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EINLEITUNG
Nach dem islamistischen Anschlag auf die Satirezeitschrift Charlie Hebdo im Januar 2015 hielten Demonstranten Schilder hoch, auf denen nur ein Name stand: Voltaire. Dieser Name war ein Programm mit konkreten Forderungen: uneingeschränkte Denk-, Meinungs- und Publizierfreiheit und damit das Recht, alle Ideologien und Glaubenssysteme öffentlich zu hinterfragen, zu widerlegen und gegebenenfalls zu verspotten. Allerdings ist zweifelhaft, ob diese Botschaft, die durch Fernsehbilder um die Welt ging, bei denen ankam, an die sie gerichtet war. Die meisten Zuschauer dürften sich stattdessen gefragt haben: Wer war Voltaire, und was hatte er mit dem blutigen Attentat zu tun? Wer um dieselbe Zeit im Souvenirshop des Pariser Panthéon, wo Voltaire im Juli 1791 von den französischen Revolutionären eine pompöse Ehrengrabstätte erhielt, eine Gipsbüste von ihm verlangte, wurde enttäuscht: Produktion mangels Nachfrage eingestellt. Der Aufruf und das Desinteresse zeigen eine Diskrepanz: Voltaire steht für eine Weltsicht und ein Wertesystem, ja sogar für eine ganze Epoche - das achtzehnte Jahrhundert wird in Frankreich auch le siècle de Voltaire, «das Jahrhundert Voltaires», genannt. Trotzdem ist er heute nicht mehr wirklich präsent. Damit ist das Anliegen dieser Biographie umrissen: Sie will den historischen Voltaire, das heißt Voltaire in seiner Zeit und in der Auseinandersetzung mit seiner Zeit hinter allen plakativen Vereinnahmungen und Entstellungen vor Augen führen und ihn so für die Gegenwart zurückgewinnen. Zu entdecken ist ein lebenslanger Provokateur, der mit Spott und Scharfsinn alle scheinbaren Gewissheiten infrage stellt, dem man deshalb Zersetzung vorgeworfen hat, der aber stets auf konstruktive Weise verneint.
Ein weiterer Vorwurf gegen Voltaire, speziell aus dem theorieverliebten Deutschland, lautet seit jeher: Er hat alle philosophischen Systeme zerstört, aber kein eigenes System begründet. Gerade darin aber liegt die Größe Voltaires und seine Aktualität für die Gegenwart: Er fragt nicht, welches der beste Staat ist, sondern hinterfragt Entwürfe und Träume von «besten Staaten». Wem nützt diese Staatsform und warum, für welche Gesellschaft und welche Kulturstufe ist sie tauglich, und wie lange wird sie voraussichtlich Bestand haben? Für Voltaire ist alles Bestehende ein Provisorium, das stets mit seiner Abschaffung im Namen der Vernunft zu rechnen hat. Allein die absolute Freiheit, alles, auch das angeblich Undenkbare, zu denken und zu sagen, muss von Dauer sein.
In diesem Zeichen steht Voltaires Textproduktion, die an Menge, Vielfalt der Genres, Breite der Themen, Virtuosität der Stilformen und Vehemenz der Polemik ihresgleichen sucht. Fast fünfzig Theaterstücke decken die ganze Bandbreite vom blutrünstigen Drama bis zur leichtgeschürzten, sketchartigen Komödie ab. Von den beiden umfangreichen Versepen ist das eine von hohem Pathos beseelt, während das andere von ätzendem Hohn durchtränkt ist. Unter den fünf monumentalen Geschichtswerken findet sich eine Gesamtdarstellung der menschlichen Zivilisationsgeschichte von den Uranfängen bis zum siebzehnten Jahrhundert. Die zahlreichen «philosophischen» Novellen decken unter einer oft märchenhaften Einkleidung die Widersprüche der menschlichen Lebensbedingungen erbarmungslos auf. Hunderte von Kampfschriften fordern im Namen der Aufklärung Toleranz und radikale Veränderungen in allen Lebensbereichen. Und schließlich sind weit mehr als 20.000 Briefe erhalten, die nicht nur das eigene Leben, oft ironisch gebrochen, reflektieren, sondern auch das Zeitgeschehen perspektivenreich kommentieren.
Von diesem gigantischen Ouvre ist heute nur noch ein einziger Satz im kollektiven Gedächtnis abgespeichert: «Wir müssen unseren Garten bestellen», verkündet Candide, der Protagonist der gleichnamigen Novelle, als Fazit einer bewegten Lebensfahrt. Doch das ist nicht als platte Lebensweisheit gemeint, die uns alle zu selbstzufriedenen Kleingärtnern machen soll. Es ist vielmehr ein Schlussstrich unter eine nachtschwarze Weltdiagnose, nach der der Mensch dem Menschen ein Wolf ist. Das gilt auch für die wenigen Überlebenden, die sich, seelisch und körperlich schwer beschädigt, auf ihre kleine Insel im Bosporus gerettet haben. Die Fähigkeit zum reinen Glück ist dem Menschen nicht gegeben, umso mehr muss er danach streben, seine Lebensumstände Schritt für Schritt zu verbessern. Voltaire hat im letzten Drittel seines Lebens selbst große Gärten gepflegt und dort sogar Blumenzwiebeln gepflanzt. Doch auch seine Gärten waren von Idylle weit entfernt. Was an seinen Wohnstätten für ihn am meisten zählte, waren die Fluchtwege. Für seine Bewunderer in der aufgeklärten Öffentlichkeit Europas war Voltaire vieles: der mutige Kämpfer gegen den Glaubensterror einer mächtigen Monopolkirche, der unermüdliche Aufdecker mörderischer Justizskandale, der unerbittliche Hinterfrager aller Ideologien und somit die Stimme der Vernunft gegen religiöse Hirngespinste aller Art. Für seine Feinde vom katholisch-konservativen Lager war er der diabolische Leugner ewiger Wahrheiten, der Untergraber der sozialen und moralischen Ordnung, der Zersetzer aller Werte. Nach seinem Tod ließ sich selbst dieses düstere Bild noch weiter verdunkeln. Für die Generationen seiner Enkel und Urenkel, die sich einer gefühlsbetonten Romantik zuwandten, war Voltaire, der radikalste und unerbittlichste aller Aufklärer, die unheimliche Verkörperung des reinen Rationalismus ohne jede Spur von Gefühl oder gar Mitgefühl, ja geradezu ein Dämon, der sein sarkastisches Lachen über eine leidende Menschheit ausschüttete, der er selbst mangels Empathie nicht angehörte. Bis heute spaltet sein Name sein Land in zwei Lager, für oder gegen die Aufklärung und die Prinzipien von 1789, die aus ihr hervorgingen. Einen posthumen Triumph feierte er 1905, als Frankreich die konsequente Trennung von Kirche und Staat vollzog und die Religion damit zu dem machte, was sie laut Voltaire immer hätte sein sollen: reine Privatsache.
Wer war Voltaire wirklich? Diese Frage wurde Voltaire selbst im letzten Vierteljahrhundert seines langen Lebens immer wieder gestellt. Als Antwort darauf hat er sich mit ausgeklügelten literarischen Kunstgriffen in Dutzende von Facetten aufgelöst und damit allen eindimensionalen und eingängigen Deutungen entzogen. Die irritierend vielfältigen Selbstbilder zeichnete er vor allem in Tausenden von Briefen an Freunde und Feinde, die meist in breiteren Kreisen zirkulierten. Darin stellte er sich in einer Vielzahl von Posen, Rollen und Seelenverfassungen dar: als chronisch krank, friedliebend und milde spöttisch; als kämpferisch, polemisch und unerbittlich; als verfolgt, verletzt und verloren; als souverän, distanziert beobachtend und kühl sezierend; als menschenfreundlich, Anteil nehmend und zur Mäßigung mahnend; als hochfahrend, apodiktisch und verdammend; als gelassen, verständnisvoll und ironisch in eigener Sache. All diese Ego-Splitter bilden jeweils einen Aspekt und Ausschnitt einer Persönlichkeit, die sich tarnen musste, weil sie früh im Zentrum öffentlicher Aufmerksamkeit stand.
Die literarische und höfische Öffentlichkeit, die Voltaire erreichte, war weder offen noch frei, sondern ihre Akteure wurden observiert, kontrolliert, zensiert und gegebenenfalls bestraft. In Frankreich (und in den meisten anderen Ländern Europas) musste zu Lebzeiten Voltaires jedes Druckerzeugnis den zuständigen Behörden zur Genehmigung vorgelegt werden. Wenn eine solche Approbation nicht zu erwarten war, erschien es im Untergrund, das heißt mit falscher (oder gänzlich ohne) Autoren- und Verlagsangabe. Gedruckt wurde dann oft jenseits der Landesgrenze. Ein solches Versteckspiel der einen oder anderen Art war bei fast allen Werken Voltaires unverzichtbar. Täuschen ließen sich Zensoren und Leser von diesen Verschleierungsaktionen allerdings selten, so unverwechselbar waren Stil, Haltung und Aussage seiner Schriften. Obwohl die Beweise für seine Verfasserschaft oft über jeden Zweifel erhaben waren, hat Voltaire die Vertuschungs- und Irreführungsstrategien virtuos auf die Spitze getrieben: mit ausdrücklichen Verleugnungen oder erfundenen Autorennamen zum Schutz gegen Verfolgung, aus Lust am Spiel mit der Verkleidung und Verfremdung, aber auch mit der Botschaft: Es geht nicht um Personen und erst recht nicht um ihre Profilierungsbedürfnisse und Eitelkeiten, sondern um die Sache, und dieser ist Anonymität häufig förderlicher.
Die meisten Abhandlungen Voltaires zu Gott und Welt, Mensch und Geschichte, Unsterblichkeit oder Vergänglichkeit sind in der Form von erfundenen Gesprächen zwischen Vertretern unvereinbarer Positionen und Weltanschauungen gestaltet. Mit solchen literarischen Rollenspielen konnte er radikale...
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