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Das hier ist die Frau, die zu Jenny Hill wird, und sie ist in diese Geschichte spaziert mit Schritten, die sie nicht mehr üben muss. Frauen mit ihrem Aussehen gibt es in Finnland Tausende, aber ihr Name ist das Resultat von Überlegungen trendbewusster und zukunftsorientierter Eltern: Sie haben ihre ältere Tochter nicht zu Katja, Minna oder Sari gemacht, so wie alle anderen in jenem Jahrzehnt, sondern zu Jenni, wie Jennifer oder Jenny, und Letzteres ist sie schon einmal gewesen. Beim Anbruch einer neuen Ära kann man unüberlegte Dinge tun, aber das, was gerade an der Küchenarbeitsplatte aus Massivholz passiert, gehört nicht dazu. Große Veränderungen führen dazu, dass sich ein Mensch klein fühlt, und dann kann er jede Verstärkung gebrauchen, so auch Jenni Mäki, und deshalb übernimmt sie bald eine neue Schreibweise ihres Namens. Sie hat ihre Jacke angezogen und ist bereit zum Aufbruch, als sie einen Notizzettel nimmt und darauf erst die Worte ich bin weg schreibt, danach ihren Namen. Beim letzten Buchstaben des Vornamens kommt eine Schleife aus dem Stift, Jenni wird zu Jenny, und es fühlt sich richtig an. Vielleicht hätte das Y schon immer zum Namen gepasst, und obwohl vieles in diesem Moment schwierig ist, hat die Schlaufe des Buchstabens etwas Mutiges, das energisch seinen Platz auf dem Papier einnimmt.
Es ist eine Verheißung, dass Jenny vielleicht endlich lernt, Dinge zu hinterfragen, womöglich ist diese Zeit jetzt angebrochen, während als Nächstes der Taxifahrer zwei Reisetaschen und zwei Aufbewahrungsboxen mit Metallrändern in das riesige Auto hievt. Diese Fahrt ist der Beginn von allem: Jenny Hill zieht in ein neues Zuhause, eine Mietwohnung, und in ein neues Leben. Sie bricht nicht zu einem Interkontinentalflug auf, obwohl die Distanz zwischen Start- und Zielort größer ist als je zuvor, nein, das hier ist ein Umzug, und darauf hätte sich Jenny nicht vorbereiten können, obwohl sie »wie lebt man allein« (851.000 Suchergebnisse) und »wie verlässt man seinen Mann« (3.980.000 Ergebnisse) gegoogelt hat.
So funktioniert sie, hat sie immer funktioniert: Sie sucht außerhalb von sich selbst nach Antworten, fragt um Rat und befolgt Anweisungen. Irgendwo gibt es eine Antwort, wenn man nur die richtige Suchanfrage stellt, irgendwo gibt es ein »Tu dies, wenn .«, eine Bedienungsanleitung oder einen Erfahrungsbericht, zumindest den Fall einer entfernten Bekannten, aber am Ende ist es egal, woher sie letztlich den Impuls zum Aufbruch bekommen hat. Das Einzige, was zählt, ist, dass sie aufgebrochen ist und in einem Taxi sitzt, in dem mindestens acht Fahrgäste Platz hätten. Doch sie ist allein.
Das hier ist also die Frau, die zu Jenny Hill wird, aber als sie zur Welt kam, hieß sie Jenni Mäki, Mäki wie »Hügel«. Damals hatte sie 300 Knochen, aber jetzt sind es 70 Knochen weniger, weil sich der Mensch auf diese Weise entwickelt. Ihr Skelett ist das gleiche wie bei allen anderen, und auch ihre Größe (162 cm) sagt nicht viel aus. Durch ihren Beckenknochen, der auf der Rückbank des Taxis ruht, kamen zwei Menschen auf die Welt. Hätte man sie von Kleidung, Schmuck, Haar, Make-up, Haut, Unterhautfett, Gewebe und Organen befreit, wäre ihr biologisches Geschlecht ohne diese knöcherne Pforte schwer zu erraten. Der Sicherheitsgurt drückt an ihrer Hüfte, und sie kann mit den Fingern jederzeit das elastische, lebendige Gewebe ertasten und sich an das Gefühl der Wölbung, die Rundung und die Berührungen erinnern, denn auch wenn sich alle Zellen eines Menschen innerhalb von sieben Jahren erneuern, bleibt von Sinneswahrnehmungen eine Ahnung zurück, die man auf Magnetresonanzbildern nicht sehen kann.
Sie ist eine Frau, als solche würde man sie äußerlich einordnen, und als solche fühlt sie sich, und schon sehr früh bemerkte sie, dass das Frausein recht viel Arbeit und Maßnahmen erfordert, wenn man die damit verbundenen Anforderungen an das Äußere ernst nimmt, und das tat sie, sie war in dieser Hinsicht immer eine Gefangene ihrer eigenen Vorstellungen.
Seit Januar 1995 hat die Haut auf Jenny Hills Wangen literweise Serum aufgenommen, aber trotz dieser Maßnahme lässt sich bei ihr morgens eine Falte vom Kissenbezug erkennen, die sich erst nach Stunden glättet. Tausende Male hat sie Make-up auf die Wangen aufgetragen und wieder abgewaschen, um die Augen hat sie dreißig Jahre lang Eyeliner aufgetragen, und als Jenny schließlich lernte, ihre Brauen zu schminken, begriff sie, dass die von Frauenzeitschriften interviewten Make-up-Veteraninnen immer schon richtiggelegen hatten: Augenbrauen bilden wirklich den Rahmen um das Gesicht und schärfen den Ausdruck, ohne Brauen würde alles zerfallen, schmelzen und verwischen, und aus dem Spiegel würde einem ein Weißer Klarapfel entgegenblicken, und wer will das schon sein, wenn es nicht unbedingt nötig ist.
Jenny Hill hat weiche wie harte Erhebungen und einen scharfen Verstand, aber letzterer ist in ihr verborgen. Ihr Kopf wiegt 4,62 Kilo, was nicht stark vom Durchschnitt der Spezies abweicht, und wird von einem Hals getragen, dessen Wirbel gekrümmt sind und über dessen Länge sie mit zunehmendem Alter ein wenig stolz ist, und im Grunde ist es seltsam, dass dieser fast fünf Kilo schwere Teil über allen anderen Teilen ihr Bewusstsein enthält und sie deshalb zu dem macht, was sie ist.
Fünf Kilo sind einfacher zu erfassen, wenn man überlegt, was es heißt, fünf Kilo abzunehmen: eine furchtbare Tortur, wie Jenny aus Erfahrung weiß. Das entspricht fünf Literpackungen Milch oder zwölf Packungen Margarine. Trag das mal vom Einkaufszentrum zum Auto und dann noch vom Parkplatz vor dem Haus in die Küche, dann weißt du Bescheid. Staple das auf der Arbeitsfläche aus Massivholz, dann verstehst du, dass es einem Menschen enorme Anstrengung abverlangt, diese Menge abzunehmen, oder gar eine unmögliche Aufgabe ist, und wenn jemand vor vielen Jahren erzählte, ein Kind mit fünf Kilo zur Welt gebracht zu haben, stöhnten alle aus Mitgefühl oder schnappten aus purem Entsetzen nach Luft.
Auch das gab es irgendwann, eine Zeit im Leben, in der Gramme und Milliliter und Entwicklungskurven wichtig waren, wie auch Zyklen und Eisprünge, und dadurch eine kalendarisierte und körperlich unhinterfragte Weiblichkeit. Fast wie eine Reaktion darauf hört Jenny, wie es im Radio um »Schreckensweiber« aus alten Legenden geht, diesmal um Lilith aus der jüdischen Überlieferung, die erste Frau der Welt und erste Gattin Adams, eine ungezügelte Draufgängerin und sexuelle Abenteurerin, die sich selbst mit dem Sperma des Mannes befruchtete und Dämonen gebar. So etwas wird in der Schule nicht erzählt, denkt Jenny: dass es diese Lilith gab, eine Zauberin der Nacht, eine für Säuglinge gefährliche Übeltäterin, die zur selben Zeit wie Adam aus dem Staub der Welt erschaffen wurde, eine Frau, die sich weder dem Willen ihres Mannes noch beim Sex unterwarf. Deshalb musste sie gehen, und erst danach wurde Eva aus der Rippe des Mannes geformt, Eva, die später in Versuchung geriet und bis in alle Ewigkeit die Last der Sünde trägt, und all das spukt in den Köpfen herum, weil es schwierig ist, versteinerte alte Legenden neu zu denken. Jenny denkt nicht so weit, dass manche Menschen Evas Geschichte womöglich nötiger hatten, vielleicht taugte die umgängliche und gefügige Eva besser zur Idealfrau, vielleicht.
In Jenny Hills Gehirn sind Erinnerungen und Gedanken konserviert, die Nervenbahnen haben Informationen weitergeleitet, zwischen den Dingen sind Pfade entstanden und abgerissen, und obwohl es schwer zu begreifen ist, blitzen in der gelartigen Masse auch Gefühle auf. Diese Dinge sieht man nicht, aber die Menge der Neurotransmitter ist im Laufe der letzten Jahre zurückgegangen, und deshalb vermischen sich Erinnerungen manchmal miteinander, legen sich übereinander oder lassen verwaiste Pfade zurück.
Darauf hat auch die Müdigkeit einen Einfluss. Jenny ist momentan nicht in Bestform, und es ist auch nicht gerade hilfreich, dass sie zu wenig schläft, über Erinnerungen grübelt, ihre Lebensgeschichte rekapituliert, und all das nächtliche Herumwälzen hat zu der Schlussfolgerung geführt, dass sie gehen muss, und deshalb sitzt sie jetzt im Taxi. Sie möchte glücklich sein und dass ihr Leben irgendwie einfacher und lockerer ist, sie möchte gut zu sich sein und sich selbst verstehen, so wird es überall geraten, aber das ist furchtbar...
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