Schweitzer Fachinformationen
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Der Tod kommt in die alte Stadt
Capitaine Roger Blanc lebte nun schon beinahe ein Jahr in der Provence und hatte in dieser Zeit eine Theorie über Morde entwickelt. Eine Theorie, die er allerdings besser für sich behielt, weil sie nach Aberglauben klang: Je schöner der Tatort, desto hässlicher das Verbrechen. Und der Tatort, zu dem sie an diesem Morgen gerufen wurden, war im ganzen Süden berühmt für seine Schönheit.
Seine Kollegen Marius Thonon und Fabienne Souillard saßen mit ihm im schweren Peugeot 5008 der Gendarmerie, während sie mit Blaulicht und Martinshorn über die Route Départementale 5 rasten. Blanc kannte die beiden inzwischen sehr gut, und doch fragte er sich, ob ihnen wohl je ähnliche Überlegungen durch den Kopf gegangen waren wie ihm. Vermutlich hätten sie seine Gedanken als seltsam unprofessionell empfunden. Ein Mord blieb ein Mord, ob er nun in einer modernen Villa im Luberon oder in einer heruntergekommenen Wohnung der Quartiers Nord von Marseille begangen worden war, und es war nun einmal der Job der Flics, eine Bluttat so schnell wie möglich aufzuklären. Also schwieg Blanc lieber.
Die Sonne stand tief im Osten, ihr Licht war gelb, sanft, schmeichelnd. Die älteren Einheimischen wie Marius, der ewige Provenzale, schwärmten vom Juni als dem schönsten Monat des Jahres, dem üppigen Frühlingsfinale, das noch nicht mehr als eine Vorahnung des glühend langen Sommers war. Doch eigentlich hatte es schon seit ein paar Jahren keinen milden Juni mehr gegeben. Es war erst der zehnte Tag des Monats, und der Wetterbericht von Météo France kündigte für die nächste Woche bereits Temperaturen von bis zu vierzig Grad an. Bauern und Zimmerleute würden in der Glut arbeiten, Schüler in saunaheißen Klassenräumen ihre Abschlussklausuren schreiben, Krankenschwestern wie Blancs Geliebte Paulette in Altersheimen und Hospitälern einen verzweifelten Kampf gegen die Dehydrierung ihrer Patienten führen - und Flics fuhren mit Vollgas zum Tatort, weil sie wussten, was diese Junisonne innerhalb weniger Stunden mit einer Leiche anrichtete.
Doch noch war die Morgenluft mild, die durch heruntergelassenen Seitenscheiben strömte und Blancs Stirn kühlte. Vor ihnen ragten die Alpilles auf, aus der Ferne wirkten sie wie Berge aus blauem Glas, fast glaubte man, durch sie hindurchsehen zu können. Mit jedem Kilometer, den er näher heranraste, schälten sich jedoch immer feinere Details aus dem dunstigen Frühlicht: graue Felsklippen, wohl zweihundert, dreihundert, vierhundert Meter hoch, mürbes Gestein, an den Hängen Wälder wie Flickenteppiche, weil der Boden zu steil und karg war, als dass die Bäume dicht an dicht wachsen könnten. Der Luftstrom trug den Duft von Aleppo-Kiefern und Pinien ins Auto. An den Berghängen, die bereits im Sonnenlicht badeten, erwachten die Zikaden. Ihr tausendfacher sägender Lockruf füllte die Täler und übertönte sogar das Grummeln des schweren Dieselmotors. Die Garrigue blühte, weiße, violette, gelbe, rote Farbkleckse leuchteten im Gesträuch. Aus den Augenwinkeln sah Blanc einen Schatten, der unter einem Ginster verschwand, vielleicht ein Kaninchen oder ein Fuchs, ein flinkes Tier jedenfalls, das erschrocken vor dem Streifenwagen flüchtete, der nun mit quietschenden Reifen die Serpentinen im Vallon de Notre-Dame-de-Laval erklomm, ein Tal, das sich wie eine Schneise quer das Gebirge zog. Er schaltete das Martinshorn ab, endlich waren sie allein auf der Straße.
Ihr Ziel war Glanum, eine antike Stadt am Nordrand der Alpilles, das Pompeji der Provence, griechische und römische Ruinen. Musste ganz toll sein, Blanc hatte schon viel davon gehört, wollte mit Paulette auch immer mal hin, aber wie das so war: Sie hatten nie Zeit gefunden. Er seufzte so leise, dass die Kollegen es nicht hörten. Jetzt würde er vermutlich mehr als genug Zeit haben, sich dort umzusehen.
Der Notruf war vor etwas mehr als einer halben Stunde eingegangen, die Direktorin von Glanum hatte die Gendarmerie alarmiert. Die Ruinen lagen nur einen Steinwurf von Saint-Rémy entfernt, dem populärsten Touristenort der ganzen Region. Da viele Besucher zu den antiken Stätten strömten, wurden die Zugänge bereits am frühen Morgen aufgeschlossen. Die Direktorin hatte, offenbar war das Routine, zuvor einen Kontrollgang gemacht - und war dabei auf einen Toten zwischen den Ruinen gestoßen. Die Frau hatte am Telefon ziemlich gefasst gewirkt. Sie wusste auch, wer der Tote war: Gaspard Rouge, achtundzwanzig Jahre alt, ein Archäologe der Sorbonne, der vor zwei Wochen mit Kollegen aus Paris angereist war, um in Glanum Grabungen durchzuführen.
»Können Sie mir irgendeinen Hinweis auf die Todesursache geben?«, hatte Blanc die Anruferin gefragt. Einen Augenblick lang hatte er die Hoffnung gehabt, nun ja, »Hoffnung« mochte zynisch klingen, aber, ja doch, die Hoffnung gehabt, dass es sich um einen Unfall handeln könnte, denn Unfälle waren zwar tragisch, doch taten sich da nicht solche menschlichen Abgründe auf wie bei Morden. Ein junger Archäologe bei der Arbeit, mon Dieu, vielleicht war er unaufmerksam gewesen und von einer Klippe gestürzt oder von einer umstürzenden antiken Säule erschlagen worden oder was auch immer.
»Die Wunde am Kopf sieht für mich aus wie ein Axthieb oder ein Einschuss«, hatte die Direktorin ruhig geantwortet, »jedenfalls ist alles voller Blut.«
Schöner Tatort, hässliches Verbrechen, eh merde.
Irgendwann wurde Blanc das Schweigen seiner beiden Mitfahrer dann doch zu belastend. »Warum ermordet man einen Archäologen bei der Ausgrabung?«, murmelte er. Das war, wenn man es genau nahm, eine idiotische Frage, denn was sollten seine Kollegen schon darauf antworten? Mon Dieu, irgendetwas mussten sie sagen.
Fabienne bequemte sich zu einem »Wir werden es ja gleich sehen. Es sind nur noch zwei oder drei Kilometer«. Sie war schwanger, sie wollte fort aus dem Süden, ihre Ehe kriselte - eine frische Leiche war so ziemlich das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte.
»Ist ja nicht mal sicher, dass der Kerl ermordet wurde«, brummte Marius. »Du kannst auch auf anderen Wegen mit blutigem Schädel in die Ewigen Jagdgründe wandern, Selbstmord zum Beispiel.« Er kratzte sich am Kopf und brachte sein ungekämmtes schwarzes Haar noch mehr in Unordnung. Unter seinen Augen lagen dunkle Ringe, er trug ein Hawaiihemd in schrillsten Farben, das hatte ihm seine Lebensgefährtin Soumia garantiert nicht herausgelegt.
Fabienne ist angeschlagen, und Marius wird doch nicht etwa verkatert sein? Blanc musste sich eingestehen, dass er nicht gerade mit der besten Gendarmerietruppe Frankreichs anrückte.
Über Funk meldete sich ein Beamter der Police Municipale von Saint-Rémy. »Wir haben das Gelände abgesperrt, mon Capitaine«, berichtete er. »Aber Sie können direkt bis zum Eingang von Glanum fahren. Wir haben einen Code D-C-D.«
Code D-C-D, auch das noch, dachte Blanc. Sprach man die Buchstaben schnell hintereinander aus, dann klang es wie décédé, »verstorben« - Flics, Feuerwehrleute und Rettungssanitäter benutzten diese Abkürzung, wenn Menschen in der Nähe waren, denen man diese Wahrheit nicht zumuten wollte.
»Bei mir sitzt niemand im Auto, der nicht hierhergehört«, versicherte er. »Schießen Sie los: Was wissen Sie?«
»Schießen ist das richtige Stichwort«, antwortete der Polizist. »Das sieht verdammt nach Kopfschuss aus, direkt in die rechte Schläfe.«
»Das zu den vielen Wegen in die Ewigen Jagdgründe«, flüsterte Blanc und blickte zu Marius hinüber.
Der zuckte mit den Achseln. »Bleibt immer noch Suizid als Möglichkeit.«
»Liegt eine Waffe neben dem Toten?«, wollte Blanc über Funk wissen.
»Ich glaube nicht. Wir haben zumindest noch keine gefunden.«
»Putain«, fluchte Marius, als sei es die Schuld des Opfers, von fremder und nicht von eigener Hand getötet worden zu sein.
Blanc beschloss, den Ausbruch seines Kollegen zu ignorieren. »Gibt es einen Verdächtigen, eine heiße Spur, gar einen Verhafteten?«
»Die Direktorin des Museums hat die Leiche heute Morgen gefunden und die 17 gewählt. Sie war die einzige Person weit und breit. Den eingetrockneten Blutspuren nach zu urteilen wurde der Mann aber schon vor einigen Stunden erschossen, irgendwann in der Nacht, vermute ich. Und Spuren? Eh bien, hier sieht alles aus wie immer.«
»D'accord, Kollege, vielen Dank, gute Arbeit«, gab er durch. »Noch handelt es sich nur um eine Voruntersuchung der Gendarmerie, aber das ist nur eine Formsache. Der Staatsanwalt wird sicher eine Enquête de flagrance einleiten, volle kriminalistische Ermittlungen, das ganze Programm: Spurensicherung, Gerichtsmedizin und, das lässt sich wohl kaum vermeiden, dann auch die Presse. Wir brauchen Parkplätze für mehrere Streifenwagen, den Transporter der Spurensicherung, das Auto der Rechtsmedizinerin, den Leichenwagen. Gleichzeitig dürfen die Reporter nicht zu nahe herankommen. Sie müssen den Zugang also filtern können. Glanum liegt nicht mitten in der Stadt, sondern am Rand der Alpilles, richtig?«
»Ja, mon Capitaine, die Ruinen erstrecken sich in einem Tal, das in die Berge hineinreicht. Ziemlich einsam, obwohl man von Saint-Rémy aus zu Fuß hinkommen kann.«
»Dann müssen Sie nicht bloß die Straße und den Haupteingang absperren, sondern auch die Wanderwege in der Umgebung, die Wälder, die Garrigue, einfach alles. Niemand darf sich auf Umwegen dem Tatort nähern. Vielleicht brauchen wir auch Planen, Zelte, irgendeine Form von Sichtschutz.«
»Das . nun, ich habe bloß ein paar Leute.«
»Ich fordere...
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