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"Ich beschäftige mich nicht mit dem, was getan worden ist. Mich interessiert, was getan werden muss."
Marie Curie, polnisch-französische Physikerin (1867-1934)1
Lina war anders. Nicht makellos, nicht glamourös, keine Frau, die dem Ideal der meisten Männer des 19. Jahrhunderts entsprach. Ihre Zeitgenossinnen beschrieben sie als klein, rundlich, lustig, voller Energie, spontan, weltoffen und in manchen Bereichen chaotisch.2 Mit ihrem Mann Theodor lebte sie eine unkonventionelle Ehe, deren Geheimnis sich die beiden bis zum Schluss bewahrten. Sie liebte ihre fünf Kinder und gutes Essen. Oft vergaß sie zu schlafen. Sie initiierte so viele Projekte, dass sie manchmal den Überblick verlor.
Vor allem war sie hartnäckig.3
Wenn sich Lina gewisse Dinge genau ansah, und das machte sie oft, klemmte sie ihren Kneifer auf die Nase. Und sobald sie die Sache durchschaute, gab sie Anweisungen: schnelle, kurze Sätze. Pragmatisch, ohne allzu große Höflichkeiten.
Trotzdem versprühte sie eine gewisse Eleganz.4 Weniger äußerlich, die Mode betreffend, sondern in der Art ihres Auftretens, ihrer Haltung, ihrer Sprache, besonders im Umgang mit Rückschlägen - wie diesem: Preußen war seit zwei Wochen im Krieg. Und Berlin in Aufruhr. Die Sommerhitze von 1870 ließ die Stadtbewohner schwitzen, hecheln und fluchen. Die knapp vierzigjährige Lina sah den Ferien mit großer Vorfreude entgegen, die letzten Monate hatten sie angestrengt, die Volksküchen, der Kinderschutzverein, die Fortbildungsschule für junge Frauen, ihre heranwachsenden fünf Kinder - täglich hatte sie unzählige Herausforderungen zu bewältigen.5
Umso mehr freute sie sich, mit ihrer Familie für eine Woche Richtung Potsdam zu flüchten. Am Waldrand von Bornim, unter schattigen Buchen, fand die siebenköpfige Familie in der Nähe eines Bauernhofs ein stilles Häuschen.6 Kühe melken, Blaubeeren pflücken, in den See springen. Linas ältester Sohn Michael, kürzlich dreizehn geworden, hatte sich von der allgemeinen Kriegseuphorie anstecken lassen, die in vielen Gazetten propagiert wurde.7 Der aufgeweckte Junge schnitzte im Wald ein Gewehr mit Bajonett und wollte sich freiwillig zum Kampf gegen die Franzosen melden. Unentwegt redete er auf seine Eltern ein und bat sie, ihn auf die Kadettenschule in Groß-Lichterfelde bei Berlin zu schicken. Ohne sich bewusst zu sein, dass dort die Elf- bis Neunzehnjährigen in einem militärischen Internat zu absolutem Gehorsam verbogen werden.8 Lina und Theodor versuchten, ihren Sohn von der Idee abzubringen. Kein leichtes Unterfangen.
Trotzdem freute sich Lina über die Urlaubstage, denn so konnte sie an der Neuausgabe ihres bereits 1862 erschienenen Buches Die kleinen Menschen. 101 Geschichten und Lieder aus der Kinderwelt feilen.9
Schon in der zweiten Nacht hörte sie plötzlich ein energisches Klopfen: "Aufmachen!" Als Lina nicht sofort reagierte, brüllte jemand: "Im Namen des Königs, öffnen Sie!"
Das war keine Bitte, keine höfliche Frage, es war ein Befehl. Vor der Tür stand ein bewaffneter Uniformierter. Er verlangte: Frau Morgenstern müsse mitkommen. Nach Berlin. Sofort! Gesandt hatte ihn ein Adjutant des preußischen Kriegsministers Albrecht von Roon. Widerwillig packte Lina das Notwendigste zusammen und versprach ihrer Familie, in wenigen Tagen zurück zu sein.
In der Kutsche erzählte der Uniformierte: Fünfhundert Soldaten würden in den nächsten Stunden ankommen. Das preußische Kriegsministerium beauftrage Lina und ihre Volksküchen erneut, die Kombattanten am Niederschlesisch-Märkischen Bahnhof und am Berliner Ostbahnhof mit Speis und Trank zu versorgen.
Das Militär nutzte die Bahn für rasche Truppenverschiebungen, zum ersten Mal kam es zu Eisenbahn-Aufmärschen.10 Dabei führten viele Linien durch die preußische Residenzstadt. Allerdings schien kein höherer Offizier bedacht zu haben, dass Aufenthalte und Transfers zwischen den vielen Berliner Bahnhöfen lange dauern und die Soldaten Essen und Getränke benötigten.11
Lina ging davon aus, mit der Soldatenverpflegung längst fertig zu sein. In den letzten Wochen vor dem Urlaub hatten sie und ihre Helferinnen nahezu alle durch Berlin in den Krieg ziehenden Truppen mit Speis und Trank versorgt. Über 59.000 Eingezogene.12 Sogar einen Fotografen und ein Feldpostamt hatte Lina organisiert, damit die Soldaten ihren Familien noch einmal schreiben und ein Porträt senden konnten. 50.000 Feldpostkarten - Lina hatte sie dem Oberpostdirektor durch ihr Insistieren abgetrotzt.13 Manche Soldaten hatten Lina angefleht, für ihre Frauen und Kinder zu sorgen, falls sie in Frankreich fallen würden.
Nachdem die Truppen Berlin verlassen hatten, sandte man Lina nach Hause. Jetzt waren die jungen Männer an der Front. Und von dort kamen gute Nachrichten.14
Deshalb drängte der Uniformierte zur Eile. Schon im Morgengrauen würden die ersten Soldaten in Berlin eintreffen, man erwarte einen Zug mit "siegreichen Helden"!
Sollte Lina etwa ein Festmahl oder eine Siegesfeier ausrichten, was wollte das Kriegsministerium von ihr? Schon vor einigen Wochen hatte sich Lina gewundert: Warum planen Generäle so akribisch das Aufstellen der Truppen, den Einsatz der Waffen und das Vorrücken in feindliches Gebiet, vergessen aber, die Soldaten in Berlin mit Essen zu versorgen?15
Lina war froh, dass sie ihr langjähriges Dienstmädchen Amalia mit aufs Land genommen hatte, sie würde nun Theodor bei der Betreuung der Kinder unterstützen.
Als Lina und der Uniformierte sich dem Ostbahnhof näherten, bemerkten sie: Viele Menschen hatten die Häuser mit Flaggen geschmückt und sich an Kiosken und Destillen versammelt.16 Fahne an Fahne, Banner an Banner, überall Freude und Frohsinn. Viele Berliner versuchten, einen Blick in die Zeitungen zu erhaschen, die Blätter waren voll von Siegesmeldungen. Einige Passanten lasen die wichtigsten Zeilen laut vor, immer wieder brach Jubel aus. Berichtet wurde von "der Tapferkeit deutscher Truppen, die sich aufs Glänzendste bewährt haben"17 und einem "großen Sieg bei Weißenburg".18 Lina beobachtete Männer, die tanzten und sich betranken.
Das Kriegsministerium hatte auch ihre Kolleginnen vom Verein der Berliner Volksküchen holen lassen. Lina wusste, was es bedeutet, für fünfhundert Menschen in wenigen Stunden ein warmes Essen bereiten zu müssen. Sie instruierte ihre Helferinnen, aus der Volksküche in der Invalidenstraße umgehend Reserven zu besorgen: Bohnen, Reis, Zwiebeln, Speck. Und sie bat ihre langjährige Freundin Maria Gubitz, die Kessel im Güterschuppen in der Nähe des Bahnhofs anzufeuern. Würde das für ein "Siegesfest" reichen?19
Als Lina den Bahnsteig betrat, musste sie sich an Neugierigen vorbeidrängen, die begeistert patriotische Lieder sangen. Die Menschen waren gekommen, um die "Vernichtung des Feindes" mit ihren "heimkehrenden Helden" zu feiern, die "alle gekämpft hatten wie die Löwen!"20
Mit einem schrillen Pfiff rollte der angekündigte Zug in die Station. Acht Waggons. Voll besetzt. Kaum stiegen die ersten Helden aus, verstummten plötzlich die euphorischen Berliner, die Jubelstimmung brach in sich zusammen, ein seltsames Schweigen breitete sich aus.
Die meisten Soldaten konnten kaum aus eigener Kraft die Waggons verlassen. Viele hatten einen Arm oder ein Bein verloren, andere waren durch Verletzungen im Gesicht oder am Körper entstellt, Verbände hingen blutig und verdreckt von Kopf oder Gliedmaßen. Die "siegreichen Helden" wirkten wie "dem Tod geweihte Verlierer".21 Überall blutende, schreiende und sterbende Krieger.
Was in den folgenden Wochen passierte, hat Lina tief geprägt. Um die Ankommenden zu versorgen, arbeitete sie mit den von ihr organisierten freiwilligen Helferinnen nahezu Tag und Nacht, bis zur totalen Erschöpfung. In zwölf Monaten schlief sie nur zwanzig Nächte bei ihrer Familie.22
Zusammen mit ihren Kolleginnen versorgte Lina etwa 300.000 Menschen und rettete in den von ihr privat improvisierten Lazaretten über 6000 Verletzte, Freund und Feind.23 Trotzdem wurde sie schikaniert. Von Regierungsstellen und Militär. Von der patriotischen Presse. Und von antisemitischen Zeitgenossen. Allesamt Männer. Diese drohten, sie vor Gericht zu zerren, führten sie als Verräterin vor und versuchten, Lina samt Familie um ihre Existenz zu bringen.
Spätestens in diesen Wochen muss sich in ihr eine Wut breitgemacht haben, ein Feuer, das sich später zu einem Flächenbrand entwickelte - ihr Kampf für Gleichberechtigung, Benachteiligte und Frieden. Denn kaum eine andere Frau hat in den folgenden...
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