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8. November 1935, 20 Uhr. Halb München ist auf den Beinen. Man will das großartige Ereignis nicht verpassen, das seit langem angekündigt wird. Auch das Wetter spielt mit. Kein Frost, kein Schnee, kein früher Wintereinbruch. Auf dem Nord-, dem Ost- und dem Waldfriedhof setzen sich Trauerzüge in Bewegung. Auf Lafetten der Reichswehr liegen insgesamt 16 Sarkophage. Jeder einzelne ist bedeckt mit einer schimmernden, samtenen Hakenkreuzfahne, in die der Name des Toten goldfarben eingestickt ist. Gegen 23 Uhr vereinigen sich die drei Züge am Siegestor und biegen dann in die Via Triumphalis ein, die von dort gerade auf die Feldherrnhalle zuführt. Menschenmassen bilden ein gewaltiges Spalier. Es herrscht absolute Stille, nur unterbrochen von dumpfem Trommelschlag, der allmählich stärker und stärker wird. Alle Lampen und Lichter, alle Straßenlaternen sind gelöscht. Nur von der Feldherrnhalle her glüht glutrotes magisches Licht, dessen Bann sich keiner entziehen kann. Kurz vor Mitternacht treffen die Sarkophage dort ein und werden in der Feldherrnhalle aufgebahrt. Dann geht Hitler allein die Treppen hoch, bleibt vor jedem der 16 Särge stehen und grüßt ihn mit ausgestrecktem Arm. Das Regime feiert seine toten «Helden», die «Märtyrer» des 9. November 1923.
So begann die weihevollste Inszenierung der NS-Propaganda, die zugleich ihre perfideste war. Das Spektakel war von langer Hand vorbereitet worden. Im Verlauf des Jahres hatte man auf dem Münchner Königsplatz zwei «Ehrentempel» errichtet, offene Säulenhallen mit jeweils acht Plätzen für Sarkophage. Hier sollten die Toten von nun an «ewige Wache» für Deutschland halten. Anfang November hatte man die Leichname der 16 Männer exhumiert und für ihre letzte Reise hergerichtet.
Während der Nacht bleiben die 16 Sarkophage in der Feldherrnhalle. Wer mag, hat bis morgens um 10 Uhr Gelegenheit, an ihnen vorbei zu defilieren. In schier endlosen Schlangen verneigen sich Menschen vor den «Gefallenen der Bewegung».
Am späten Vormittag des 9. November folgt der zweite Akt der Inszenierung, der Marsch vom Bürgerbräukeller zur Feldherrnhalle. Die Route ist dieselbe wie 1923, aber nun sind im Abstand von 20 Metern links und rechts der Straße dunkelrotverkleidete Pylonen aufgestellt, die auf ihrer Spitze eine Rauchpfanne mit einem «Opferfeuer» tragen. Im langsamen Gleichschritt marschieren Hitler und seine «Blutordensträger» die Strecke entlang. Beständig ist das Horst-Wessel-Lied zu hören. Jedes Mal, wenn die Spitzengruppe eine Pylone erreicht, bleibt der ganze Zug kurz stehen, und eine Lautsprecherstimme ruft den Namen eines Toten. Wieder stehen Massen von Menschen am Weg des Zuges. Der Rundfunk überträgt direkt und gibt sich größte Mühe, die weihevolle Stimmung in die Wohnzimmer zu bringen.
An der Feldherrnhalle schließt sich der dritte Akt an, die Überführung der Särge in die Ehrentempel auf dem Königsplatz. Die Auferstehung nach dem Opfertod ist jetzt das große Thema. Die Trauerprozession wird zum Siegeszug. Unter den Klängen des Deutschlandliedes werden jeweils acht Sarkophage in die beiden «Ehrentempel» gebracht. Dann werden die Fahnen an den beiden großen Masten auf dem Königsplatz von Halbmast auf Vollstock gezogen.
Propaganda muss einfache Geschichten erzählen, wenn sie wirken soll, und sie muss es auf hochemotionale Weise tun. Für viele der Zeitgenossen war es ganz großes Kino, was ihnen nicht nur 1935, sondern Jahr für Jahr in München und im Radio am 8. und 9. November geboten wurde. Schon 1933 war die Geschichte vom Opfergang der «Märtyrer», der erst das Dritte Reich möglich gemacht habe, zum Kern einer Geschichte gemacht worden, die bis 1944 erzählt wurde.
Von den positiven Konnotationen dieser Geschichte hat man sich nach dem Ende des NS-Regimes verabschiedet, aber ihre Kernelemente sind zunächst erhalten geblieben. Der Hitlerputsch galt weiterhin als Hitlers Putsch - und nur als Hitlers Putsch. Die getöteten Putschisten wurden nach wie vor allesamt als Nationalsozialisten bezeichnet. Vor allem aber hatte der Kern der nationalsozialistischen Erzählung weiter Bestand, die enge Verknüpfung des Putsches am 8./9. November 1923 mit dem Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933.
Erst Hanns Hubert Hofmann[1] und Ernst Deuerlein[2] lieferten zu Beginn der Sechzigerjahre ein präziseres Bild des Geschehens und machten auf Verbindungen zwischen der bayerischen Machtelite und Hitler aufmerksam, die es 1923 gegeben hatte. Harold J. Gordon jr. beleuchtete 1978 vor allem die Abläufe und Vorgänge an den Putschtagen sehr detailliert.[3] Der umfassendere Kontext und die genauere Kenntnis der bayerischen Verhältnisse, wie man sie bei Hofmann und Deuerlein findet, fehlen hier allerdings. Spätestens mit Gordons minutiösem Bericht über die Putschtage war aber offenbar aus Sicht der Historikerzunft alles Wesentliche erforscht und gesagt. Der Hitlerputsch geriet in den Windschatten des Interesses. In den vergangenen 45 Jahren ist keine größere Monografie mehr erschienen.
In der wissenschaftlichen Literatur ist es in diesen Jahrzehnten selbstverständlich geworden, auch auf die gegenrevolutionären Bestrebungen der bayerischen Machtelite hinzuweisen. Keine Gesamtdarstellung zur Weimarer Republik, keine Hitlerbiografie, in der nicht auch die Namen Gustav von Kahr und Otto von Lossow erwähnt werden. Wie die Zusammenarbeit konkret aussah, welches Gewicht dabei dem bayerischen Generalstaatskommissar, dem Kommandanten der bayerischen Reichswehrdivision und ihrem Machtapparat zukam und wie weit die Vertreter Bayerns in ihrem Kampf gegen das Reich zu gehen bereit waren, bleibt allerdings vielfach unscharf.
In der nichtwissenschaftlichen Literatur wird dagegen nach wie vor häufig die Rolle des bayerischen Generalstaatskommissars Kahr unterschätzt und die Rolle der bayerischen Landespolizei darauf reduziert, dass sie Hitlers Putsch am 9. November 1923 niedergeschlagen habe. Hier erscheint in aller Regel Hitler als derjenige, von dem alle Initiative ausgeht, und das prägt unser «populäres» Bild der Weimarer Republik nach wie vor. Der Hitlerputsch 1923 und der Machtantritt Hitlers am 30. Januar 1933 bilden gewissermaßen eine Klammer, fassen die Geschichte der Weimarer Republik scheinbar prägnant zusammen und verdichten sie so auf die Auseinandersetzung mit den an die Macht drängenden Nationalsozialisten. Hitler ist der entscheidende Mann - schon 1923 und erst recht 1933. Der Hitlerputsch wird als Vorstufe zum Machtantritt Hitlers wahrgenommen. Die relativ guten Jahre zwischen 1924 und 1929, in denen sich die wirtschaftliche Lage stabilisierte und die Politik in ruhigeres Fahrwasser kam, werden in diesem Bild an den Rand gedrängt und kaum zur Kenntnis genommen. Das Scheitern der Demokratie scheint fast vorprogrammiert.
Löst man die enge Verbindung zwischen 1923 und 1933, dann wird der Blick auf das Geschehen offener, das wir üblicherweise «Hitlerputsch», gelegentlich auch «Hitler-Ludendorff-Putsch» nennen. Das Handeln anderer Akteure erhält eigenständiges Gewicht. Wenn man sich den Ereignissen losgelöst von den alten einschränkenden Bildern nähert, wenn man die Rahmenbedingungen des Geschehens auszuleuchten beginnt, dann wird schnell klar, dass der Hitlerputsch keineswegs nur Hitlers Putsch war. Man könnte ihn vielleicht die Spitze eines Eisbergs nennen, dessen unter der Oberfläche verborgenen Teile bis nach Berlin reichten.
Bereits seit 1920 machte sich in Bayern die Vorstellung breit, der Freistaat sei die «Ordnungszelle», aus der heraus das «jüdisch und marxistisch verseuchte» Berlin wieder auf nationalen Kurs gebracht werden müsse.
In der bayerischen Einwohnerwehr, später in den «vaterländischen» Verbänden, standen bis zu 300.000 Mann unter Waffen, die weiß-blau, schwarz-weiß-rot oder völkisch-nationalistisch orientiert waren - keinesfalls aber republikanisch.
Hitler wurde in München groß durch die Unterstützung angesehener Gönner und unter der schützenden Hand mächtiger Repräsentanten der bayerischen Staatsgewalt.
Im Krisenjahr 1923, das mit der Ruhrbesetzung durch Frankreich und Belgien begann, träumte keineswegs nur Hitler vom «Marsch auf Berlin», sondern die gesamte «vaterländische» Rechte Bayerns.
Die bayerische Regierung und der bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr gingen ab Mitte September 1923 auf einen scharfen Konfrontationskurs zur Reichsregierung ...
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