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Weil seine Mutter Helga Breuer[1] wieder arbeiten gehen musste, wurde Peter mit acht Monaten im September 1953 in der Wochenkrippe «Raymonde Dien» in Berlin-Teltow untergebracht.[2] Die DDR-Wochenkrippe war neben der Tageskrippe und dem Säuglingsdauerheim eine der drei gängigen Krippenformen in der DDR.[3] Sie öffnete in den 1950er Jahren montags gegen sechs Uhr morgens, um die Kinder der meist im Schichtdienst arbeitenden oder studierenden Eltern anzunehmen. Die Wochenkrippenkinder - im Alter zwischen sechs Wochen und drei Jahren - wurden dann über die ganze Arbeitswoche Tag und Nacht von den Krippenschwestern gepflegt und so gut es ging auch erzogen.[4] Meist Samstagnachmittag holten die Eltern ihre Kinder wieder ab, um mit ihnen den restlichen Tag und den Sonntag zu verbringen, bevor sie Montagfrüh um sechs Uhr wieder in die Krippe gebracht wurden.[5]
Für seine Eltern war Peter vor der Einlieferung in die Wochenkrippe «gesund, gut entwickelt, aß tüchtig und machte einen lebendigen Eindruck».[6] Dies hatte sich schlagartig geändert, als seine Mutter ihn drei Tage später - früher als erwartet - wieder aus der Krippe abholen musste. Peter war krank geworden und hatte in nur drei Tagen ein Kilogramm abgenommen, zudem war er äußerst wund. Frau Breuer suchte daraufhin mit ihrem Sohn die Ärztin auf, die Peter schon länger betreute, um ihn untersuchen zu lassen. In einem handschriftlichen Vermerk war notiert, dass die Ärztin angegeben habe, das Kind noch nie so wund gesehen zu haben. Zudem habe sie aufgrund des starken Hustens von Peter einen Verdacht auf Keuchhusten geäußert.[7] Zu vermuten ist, dass das anhaltende Husten der Grund war, warum die Mutter ihren Sohn früher aus der Wochenkrippe abholen musste.
Abbildung 2: Kinder in einer Wochenkrippe, 1962
Die Eltern waren erschrocken über den schlechten Gesundheitszustand ihres Babys, weshalb sich die Familie bei der zuständigen Krippenaufsicht des Ministeriums für Gesundheitswesen beschwerte. Für die Eltern konnte in dieser Wochenkrippe etwas grundlegend nicht stimmen.[8] In der Zeitung waren die Wochenkrippen immer als vorbildlich beschrieben worden.[9] Gut geschultes Personal in penibel sauberen Räumen pflegte sorgsam die Kleinsten der Republik, die zufrieden ihren Tag verlebten, ohne dass sich die Mütter Sorgen machen mussten. Nun machte sich die Mutter aber Sorgen. Peter befand sich in einem alles andere als guten Zustand, er litt, war kraftlos und krank. Die Überprüfung der Krippe durch die zuständige Abteilung ergab jedoch, «dass besondere Beanstandungen nicht vorhanden waren».[10] Das Kind war so wund, weil die Windeln ausgegangen und die provisorischen Windeln eben äußerst hart gewesen wären.[11] Mittlerweile hatte die Krippe neue Windeln organisieren können, womit das Problem für die Krippenaufsicht behoben war.[12] Der Rest war Alltag.
Bei der Aufnahme in die Krippe wurden die Kinder oft krank und verloren Gewicht - beides in der Regel schon in den ersten Tagen. Das für die Krippen zuständige Ministerium für Gesundheitswesen sah darin ein drängendes Problem und beauftragte Mitte der 1950er Jahre Ärzte der Berliner Humboldt-Universität und der Leipziger Karl-Marx-Universität damit, das Phänomen der «Anpassungsstörungen»[13] der Krippenkinder zu untersuchen.[14] Der Krippenausbau war ein Prestigeobjekt der DDR-Regierung, welches man unter keinen Umständen durch eine schlechte Presse über kranke Kinder gefährden wollte.
Erste Ergebnisse zu den «Anpassungsstörungen» wurden 1957 im Rahmen einer internationalen Arbeitstagung in Ost-Berlin gemeinsam mit Wissenschaftlern aus der Sowjetunion, der DDR, der CSR, Griechenland und Großbritannien diskutiert.[15] Gegen Mittag des ersten Konferenztages trug der schottische Bindungsforscher James Robertson unter dem Titel «Der Verlust mütterlicher Fürsorge in früher Kindheit und einige Auswirkungen auf die Entwicklung der Persönlichkeit»[16] vor. Robertsons Forschungsergebnisse ließen erahnen, was der Verlust der Mutter für die Kleinkinder - und damit auch für Peter - bedeutete. Ausgangspunkt von Robertsons Forschungen zu «Anpassungsstörungen» waren Überlegungen über die Beziehung zwischen dem Kleinkind und seiner Mutter:
«Wenn wir als Beispiel ein typisches Kind von zwei Jahren in einer Familie nehmen, sehen wir, daß es ein kleines Tier ist, das seine Umgebung nicht versteht, keinen Zeitsinn hat und ausschließlich in der Gegenwart lebt und das seine Erwartungen auf Geborgensein und Zufriedenheit in seine Eltern setzt - besonders in seine Mutter, mit der es aus offensichtlichen Gründen ihrer biologischen und sozialen Funktionen am engsten verbunden ist.»[17]
Das Kleinkind habe nur sehr begrenzte geistige und emotionale Fähigkeiten, um die Abwesenheit von der Mutter zu kompensieren, so Robertson weiter. Es lebe in einer tiefen emotionalen Abhängigkeit von seiner Mutter, einer Abhängigkeit, die das Kleinkind, wenn die Mutter da sei und auf es einginge, als eine tiefe Befriedigung empfinde. Gleichzeitig könne die Abhängigkeit aber auch ein Quell der Angst werden, vor allem dann, wenn die Mutter für das Kind verschwinde, wenn es verlassen werde und nicht absehbar sei, wann die Mutter wiederkommen werde:
«Wenn das Kind in diesem Stadium der Entwicklung, da es so besitzergreifend und leidenschaftlich an seiner Mutter hängt und den Eltern so blind vertraut, in ein Krankenhaus oder eine Wochenkrippe kommt, wird es von Sehnsucht und Kummer überwältigt. Es ist zu jung, um zu verstehen, daß es irgendeinen Grund wie Krankheit oder häusliche Schwierigkeiten geben kann, um den Verlust der mütterlichen Fürsorge zu rechtfertigen, und man kann ihm nichts erklären. Es weiß lediglich, daß die Mutter, die es braucht, die Mutter, die nahe sein und auf sein Weinen zu ihm eilen sollte, nicht da ist. Es ist schmerzerfüllt und böse auf diejenigen, die es, soweit das Kind es verstehen kann, enttäuscht haben.»[18]
Die Erfahrung der Aufnahme in die Krippe stellte für das Kleinkind also eine existenzielle Trennungserfahrung von den Personen dar, von denen es sich instinktiv abhängig fühlte. In seinen Forschungen hatte Robertson untersucht, wie die Kleinkinder auf die Trennungserfahrung von der Familie reagierten, die sie selbst geistig und emotional noch nicht verstehen konnten. Von seinen Forschungsergebnissen ausgehend, beschrieb Robertson sehr eindrücklich drei Phasen der psychischen Anpassung des Kleinkindes an die Situation der Fremdbetreuung. Die Phasen verdeutlichen recht gut, was Peter wohl in den ersten Tagen seines Aufenthalts in der Wochenkrippe erleben musste, als seine Mutter von der einen auf die andere Minute fortblieb:
«Protest ist die erste Phase, die tagelang anhalten kann. Während dieser Phase hat das kleine Kind ein starkes bewußtes Bedürfnis nach seiner Mutter, und in völliger Verständnislosigkeit dem Geschehen gegenüber erwartet es, daß sie auf sein Weinen hin erscheint. Es ist verwirrt durch seine neue Umgebung und verstört vor Furcht und dem dringenden Bedürfnis nach Befriedigung, die allein seine Mutter ihm geben kann.»[19]
Die Kinder hatten Angst, schrien und wehrten sich entsprechend den Möglichkeiten ihres Alters gegen den Abschied von der Mutter. Die Krippenschwestern waren die heftigen Reaktionen der Kleinsten gewöhnt. Sie konnten meist nur abwarten, bis die Kinder sich irgendwie beruhigten oder beruhigen ließen oder bis sie zumindest erschöpft einschliefen.
Dabei bekamen die Mütter das anhaltende Schreien ihrer Kinder in der Regel nicht mit. In den 1950er und 1960er Jahren wurden die Kinder oft einfach an der Tür der Krippe abgegeben. Man hatte Angst vor Infektionen, weshalb die Eltern die Krippenräume meist nicht betreten durften, sondern nur den Übergaberaum sahen, der oft einfach ein Flur war.[20]
Die Phase des kindlichen Protestes, die sich häufig in körperlichen Ausbrüchen, Ablehnung jeglicher Bindung, Unruhe, Verwirrungszuständen und der Verweigerung von Nahrung ausdrückte,[21] fand außerhalb der Wahrnehmung der Eltern statt. Die Kinder weinten nach Robertson - ...
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