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Ihre Temperatur war gesunken, sie verfiel in ihr übliches Lesefieber. Sie hätte schwören können, dass sie Houellebecqs Roman Anéantir - auf Deutsch Vernichten - eingesteckt hatte, sie durchsuchte ihren kleinen Koffer, sichtete die zwei Regale des ihr zugedachten Schranks und fand zwar einen anderen Roman, aber nicht Anéantir. Ihr Verlangen nach diesem Buch wuchs eruptionsartig. Sie hatte es zu Hause schon gelesen und war von der ersten Seite an fasziniert gewesen. Sie wollte es jetzt wieder lesen und ein Buch über dieses Werk schreiben, nein, eher ein eigenes Buch in Anlehnung daran, besser gesagt, irgendetwas in der Gesellschaft dieses Buchs schreiben, sie wusste nicht genau, was sie wollte, nur nicht allein schreiben, nicht in der Einsamkeit ihres eigenen Ichs. Paul, der Protagonist in Vernichten, hatte zwar Krebs, und sein Tod am Ende des Buchs ist leider unabwendbar, dennoch schien er ihr der beste Begleiter im Klinikum und beim eigenen Schreiben zu sein. Nun, was konnte sie jetzt tun? Sie versuchte, sich in einen anderen Roman zu vertiefen. Sie las brav einige Seiten, aber die Lektüre schmeckte so wenig wie der Krankenhausfraß. Sie rief eine Nachbarin an, die ihre Hausschlüssel besaß, und bat sie, nach dem Buch zu suchen und es per Boten zu schicken. Die Nachbarin war alt und fuhr keine längeren Strecken mehr, schon gar nicht zu einem Krankenhaus. Sie ging aber zu Irènes Haus, schaute gewissenhaft überall, kroch trotz ihres hohen Alters auf allen vieren, um unter das Bett zu spähen, wühlte im Chaos von Irènes Arbeitszimmer und rief zurück: Houellebecq war unauffindbar. Dann erzählte sie akribisch vom eigenen Befinden und von Rückenschmerzen. Irène kochte vor Ungeduld.
Sie hing gerade am Tropf und wartete auf das Ende der Kortisoninfusion, surfte indessen im Internet. Das Wort des Tages bei Duden war fußläufig. Bald konnte sie sich anziehen, zum Aufzug B3 gehen, dann ins Parterre fahren. Auf einem gelb-apfelgrün-schwarz gestreiften Teppichboden lief sie an einer langen Glaswand vorbei. Dahinter lag ein dunkelgrün bepflanzter Innenhof, wo zwei Menschen in blauen Kitteln schwebten oder dümpelten, zwei Wesen in einem Aquarium. Sie gelangte zum Empfang, wo sie eine Hauptbahnhof- bzw. Flughafenstimmung einfing. Die Uniklinik war Krankenhaus, Universität, Forschungslabor und noch mehr, ein interdisziplinäres Riesengebäude, daher dieses wimmelnde Leben überall. Sie stand unter angezogenen Menschen, erstarrte eine Minute vor den Rolltreppen, fixierte eine große, runde hängende Uhr, fünf vor fünf, schaute oben zu ihrer Linken auf eine Pferdestatue, wie fast alles hier schwefelgelb und grün, mit der Farbe der Hoffnung hatte man nicht gegeizt. Es wurde ihr schwindelig, sie streckte einen Arm aus zu einer imaginären Stütze, hielt sich am Nichts fest und blickte erneut auf die Uhr: immer noch fünf vor fünf. Sie schaute eine Zeit lang hypnotisiert darauf, wusste nicht, was sie darin sah, ein Auge, ein Zyklopenauge, ein Gesicht, ihr Gesicht, sie guckte, zählte, immer noch fünf vor fünf, eine lethargische Sekunde, eine erstarrte Sekunde, ihr Herz kam aus dem Takt, in ihrem Kopf tickte es falsch, in diesem funktionalen Gebäude spielte eine Uhr verrückt, ein Gag der ansonsten rationalen und klugen Architekten und Bauingenieure? Der Anspruch an ein ganzheitliches Konzept konnte allerdings bizarr und befremdend wirken, das Gebäude sah gar nicht aus wie ein Krankenhaus. Sie hob den Blick zu der Metallkonstruktion an der Decke, dann wieder zur Uhr, immer noch fünf vor fünf, die Zeit war also stehen geblieben. »Dreh dich nicht um«, flüsterte Johann, »jammere nicht um die vertane Zeit. Jede Zeit ist vertan, wenn man all die Dinge betrachtet, die man nicht gleichzeitig machen kann.« »Ich weiß nicht, warum du mir das sagst«, antwortete sie, »meine kleine Macht liegt nur darin, in die Zeit Zäsuren hineinzuwerkeln, ein >Davor< und ein >Danach< zu erfinden: Davor war ich gesund, danach war ich krank, davor war ich krank, danach war ich gesund, davor war ich verheiratet, danach war ich verwitwet.« Sie blinzelte: Drei vor fünf, sie hatte sich verlesen. War ihr Sehvermögen von der Meningitis angegriffen? Sie streckte wieder einen Arm nach der imaginären Stütze aus (einem grünen Baumzweig), konnte das Gleichgewicht wiederherstellen. Den Trick hatte sie auch in den Bergen angewandt, als es ihr am Rand eines Abgrunds schwindelig wurde. Drei vor fünf. Ein junger Mann, der die Rolltreppe nehmen wollte, hielt an und fragte, ob alles in Ordnung sei. Sie sagte, ja, sie suche nur die Cafeteria. Manchmal log sie ohne Not, einfach so, aus dem Gefühl heraus, gerade der Satz, der einem herausrutschte, sei vom Zuhörer erwartet worden. Und wer wollte nicht den Erwartungen eines Menschen entsprechen, der einem körperlich so nahe stand wie dieser junge Mann mit den leuchtenden schwarzen Augen und der sanften Bassstimme, ein Medizinstudent vielleicht, der seinen Weg unterbrochen hatte und sich leicht zu ihr geneigt mit einem fremden Akzent um ihre Gesundheit sorgte? Oder sie hatte den Satz »Ich suche die Cafeteria« formuliert, um in die Normalität einzutreten, die sorgenlose Banalität der Gastronomie, und ja, sie könnte sich in der Tat an einen Tisch setzen, eine warme oder kalte Schokolade trinken, die Beine ausstrecken, aufatmen und verschmitzt die Menschen beobachten, die sich hier und da auf dem gelb-grün-schwarz gestreiften Teppich bewegten. Nur dass sie keine Lust auf eine warme oder kalte Schokolade hatte und es nicht mochte, allein in einem Lokal zu sitzen vor einer warmen oder kalten Schokolade. »Hier«, sagte der junge Mann, »direkt hier zu Ihrer Rechten.« Er zeigte auf eine Balustrade, eine Art Balkon, er lächelte, sie auch, die Begegnung der zwei lächelnden Gesichter hätte überall passieren können, dachte sie, nicht nur in diesem Krankenhaus, das nicht wie ein Krankenhaus aussah, sie war in einem dystopischen oder utopischen Film angelangt. Sie riss sich von der Anziehung der Uhr los, drehte sich zu einer Gruppe von fröhlichen jungen Leuten hin, die auf einen Hörsaal zusteuerten, betrat dann einen Laden mit Zeitschriften, Süßigkeiten, Schreibwaren und wenigen Taschenbüchern. Vernichten war nicht dabei. Sie kaufte Zeitungen, einen Schreibblock, einen Bleistift, sie mochte Bleistifte und das Wort Bleistift, und es blieb ihr nichts anderes übrig, als wieder in ihr Zimmer zurückzukehren. Sie hatte sich zwar den Namen der Station und die Etage gemerkt, die Flurnummer aber nicht. So fuhr sie mit dem falschen Aufzug in die achte Etage, irrte durch verschiedene Gänge, setzte sich ein paar Minuten auf einen Stuhl, betrachtete schwer atmend den Teppichboden. Wie das ganze Haus stand auch er unter Denkmalschutz. Vielleicht sollte sie da immer wohnen bleiben. Nicht weit von ihr unterhielten sich zwei Ärztinnen. Sie hätte gern das Gespräch belauscht, aber die zwei waren zu leise. Sie erhob sich mühsam, drehte sich wieder im Kreis, kroch müde auf Gelb-Grün-Schwarz, entschied, wieder hinunterzufahren und am Empfang den Namen der Patientin Irène Dumont anzugeben. Man überreichte ihr ein Zettelchen mit den nötigen Anweisungen. Endlich konnte sie sich zu ihrem Zimmer schleppen und fiel erschöpft ins Bett. Die junge Frau im Nebenbett hatte Besuch von einem jungen Mann. Sie warf Irène einen verärgerten Blick zu, aber Irène war zu müde, um wieder aufzustehen. Sie stellte sich schlafend.
Begehren macht müde. Sie sollte auf das Buch von Houellebecq verzichten und die schönen Augenblicke ihres Lebens mit Johann, ihrem kürzlich verstorbenen Mann, wachrufen. Papageienmenschen behaupten, man solle nicht nach hinten, sondern nach vorn schauen. »Vorn« sah eher wie ein Tunnel mit fragwürdigem Ende aus. »Hinten« war gemischt, aber man konnte sich ein paar schöne Momente herauspicken. Sie konnte sich die Zeit der Jugend zurückrufen, das Jahr, als der junge Johann und sie räumlich getrennt lebten, sie in Lyon, er in Frankfurt, und sie sich leidenschaftliche Briefe schrieben, die sie vor Kurzem auf dem Dachboden gefunden hatte. Wie gepflegt sein Französisch war, wie klar seine Schrift, wie zärtlich seine Worte! Sie dachte sich in die Liebe zurück und in die letzten gemeinsamen Urlaubsreisen. Blätterte im Bilderbuch der ersten Jahre, die Aufregung der ersten Küsse, des ersten Schmusens in einer Kneipe (der Wirt hatte sie zur Ordnung gerufen), sie katapultierte sich in eine Karnevalsfete mit Freunden, lief auf einem Wanderweg im Spessart, wollte die Zeit der Gesundheit, die Lebensabschnitte...
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