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Natürlich stellt sich die Frage, wie man auf die zugegeben irre Idee kommen kann, an den italienischen Parlamentswahlen teilnehmen zu wollen. Um das zu erklären, muss ich zu meinen Anfängen in Italien zurückkehren.
Im Grunde fängt alles mit Reportagen an, die nicht gedruckt werden. Es ist das Jahr 1989, ich habe die Journalistenschule abgeschlossen und befinde mich am unteren Ende der Rangordnung im Auslandsressort des Sterns, als Reporterin zuständig für kommunistische Regime im November, Bürgerkriege in Afrika und Katastrophen, die an Feiertagen stattfinden. Ich werde für die Reportagen eingesetzt, die sonst keiner machen will, etwa über die Schließung der Lenin-Werft in Danzig zu berichten, oder dafür, mit einem alkoholisierten Fotografen einen Monat lang durch Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei zu reisen, um über »die Jugend« im Ostblock zu berichten. Eine Reportage, die nie erscheint: Wir befinden uns in jenen goldenen Zeiten des Journalismus, als sich Chefredakteure noch leisten können, Reportagen für den Papierkorb produzieren zu lassen.
Um mich darüber hinwegzutrösten, beschließe ich, einen sechswöchigen Sprachkurs in der Toskana zu absolvieren, in Castiglioncello, einem kleinen Seebad unweit von Livorno, in dem einst Luchino Visconti und Marcello Mastroianni ihre Sommer verbrachten. Ich betrachte den Kurs als Investition in meine Zukunft - für den Fall, dass es mit einer Korrespondentenstelle in Paris nichts wird, was der Plan A ist, insofern der Paris-Korrespondent endlich mal abgelöst würde. In Rom wacht der Italien-Korrespondent zwar eifersüchtig über seinen Vorgarten, aber der kann ja nicht alles machen. Und im Auslandsressort des Sterns gibt es niemanden, der Italienisch spricht.
Es ist die Zeit vor den Billigflügen, also fahre ich mit der Bahn von Hamburg nach Italien, ab München in einem italienischen Zug. Zu meiner großen Verblüffung geht der Schaffner am Vormittag die Abteile ab und fragt, ob man zum Mittagessen einen Platz im Speisewagen reservieren will. Ich reserviere - und bin fassungslos, als ich sehe, wie an Tischen mit weißen Tischtüchern frisch zubereitete Spaghetti serviert werden. Was für eine Zivilisation!, denke ich. Was für eine Esskultur!
Als Romanistin verfüge ich zwar über Grundkenntnisse des Italienischen, aber von Italien weiß ich so gut wie nichts - wenn man davon absieht, dass ich als Zwanzigjährige Opfer der Mafia-Folklore des Paten geworden und vom Ruhrgebiet nach Corleone gefahren bin. Praktisch direkt, vier Tage Fahrt, Übernachtung auf Parkplätzen und ohne einen einzigen Blick auf Venedig, Florenz oder Rom zu werfen. Im Studium der Politikwissenschaften habe ich Italien immerhin etwas gestreift, weil der Eurokommunismus Thema der mündlichen Prüfung meines Staatsexamens war. Ich kann immer noch referieren, dass der Eurokommunismus der Versuch eines demokratischen Kommunismus war, ausgehend von den kommunistischen Parteien Italiens und Frankreichs. Ich weiß auch noch dunkel, was der »Historische Kompromiss« und wer Berlinguer war, aber abgesehen davon beschränkt sich meine Kenntnis von Italien auf Pizza Quattro Stagioni ohne Schinken und Sambuca zum Espresso.
Diese kulturelle und sprachliche Lücke will ich füllen, und die Toskana mit ihren zypressenbestandenen Hügelketten erscheint mir für den Einstieg besonders geeignet. In Castiglioncello widme ich mich vormittags den Feinheiten der entfernten Vergangenheit, dem passato remoto, nachmittags fahre ich mit einer Vespa durch die Gegenwart: nach Volterra, wo aus den Mauern des römischen Theaters weißer Flieder wächst, nach Pisa, wo vor der Piazza dei Miracoli Schürzen mit dem Gemächt des David von Michelangelo verkauft werden, und nach Bolgheri, wo ich mitten auf der Zypressenallee beim Schalten die Kupplung zu schnell kommen lasse, weshalb die Vespa einen Sprung macht und mich unter sich begräbt.
In den sechs Wochen meines Sprachkurses lerne ich, dass das Italienische, anders als wir es uns in Deutschland vorstellen, eine erstaunlich förmliche Sprache ist. Was meist in den Hintergrund gerät, weil die Italiener sehr nachsichtig sind, wenn sich ein Ausländer die Mühe macht, ihre Sprache zu erlernen. Im Unterschied zu Frankreich, wo mich jeder Tabakhändler beim geringsten Hauch eines Akzents in dem Satz »Un paquet de Camel light s'il vous plaît« mit einem »Mais vous n'êtes pas française!« abgestraft hat, überschlagen sich die Italiener förmlich, wenn ich nur ein grazie über die Lippen bringe, sie ertragen geduldig, wenn ihnen ein ciao aufgedrückt wird (mit ciao wird nur begrüßt, wer geduzt wird), und feiern jede Bildung des richtigen Konjunktivs wie eine geglückte Atlantiküberquerung.
Als Romanistin bin ich ambitioniert, wobei mein Ehrgeiz durch die Existenz des passato remoto etwas ausgebremst wird. Die ferne Vergangenheit macht mir zu schaffen - eine Form, die wie das passato prossimo, die nahe Vergangenheit, abgeschlossene Handlungen in der Vergangenheit beschreibt, wodurch sich beide vom imperfetto unterscheiden. Aber schon zu beurteilen, ob die Vergangenheit fern ist oder nahe, ist ja wohl sehr subjektiv. Kurz: Das passato remoto macht mich fertig, der Konjunktiv erst recht, ich sage nur: congiuntivo trapassato. Im Italienischen gibt es Zeiten, die kann man sich als Deutsche gar nicht vorstellen, geschweige denn konjugieren.
Wenn ich nachmittags nicht gerade mit der Vespa durch Lavendelfelder, Olivenhaine und Weinberge fahre, gehe ich mit meinen Verbtabellen an den Strand, um mich von den Tücken der italienischen Grammatik zu erholen. Der parzellierte und beharkte Strand ist eine teure Angelegenheit, aber der Bademeister hat ein Herz für mittellose deutsche Sprachschülerinnen und schenkt mir immer einen Liegestuhl.
Und in diesem Liegestuhl stelle ich zu meiner Überraschung fest, dass die Italiener am Strand nicht über das beste Sonnenöl, sondern über das System der illegalen Parteienfinanzierung von Sozialisten und Christdemokraten reden, über Amtsmissbrauch und Bestechungsgelder, über Mafiaverwicklungen und Mordkomplotte.
Sie klingen dabei, als ginge es um das letzte Boccia-Turnier, und benutzen weder das historische Perfekt, also das passato remoto, was ja eine abgeschlossene Handlung der Vergangenheit ausgedrückt hätte, noch den Konjunktiv, mit dem man Unsicherheit, Möglichkeit, Wunsch, Sorge und Furcht verdeutlicht hätte. Selbst vom congiuntivo trapassato, mit dem man einen Sachverhalt beschreibt, der laut meiner Grammatik »entweder als irreal angesehen oder subjektiv betrachtet wird«, ist keine Spur. Nein, sie sprechen im Indikativ Präsens, einer Zeitform, die man benutzt, »um ein tatsächliches Ereignis in der Gegenwart zu beschreiben«, wie meine Grammatik versichert. Ereignisse, von denen ich noch nie etwas gehört habe. Und das, obwohl ich Journalistin bin. Und drei deutsche Tageszeitungen täglich lese. Also kaufe ich mir auch noch täglich die Repubblica und versuche vergeblich dem auf die Spur zu kommen, was ich am Strand gehört habe.
Es nimmt mich sehr für Italien ein, dass man so offen über die dunklen Seiten des Landes spricht. Andererseits finde ich es verwirrend. Denn dieser Craxi war doch bis vor Kurzem Ministerpräsident. Und wie war es möglich, dass er auch noch ins Europäische Parlament einziehen konnte, obwohl hier am Strand alle wissen, wie korrupt seine sozialistische Partei ist?
Nach diesem Craxi haben sich drei weitere Ministerpräsidenten sehr schnell im Amt verschlissen: Amintore Fanfani, Giovanni Goria, Ciriaco De Mita. (Bei uns heißen Politiker Helmut oder Hans-Dietrich, und hier tragen sie Namen wie Romanhelden: Amintore! Ciriaco! In Deutschland hätte man mit einem Namen wie Amintore vielleicht als Schlagersänger überzeugen können, aber definitiv nicht als Ministerpräsident.) Sie sind Christdemokraten, was mir ein Indiz für einen Machtwechsel zu sein scheint: Die Wähler hatten offenbar die Sozialisten abgestraft, worauf die konservativen Christdemokraten gefolgt sind, wenn ich das richtig verstanden habe.
Skeptisch macht mich allerdings, wie gedehnt die Italiener am Strand das Wort de-mo-cris-tia-ni aussprechen. Dalla padella alla brace, sagen sie und lachen mich aus, wenn ich sie frage, ob sich die politische Lage dank des Wechsels der regierenden Partei verbessert habe. Dalla padella alla brace übersetze ich mit »Von der Pfanne auf den Grill«, woraus ich schließe, dass man keinen Vorteil darin sieht, von einem democristiano statt von einem Sozialisten regiert zu werden, weil man praktisch vom Regen in die Traufe kommt.
Die Leute am Strand machen mich zudem darauf aufmerksam, dass man in Italien keinesfalls Neuwahlen ansetzt, nur weil gerade ein Ministerpräsident zurückgetreten ist. Kommt hier dauernd vor. Wenn jedes Mal ein neues Parlament gewählt werden müsste, nur weil ein Ministerpräsident zurückgetreten ist, müssten sie ja praktisch ständig zur Wahl rennen, heißt es, man käme zu nichts mehr, das Land wäre lahmgelegt, man würde sein ganzes Leben in der Wahlkabine verbringen, grazie a Dio sei man gegen diese Tortur gefeit, es reiche schon, dass die derzeitige Regierung die neunundvierzigste seit Kriegsende sei.
Wenn ich es richtig verstehe, hatten wir in Deutschland in der Zeit, in der man in Italien neunundvierzig Regierungschefs verschlissen hat, nur sechs Bundeskanzler, von Konrad Adenauer bis Helmut Kohl, der für meinen Geschmack auch schon viel zu lange im Amt ist. Folglich kommen, wenn ich richtig gerechnet habe,...
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