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IRINA SCHERBAKOWA
Im Dezember 2022 erhielt Memorial International zusammen mit der ukrainischen Menschenrechtsorganisation Zentrum für bürgerliche Freiheiten und Ales Bjaljazki, dem Gründer der belarussischen Menschenrechtsorganisation Wjasna, den Friedensnobelpreis. Dies war unzweifelhaft die höchste Würdigung, die unsere langjährige Tätigkeit je erfahren hat. Doch zur selben Zeit, als das Nobelpreiskomitee die Preisträger bekannt gab, saßen Mitarbeiter von Memorial in einem Moskauer Gerichtssaal. Die Verhandlung endete mit der Anordnung, das Gebäude der Memorial-Zentrale zu beschlagnahmen und in Staatseigentum umzuwandeln. Schon zuvor hatte das Oberste Gericht der Russischen Föderation die Auflösung von Memorial International verfügt - Ende Februar, nur wenige Tage nach Beginn des Großangriffs auf die Ukraine.
Jetzt hatte man uns auch noch das Haus genommen, wo nicht nur die Büros zahlreicher Mitarbeiter, sondern auch die über viele Jahre hinweg aufgebauten Archive untergebracht waren und wo Ausstellungen und Veranstaltungen viele Besucher angezogen hatten. Bei aller Freude über die Auszeichnung war dies für uns ein aufwühlender Moment. Unsere Arbeit und unser Leben würden nie wieder sein wie zuvor.
Umso mehr haben wir heute Anlass, uns den Weg, den wir in diesen dreißig Jahren gegangen sind, immer wieder in Erinnerung zu rufen. Nicht um uns der Verzweiflung zu überlassen, auch wenn es Grund dazu gibt, sondern um besser verstehen zu können, was unter den neuen Verhältnissen unsere Aufgabe ist.
Warum hat die überwiegende Mehrheit der russischen Gesellschaft sich von den Ideen losgesagt, in deren Namen Memorial 1989 gegründet wurde - «Frieden, Fortschritt, Menschenrechte»?[1] Warum hat sie die Idee der historischen Wahrheit verschmäht und ist bereitwillig der russischen Staatsführung gefolgt, die einmal mehr die Geschichte umschreibt und Stalin heroisiert? Diese Führung rechtfertigt nicht nur einen Eroberungskrieg mit der «großen» geopolitischen Vergangenheit, sondern suggeriert der Bevölkerung auch unaufhörlich, es gebe für sie keine andere Zukunft als die Rückkehr in dieses imaginäre Gestern. Dazu nutzt sie ein Arsenal abenteuerlicher historischer Mythen, Zitate wirrer Philosophen und Verschwörungstheorien - also all das, was Putin in seinen Artikeln und Reden als «Geschichte» bezeichnet. Doch beginnen wir beim Ende der 1980er Jahre, als die Situation noch ganz anders aussah.
Memorial ist aus der ersten breiten gesellschaftlichen Bewegung in den Jahren 1987/88 hervorgegangen, deren Ziel es war, den Opfern des kommunistischen Regimes zu historischer Gerechtigkeit zu verhelfen und die jahrelange Unterdrückung der Wahrheit über die Verbrechen der sowjetischen Führung zu beenden.
In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte die sowjetische Gesellschaft eine humanitäre Katastrophe durchgemacht. Sie erlebte Massenterror, der alle sozialen Schichten betraf, gewaltsame Kollektivierung und staatlich organisierten Hunger, einen furchtbaren Krieg mit ungeheuren Verlusten an Menschenleben, Zwangsarbeit in den Lagern und die Deportation ganzer Völker. Millionen sowjetischer Menschen waren Opfer, Zeugen, Beteiligte oder Initiatoren von Staatsverbrechen. Doch ihre Erfahrungen blieben viele Jahre lang unter dem Mantel des Schweigens verborgen. Nach Stalins Tod 1953, als die sogenannte Tauwetterzeit anbrach und Chruschtschow auf dem 20. Parteitag der KPdSU den «Personenkult» anprangerte, wurden erstmals Stimmen laut, die Zeugnis von dem ablegten, was die Stalin-Ära ausgemacht hatte: den Massenrepressionen und dem Gulag-System. Mit Breschnews Machtantritt Mitte der 1960er Jahre wurde der Prozess der Entstalinisierung jedoch gestoppt. Es war nun wieder verboten, die Repressionen zu thematisieren. Jahrelang kamen sie nur in der inoffiziellen oder im westlichen Ausland verlegten Literatur («Samisdat» und «Tamisdat») zur Sprache, die dem breiten Publikum nicht zugänglich war. Und gerade die Literatur war von größter Bedeutung, um die Erinnerung an den Terror wachzuhalten, insbesondere die biografischen Zeugnisse der ehemaligen Gulag-Insassen.
In der Sowjetunion regte sich in der poststalinistischen Zeit kein nennenswerter Widerstand gegen das Regime. Es kam nicht zur Gründung einer unabhängigen Gewerkschaft, wie es die Solidarnosc in Polen war. Arbeiterproteste flammten nur punktuell und spontan auf, so etwa 1961 in Nowotscherkassk, wo Protestaktionen gegen die Erhöhung von Preisen und Arbeitsnormen brutal unterdrückt wurden. Dissidente Haltungen blieben - mit Ausnahme der Unabhängigkeitsbewegungen in den baltischen Unionsrepubliken und der Westukraine - auf einen engen Kreis beschränkt. In den 1960er Jahren entstand jedoch eine breite urbane wissenschaftlich-technische Bildungsschicht. Viele ihrer Vertreter waren an einer Kultur interessiert, die eine Alternative zur staatlichen Propaganda zu bieten hatte. Diese Kultur brachte Werke hervor, die im besten Fall sogar unter Zensurbedingungen den offiziellen ideologischen Rahmen sprengten. In jedem Fall humanisierten sie das gesellschaftliche Bewusstsein, indem sie den Wert des Menschen in den Mittelpunkt rückten. Ebendiese technische Intelligenz war der Motor der Perestroika, was in Russland heute keine Erwähnung mehr findet, schon gar nicht bei denen, die diese Zeit dämonisieren und die Ereignisse von 1989 bis 1991 als Ergebnis einer «Verschwörung» gegen die UdSSR betrachten. Unterstützung für Gorbatschows Reformen kam vor allem aus der Leserschaft der in Millionenauflagen verbreiteten «dicken Zeitschriften», in denen ab der zweiten Hälfte der 1980er Jahre zuvor verbotene Literatur und aktuelle Perestroika-Publizistik erschienen. Sie bildete die Basis einer gesellschaftlichen Bewegung, die nicht nur mit dem Stalinismus, sondern mit der kommunistischen Vergangenheit insgesamt abrechnen wollte. Die soziale Zusammensetzung dieser Bewegung erklärt zu einem großen Teil, warum unter denen, die damals zu Tausenden für die Reformen auf die Straße gingen, nur wenige junge Leute der Geburtsjahrgänge um 1970 waren. Sie waren in einem Klima des Zynismus, Doppeldenk und Opportunismus aufgewachsen und taten sich schwerer damit, sich politisch zu positionieren.
Als Memorial 1989 gegründet wurde, war es nach vielen Jahrzehnten die erste unabhängige Vereinigung, die in der Sowjetunion offiziell zugelassen wurde. Ihre Mitglieder forderten, die Geheimarchive zu öffnen, die vom kommunistischen Regime verübten Verbrechen gesetzlich zu verurteilen, die Repressionsopfer zu rehabilitieren und ihrer öffentlich zu gedenken. Diese Einstellung wurde damals allem Anschein nach von vielen geteilt.
Wer waren die Leute, die Memorial gründeten? Sie waren keine Fachhistoriker, sondern gesellschaftliche Aktivisten verschiedener Alters- und Berufsgruppen mit unterschiedlichem Erfahrungshintergrund. Einige hatten unter Stalin in den Gulag-Lagern gesessen. Andere, wie der Gründungsvorsitzende Andrei Sacharow, der Biologe Sergei Kowaljow, die Mathematikerin Larissa Bogoras und der Philologe Arseni Roginski, waren Dissidenten und gerade erst aus dem Lager oder der Verbannung zurückgekehrt. Auch ganz junge Doktoranden und wissenschaftliche Mitarbeiter gehörten dazu.
Memorial bestand von Anfang an aus mehreren untereinander vernetzten Organisationen. Zur Gründungskonferenz im Januar 1989 reisten über tausend Menschen aus den damaligen Unionsrepubliken an. Nach dem Zerfall der Sowjetunion waren die Memorial-Organisationen in den neuen unabhängigen Staaten weiter aktiv. Auch in anderen europäischen Ländern wurden Memorial-Gesellschaften gegründet: in Deutschland, Italien, Frankreich und Tschechien. Es entstand ein internationales Netzwerk - nicht nur, weil in den Lagern des Gulag-Systems Menschen verschiedener ethnischer und nationaler Herkunft gesessen hatten, sondern vor allem, weil die humanitäre Katastrophe, die das kommunistische Regime herbeigeführt hatte, ein...
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