Schweitzer Fachinformationen
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Lasst uns mit dem Schwersten anfangen - mit dem Gesang
und dem Löschen des Feuers
das in der Nacht näher rückt.
Lasst uns mit dem Flüsternder Namen anfangen
und zusammen den Wortschatzdes Todes flechten.
Serhij Zhadan
Es herrscht Krieg in Europa. Diese Realität schreibt sich mit dem großangelegten Angriff Russlands auf die Ukraine seit dem 24. Februar 2022 als Zäsur in die europäische und internationale Politik und das öffentliche Bewusstsein ein. Schätzungen gehen inzwischen von Hunderttausenden von Toten aus - genaue Opferzahlen gibt es bisher nicht. Zwischen einem Viertel und einem Drittel der Bevölkerung der Ukraine (vor 2022 ca. 40 Millionen) ist nach dem 24. Februar 2022 innerhalb oder aus der Ukraine geflohen.
Über dreißig Jahre sind seit dem Ende der Sowjetunion vergangen. Ihr Zerfall ist wesentlich weniger friedlich verlaufen als oftmals angenommen. Im Vergleich zur gewaltsamen Desintegration Jugoslawiens wirkten die Kriege um Bergkarabach, Transnistrien, Abchasien und Südossetien aus westeuropäischer Perspektive klein, obwohl in ihnen insgesamt Zehntausende starben und Hunderttausende vertrieben wurden. Auch der Bürgerkrieg in Tajikistan fand wenig Beachtung in Europa. Russlands Kriege gegen Tschetschenien (1994-?96 und 1999-?2009), in denen mehrere hunderttausend Menschen getötet, verletzt oder vertrieben wurden, blieben weitgehend unbeachtet in einer Zeit, als westliche Regierungen zunächst den russischen Präsidenten Boris Jelzin unterstützten und dann den zweiten Krieg in Tschetschenien unter Präsident Wladimir Putin weitgehend ignorierten. Russlands Kriegsführung in Tschetschenien nahm bereits einige der später in Syrien und jetzt in der Ukraine angewandten brutalen Methoden vorweg. Wie alle diese Kriege steht auch Russlands Krieg gegen die Ukraine im direkten Zusammenhang mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion, der lange vor dem offiziellen Ende 1991 begann und bis heute nachwirkt.
Russlands Krieg gegen die Ukraine beendet auch die Illusion des friedlichen Zusammenlebens und einer «Friedensdividende» in Europa nach dem Ende des Kalten Krieges. Diese Illusion wurde weder von den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien in den frühen 1990ern noch von den Vorläufern der gegenwärtigen russischen Invasion erschüttert. Dabei begann Russlands Krieg gegen die Ukraine bereits 2014 mit der Annexion der Krim und dem von Moskau kontrollierten Krieg im Donbas, der zu etwa 14.000 Toten führte, etwa 1,5 Millionen Menschen zu Binnenflüchtlingen machte und etwa 1 Million Menschen nach Russland vertrieb. Ab dem Frühjahr 2021 begann Russland darüber hinaus, weit über 100.000 Soldaten an der russisch-ukrainischen und belarusisch-ukrainischen Grenze zu stationieren.
Trotz allem kam der umfassende Angriff vom 24. Februar 2022, der mit Luftangriffen auf die Hauptstadt Kyjiw und Großstädte wie Charkiw, Odesa und Lwiw begann und russische Panzerkolonnen von drei Seiten in die Ukraine vorrücken ließ, gefühlt überraschend. In der EU waren viele von Drohgebärden und einem Kosten-Nutzen-Kalkül Putins ausgegangen, was einen Angriffskrieg dieser Art unwahrscheinlich erscheinen ließ. Die Bevölkerung in West- und Südeuropa war vor allem deshalb überrascht, weil die Ukraine auf ihrer mentalen Landkarte kaum vorkam. Die gefühlte und die geographische Distanz zur Ukraine klafften deutlich auseinander und haben sich erst durch die derzeitige Phase des Krieges einander angenähert. Und selbst die ukrainische Regierung hatte die Gefahr eines großangelegten Angriffs entweder unterschätzt oder zumindest in der Öffentlichkeit mehrfach kleingeredet, um die Bevölkerung und die Wirtschaft nicht vorzeitig in Unruhe zu versetzen. Die US-Geheimdienste hatten jedoch mehrfach seit Ende 2021 vor einer Eskalation gewarnt.
Der erste europaweite Schock über den Angriff vom 24. Februar 2022 wurde von einer zweiten weithin unerwarteten Erkenntnis abgelöst: der Stärke des militärischen und zivilen Widerstands der Ukraine gegen den Aggressor. Diverse westliche Verteidigungsministerien und Geheimdienste hatten angesichts des militärischen Ungleichgewichts einen kurzen Krieg zugunsten Russlands erwartet. Widerstand lässt sich vor dem Eintreten des Extremfalls nur schwer vorhersagen und erfordert Kenntnis der Gesellschaft. Laut einer Meinungsumfrage des Kyjiwer Internationalen Instituts für Soziologie (KIIS) vom Dezember 2021 war für den Fall eines erneuten russischen Angriffs die Hälfte der Bevölkerung (ohne die Krim und die nicht von Kyjiw kontrollierten Gebieten des Donbas, in denen reguläre Umfragen nicht durchgeführt werden konnten) bereit, Widerstand zu leisten: 33 Prozent äußerten zu diesem Zeitpunkt ihre Bereitschaft zu bewaffnetem Widerstand und 22 Prozent zu zivilem Widerstand (Mehrfachnennung war möglich). Insgesamt war laut dieser Umfrage der Widerstandswille im Westen des Landes etwas stärker ausgeprägt als im Süden und Osten. Bis Anfang Februar 2022 hatte sich dieser Trend auf Landesebene weiter verstärkt: Fast 58 Prozent zeigten sich zu diesem Zeitpunkt zu Widerstand bereit, darunter 37 Prozent zu bewaffnetem und 25 Prozent zu zivilem Widerstand.
Seit den ersten Kriegstagen, in denen die unerwartete Stärke der Ukraine ersichtlich wurde, wird immer wieder betont, dass sich nun die ukrainische Nation in ihrem Staat konstituiere. Die offensichtliche Einigkeit entspricht nicht dem weit verbreiteten Bild einer in Ost und West gespaltenen Ukraine, in der Sprache, Ethnizität und Region interne Trennlinien ausmachen. Das Ausmaß des Widerstands und des zivilgesellschaftlichen Engagements - vom aktiven Einsatz in der ukrainischen Armee oder territorialen Verteidigungseinheiten über Crowdfunding für militärische Ausrüstung und humanitäre Hilfe bis hin zum Wiederaufbau von Infrastruktur - ist jedoch die Folge und nicht die Ursache einer längst bestehenden ukrainischen Identität, die sich bei aller internen Diversität an den ukrainischen Staat und das Verständnis, ukrainischer Staatsbürger oder Staatsbürgerin zu sein, knüpft. Es geht also auch darum, ein vor dem 24. Februar 2022 weit verbreitetes lückenhaftes Bild der Ukraine zu korrigieren und die Gründe für diese selektive Wahrnehmung kritisch zu hinterfragen.
Der Krieg brach nicht plötzlich über die Ukraine und über Europa herein. Eine Herausforderung liegt darin, ihn im Rückblick in seinem Kontext zu begreifen, ihn dabei aber auch nicht als zwangsläufige Folge bestimmter Ereignisse und Entwicklungen darzustellen. Geschichte und Politik sind nie alternativlos, auch wenn sich im Nachhinein die Stimmen mehren, die den Krieg immer vorausgesagt haben wollen. Eine derartig pauschalisierende Reaktion auf den Krieg würde jedoch dem politischen Prozess mit seinen Schlüsselmomenten, Fehleinschätzungen und Entscheidungen nicht gerecht. Kriege haben eine Vorgeschichte. Über einen längeren Zeitraum hinweg lassen sich Muster erkennen, die einen Krieg wahrscheinlicher machten - bis hin zur Rede Wladimir Putins am 21. Februar 2022, in der er seine Intentionen in aller Deutlichkeit benannte. Drei Tage später erfolgte der Angriff auf die gesamte Ukraine.
Die Schlüsselrolle von Wladimir Putin ist offensichtlich. Zugleich lässt sich der Krieg nicht auf seine Person verengen. Die Bezeichnung «Putins Krieg» greift zu kurz, auch wenn Putin diesen Krieg auslöste. Auch gibt es nicht nur eine einzige Kriegsursache. Vielmehr war es ein Geflecht von Entwicklungen, die die notwendigen, aber nicht hinreichenden Bedingungen für den Krieg schufen:
die Autokratisierung Russlands verbunden mit wachsenden neo-imperialen Machtansprüchen
die Durchdringung der russischen Gesellschaft mit staatlicher Geschichtspolitik und Propaganda
die Demokratisierung und Westorientierung der Ukraine
die Stärkung einer staatszentrierten ukrainischen Identität
die zunehmende Diskrepanz zwischen westlichen und russischen Sicherheitswahrnehmungen
die wachsenden Widersprüche in der westlichen Russland-Politik
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