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Für Pier Paolo Pasolini war der Verlust der Lebensordnung das Problem. Der 1975 in Ostia ermordete Autor und Regisseur diagnostizierte diese Orientierungslosigkeit bei den Römern der jungen, nach 1945 geborenen Generation. Ihre Vorfahren waren in ein vorgegebenes Gefüge hineingewachsen, das für alle Lebenssituationen approbierte Verhaltensweisen bot. Diese wiederum waren mit überkommenen Riten verknüpft. Ritualisiert war nicht nur der Alltag, sondern auch dessen Durchbrechung, etwa in Protest, Widerstand und Aufruhr. Diese Lebensordnung verband Zeit und Ewigkeit, Natur und Übernatur, Gegenwart und Vergangenheit, die Lebenden und die Toten.
Ob diese Lebensordnung am Tiber ganz verschwunden ist, lässt sich mit guten Gründen bezweifeln. Die Bettler des Jahres 2011 sammeln ihre Almosen an denselben Plätzen wie vierhundert Jahre zuvor. Die Anziehungskraft "aristokratischen" Auftretens kann man jeden Sonntag ab 17 Uhr in den Straßen um die Spanische Treppe mit eigenen Augen ermessen. Dann nämlich beginnt die volta, der Paradespaziergang der Familien, die etwas gelten wollen und deshalb durch Kleidung und Gestus ihre Geschlossenheit und ihren Rang vor Augen zu führen versuchen, und zwar umso aufwendiger und angestrengter, je weniger beides vorhanden ist. Ein weiterer Zweck dieser rituellen Präsentation besteht darin, Vernetzung sichtbar zu machen: Höhergestellte werden entsprechend unterwürfig, verbündete Gleichrangige freundschaftlich, tiefer Rangierende, sofern nützlich, leutselig gegrüßt. Der Appell an das christliche Mitleid, die Allgegenwart der Propaganda, die ständische Abstufung der Gesellschaft, die Notwendigkeit zu repräsentieren und der Stellenwert der Klientelverbände - diese (und nicht wenige weitere) Merkmale des heutigen Rom sind ein Erbe der Vergangenheit.
Die gültige, bis in die Gegenwart prägende Lebensordnung Roms bildete sich im 17. Jahrhundert aus. Die Stadt zehrt bis heute von dieser Vergangenheit: Das äußere Erscheinungsbild des Papsttums und der Kirche, der Straßen und Plätze ist in hohem Maße von dieser Zeit bestimmt, ebenso die Anziehungskraft auf die Fremden und damit der Tourismus als Hauptgewerbe und wichtigste Einnahmequelle. Dementsprechend trauerte Rom diesem "Goldenen Zeitalter" lange nach, manches von dieser Sehnsucht lebt bis heute fort. Alle Veränderungen der Folgezeit waren von außen erzwungen: die liberale Revolution von 1798, die Reformen im Zeitalter Napoleons, der "Anschluss" an das Königreich Italien 1870. Die Römer selbst blieben an diesen Wendepunkten ihrer Geschichte ganz überwiegend passiv, um bald danach die Rückkehr zur vermeintlich guten alten Zeit herbeizuwünschen.
Warum diese Beharrungskraft und diese Nostalgie? Was machte die "Lebensform Rom" im 17. Jahrhundert in den Augen so vieler Römer so vorbildlich? Eine weitere Analogie zum 21. Jahrhundert sticht sofort ins Auge: Der Glanz des "barocken" Zeitalters und damit auch die vorherrschende soziale Stabilität war erborgt, da auf Schulden gegründet. Rom konnte sich seine große Zeit zu keinem Zeitpunkt wirklich leisten. Das galt für alle Schichten: Die Verwandten der Päpste, die die Stadt in jeder Hinsicht dominierten, gaben Geld aus, das ihre "Wohltäter", die Päpste, aus den Ressourcen der Kirche abzweigten oder als Kredit aufnahmen. Doch auch die große Masse lebte unerhört privilegiert: In Rom herrschte - von wenigen, dramatischen Ausnahmen abgesehen - eine Stabilität des Brotpreises und damit der Lebenshaltungskosten, die den Armen das garantierte, was ein guter Herrscher als heiligste Pflicht zu leisten hatte: Überlebenssicherheit. Auch weitere Forderungen der kleinen Leute wurden erfüllt - zum Brot kamen die Spiele. Rom war die Stadt der lebenden und gemalten Bilder, der dauerhaften wie der vergänglichen Bildwerke aus Stein oder Pappmaché, der Illuminationen, Feuerwerke, künstlichen Überschwemmungen und Seeschlachten, in einem Wort: der Spektakel, des permanenten Augenschmauses. Zum Armenrecht auf Speisung kam der Anspruch auf Unterhaltung, zur Stabilität die Bewegung, zur Beharrung die Unruhe. Beides zusammen macht das Lebensgefühl des 17. Jahrhunderts aus. Sein städtebauliches und poetisches Sinnbild ist der Brunnen: eherne, unvergängliche Schale und funkelnd fließendes Wasser.
Die Kombination von beidem ist zugleich das Leitmotiv der päpstlichen Selbstdarstellung und Propaganda. Der rasende, reißende Fluss der Geschichte schwemmt Staaten und Fürsten empor und zieht sie wieder herab, doch das Papsttum steht über diesen Strudeln. Im Amt des Stellvertreters Christi auf Erden und in der Lehre der Kirche wandelt sich nur die Form, die Substanz aber bleibt unter allen Veränderungen der Oberfläche gleich. Von diesen Erschütterungen kann der Nachfolger Petri als Mensch ergriffen und gebeutelt werden, doch die Institution bleibt davon unberührt und unzerstörbar. Denn ihr ist die Hilfe Gottes gewiss, die der Papst als Statthalter des Himmels auf Erden nur abzurufen braucht: Botschaften, die die päpstlichen Auftragskunstwerke in Rom tausendfach verkünden.
Überhaupt ist Rom die Pionierstadt in Sachen Medien und Propaganda. Seit Nikolaus V. (1447-1455) ist es das Bestreben der Päpste, ihre Hauptstadt zum Spiegel ihres Amts und ihres Ranges zu gestalten. Die Medici in Florenz hatten eine Generation zuvor die Macht der Bilder und Bauten für die Zwecke der Herrschaftsfestigung und des Herrschaftsausbaus entdeckt. Sie hatten "ihre" Stadt mit eindrucksvollen Herrschaftszeichen ausgestattet, die ihre göttliche Vorherbestimmung zur fürstlichen Macht unter Beweis stellen sollten. Doch sie waren nie so weit gegangen, die lebende Stadt in diese Inszenierung mit einzubeziehen. Dieses Experiment blieb den Päpsten vorbehalten. Mehr noch: Diese mussten es wagen. Denn gemäß eigener Auslegung war die Macht des Papsttums von dieser Welt und zugleich nicht von ihr, denn sie beruhte auf den biblischen Einsetzungsworten Christi: Du bist Petrus, und auf diesen Felsen will ich meine Kirche bauen. Sie prangen wie eine Art Grundgesetz im Inneren von Michelangelos Petersdom-Kuppel. Diese Herrschaftsbegründung zeitlicher und überzeitlicher, politischer und geistlicher Art aber wurde von den Reformatoren ab 1520 vehement bestritten.
Die wirkungsvollste Methode, diesen doppelten Herrschaftsauftrag unter Beweis zu stellen, bestand darin, die Stadt mit ihren Einwohnern auf einer immer glanzvoller ausgestalteten Bühne mit immer kostbareren Kulissen in einem immer sorgfältiger ausgearbeiteten Schauspiel immer eindrucksvoller vor Augen zu führen. Bei dieser Inszenierung verstanden sich die Päpste als Drehbuchschreiber und Regisseure in einer Person. Doch dieser Anspruch erwies sich als nicht durchsetzbar. Die Römer aller Schichten waren nicht bereit, als willenlose Komparsen zu agieren; sie hatten eigene Vorstellungen von ihrer Rolle und von dem Stück, in dem sie auftreten sollten. Das Ergebnis war die Lebensordnung des 17. Jahrhunderts mit all ihren Ritualisierungen, ihrer minutiös ausgefeilten Darbietung von Herrschaft und Gefolgschaft, Geben und Nehmen, Anbindung und Eigenständigkeit. Doch nicht nur die Mitgestaltung der verschiedenen römischen Adelsklassen, der auswärtigen Botschafter, der Advokaten und kleinen Leute erzwang Veränderungen des Skripts, auch die tiefen Meinungsverschiedenheiten innerhalb der kirchlichen Führungsschicht selbst machten Kompromisse in der Inszenierung unumgänglich. In keinem anderen Herrschaftssystem waren die Ansichten darüber, wie, nach welchen Vorgaben, mit welchen Zielsetzungen und Formen der Selbstdarstellung regiert werden sollte, so tief gespalten wie in Rom. Hier war das Führungsgremium der Kardinäle seit anderthalb Jahrhunderten in nahezu allen Grundsatzfragen zutiefst zerstritten: Durften die Päpste ihre Verwandten fördern, und falls ja, wie intensiv? Sollten die Führungspositionen am päpstlichen Hof nach dem Grundsatz des Verdiensts und der Leistung allein oder auch durch Empfehlung einflussreicher Persönlichkeiten bzw. durch Verwandtschaft mit diesen besetzt werden? War es angebracht, "heilige" Päpste zu wählen, die die Welt durchgreifend verbessern wollten, oder war ein Petrus-Nachfolger die bessere Lösung, der nach dem Motto "Leben und leben lassen" regierte? Sollten auch die höchsten Kleriker nur von den Erträgen einer einzigen Pfründe leben, und falls nein, wie viele solcher "Benefizien" durften sie maximal übertragen bekommen?
In allen diesen Fragen gab es in Rom nie einen Konsens, sondern immer nur Kompromisse. Sie schlugen sich in Normen nieder, die immer nur für eine begrenzte Zeit galten, nie wirklich eingehalten wurden und deshalb maximal eine Überbrückungsfunktion hatten: Sie ließen moderate Vertreter verschiedener Richtungen aufeinander zu gehen und erlaubten damit mehrheitsfähiges Handeln. Vor allem aber gestatteten sie, die unliebsamen Aspekte einer Realität zu verdrängen, die durch permanente Abweichung von diesen Normen geprägt war. Die römische Lebensordnung des 17. Jahrhunderts ist von dieser Ausblendung, der Selbsttäuschung, die sie förderte, und damit von hoher Flexibilität innerhalb eines unverrückbaren Rahmens geprägt - auch das eine Übereinstimmung zum 21. Jahrhundert, in dem das Euro-Europa permanent gegen die selbst gesetzten Normen verstößt, doch diese Verletzung der eigenen Regeln entweder rechtfertigt oder ganz totschweigt.
Nur eine Lebensordnung, die solche Widersprüche zu einem Ganzen verschmolz, konnte in Rom populär und im Rückblick zu einem goldenen Zeitalter werden. Diese Widersprüche waren im Rom des 17. Jahrhunderts...
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