbruch der Moderne in den beschaulichen Schwarzwald. Zur Zeit des Nationalsozialismus versteckten sich die spätere Hebelpreisträgerin Lotte Paepcke und der renommierte Publizist Benno Reifenberg vor den Schergen des Regimes im Hochschwarzwald, während der damals hochdekorierte Hermann Burte in Reden und Mundart-Gedichten die NS-Ideologie feierte. Am Ende des Zweiten Weltkrieges suchte der expressionistische Lyriker Kurt Heynicke, der die Region von Ferienaufenthalten kannte, in Merzhausen Zuflucht vor den Bombardements auf Berlin. Er blieb bis zu seinem Lebensende...
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