1.
Hinterrücks
Glücksgefühle durchfluteten Marie wie ein warmer Rausch. Sie sprudelte über wie eine Sektflasche, die man zuerst geschüttelt und dann vom Korken befreit hatte.
Auf diesen Tag hatte sie so lange hingefiebert! So hart hatte sie gearbeitet. Überstunden gemacht und gespart. Jetzt war es endlich so weit: Sie würde ihre eigene Bar kaufen. Und dann auch noch die, in die sie sich schon in ihrer ersten Zeit auf Mallorca verliebt hatte.
Erneut brandete die Freude in ihr auf wie die Wellen an den Felsen, die sie von hier aus hören konnte. Ein breites Lächeln lag auf ihren Lippen. Weil sie schon früh aufgestanden war und nicht gewusst hatte, wohin mit ihrer überbordenden Aufregung, hatte sie einen langen Spaziergang unternommen. Deshalb lief sie nun von oberhalb der Promenade zum ehemaligen Café La Vista. Sie hatte einen kurzen Abstecher zu den Klippen gemacht, dorthin, wo die Jugendlichen des Dorfes noch immer gern ihre Partys feierten, obwohl dort einer von ihnen kürzlich den Tod gefunden hatte.
Jetzt war es nicht mehr weit. Sie konnte das La Vista bereits sehen.
Da langsam die ersten Lokale und Boutiquen ihre Türen öffneten und die Sonne immer höher stieg, füllte sich auch die Promenade stetig mit Touristen. Kinder rannten kreischend zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch. Gelächter und Gespräche von jungen Frauen und Männern erfüllten die immer wärmer werdende Luft. Paare hielten verliebt inne und küssten sich.
Kurz blieb Marie stehen, um den Kopf in den Nacken zu legen, die Augen zu schließen und den Tumult um sich herum und die Wärme der Sonnenstrahlen aufzusaugen. Im Hintergrund erhob sich immer wieder das Rauschen des Meeres.
Marie verspürte ein Flattern in der Brust. Sie würde täglich dem Klang der Wellen lauschen können, wenn sie ihren Gästen Cocktails und Snacks servierte. In ihrer eigenen Bar.
Eine Gänsehaut kribbelte über ihren Körper. Doch diese Gefühle, die sie wie ein warmer Schauer übermannten, starben jäh, als jemand sie unsanft anrempelte.
»He!« Erschrocken riss Marie die Augen auf, taumelte etwas zurück, stieß dabei gegen eine ältere Dame. »Bitte entschuldigen Sie«, keuchte Marie und ergriff geistesgegenwärtig die Oberarme der Frau, die sie aus dem Gleichgewicht gebracht hatte. Zum Glück war sie nicht gestürzt! Nachdem Marie sich kurz vergewissert hatte, dass es ihr gut ging, wandte sie sich um.
Ein hünenhafter, breit gebauter Mann eilte über die Promenade, schlängelte sich zwischen den Passanten hindurch. Er fiel sofort auf, weil er vollkommen in Schwarz gekleidet war. Sicherlich war er es, der Marie angerempelt hatte, denn er schien es ziemlich eilig zu haben.
Sie kniff die Augen zusammen. Wieso trug er bei dem Wetter so einen dicken schwarzen Kapuzenpullover - und Handschuhe? Oder war das einer dieser verrückten Sportler, die sich bei diesen Temperaturen so warm anzogen, um besonders viel zu schwitzen? Allerdings wirkte er nicht, als legte er eine Sporteinheit hin.
Merkwürdig, dachte Marie. Plötzlich überkam sie ein Schreck, und ihr wurde eiskalt. War er etwa ein Taschendieb, der ihre Unachtsamkeit ausgenutzt hatte?
Mit stolperndem Herzschlag ließ sie ihre Tasche von der Schulter gleiten und warf sofort einen Blick hinein. Sie wühlte zwischen ihren Habseligkeiten herum. Portemonnaie? Noch da. Marie atmete auf und schickte ein Stoßgebet gen Himmel.
Noch einmal blickte sie sich um, über die Köpfe der Passanten hinweg, auf der Suche nach diesem seltsamen Mann. Doch er war verschwunden.
Sie hob die Schultern. Das ging sie nichts an. Sie sollte sich jetzt einfach nur auf ihre Bar konzentrieren und darauf, dass sie nun den Vertrag unterschreiben würde. Ein informeller Akt, der nur besiegelte, dass Marie und der Verkäufer sich auf die Art und Weise der Abwicklung einigten, ehe sie mit dem Notar den ganz offiziellen Teil des Kaufes abschlossen.
Jetzt stand sie vor dem ehemaligen La Vista und spürte, wie die Aufregung in ihrem Inneren erneut aufstieg. Marie atmete tief ein und aus und öffnete dann die Tür.
Sofort umwehte sie Zugluft. Die Terrassentür war ebenfalls geöffnet, fiel Marie auf. Eine von Meeresduft getränkte Brise strich ihr um das Gesicht. Sie hörte die Möwen jenseits der Terrasse schreien, lauschte dem Säuseln der Wellen weit unter der Immobilie.
Da war aber noch ein anderes Geräusch. Das Rascheln und Flattern von Blättern. Marie krauste die Stirn und senkte den Blick auf den Fliesenboden. Unzählige Papiere flatterten vom Tresen auf den Boden.
Langsam bückte sie sich, um eines aufzunehmen, das sich in ihre Richtung verirrt hatte. Sie krauste die Stirn. Sonderbar. Offenbar hielt sie gerade Teile des Vertrags in der Hand, den sie unterschreiben sollte. »Hallo?«, rief sie in den Raum und schauderte unversehens, als sie bemerkte, wie verloren ihr Ruf klang. »Bianca?«
Sie trat noch etwas weiter in den Gastraum. Ihr Blick erfasste die Tasche der Maklerin. Die große Shopper-Tasche aus Jute-Stoff hatte sie immer bei Bianca gesehen. Nun lag sie vor der Bar, und ihr Inhalt hatte sich auf dem Boden ergossen.
Erneut drang ein laues Lüftchen durch die geöffneten Terrassentüren, stob noch einmal Papiere auf und spielte mit dem Lippenstift auf dem Boden, der leicht vor- und zurückrollte.
Ein Widerstand bildete sich in Maries Kehle. Sie sah sich um. »Bianca?«, fragte sie noch einmal und hörte das Zittern in ihrer Stimme.
Langsam lief sie um den Tresen herum, trat dabei gegen etwas.
Erschrocken starrte Marie auf eine angebrochene Packung Pappbecher, die nun in Bewegung geriet. Als der Stapel Becher plötzlich gegen einen Fuß in einer mit Strasssteinen besetzten Sandale prallte, sog Marie scharf die Luft ein.
Auf weichen Knien stolperte sie nun hinter die Bar - und schlug sich die Hände vor den Mund. Ihr Atem stockte. Marie wollte schreien, brachte aber keinen Ton hervor. »Bianca?«, sagte sie mit rauer Stimme und starrte auf die bäuchlings auf dem Boden liegende Frau. Arme und Beine hatte sie von sich gestreckt. Die Haare ergossen sich wild um ihren Kopf.
Was Marie gänzlich die Luft aus den Lungen presste und sie trotz der warmen Temperaturen frösteln ließ, war das Küchenmesser, das in Bianca Toledos Genick steckte.
Sofort erfasste sie Panik. »O Gott!«, rief sie aus. »Hilfe! Hilfe!« Ihr Puls raste, und die Gedanken überschlugen sich. Sie war unfähig, sich zu bewegen.
Plötzlich befreite sich ein Gefühl von Entschlossenheit aus dem Chaos von Ohnmacht und Panik. »Marie, reiß dich zusammen«, befahl sie sich, atmete einmal tief ein und aus und trat dann auf die am Boden liegende Bianca Toledo zu.
Vielleicht lebte sie ja noch. Vielleicht konnte sie sie noch retten. Vorsichtig und auf Zehenspitzen trat Marie um die Maklerin herum und kniete sich dann neben sie. Sie legte ihre Hände auf den Rücken der Frau und spürte, dass ihr Körper noch immer warm war. Aber der Oberkörper hob und senkte sich nicht. Bianca Toledo atmete nicht!
Marie hielt die Luft an. Vielleicht konnte sie sie wiederbeleben? Widerwillig betrachtete sie das Messer im Nacken der Spanierin. Übelkeit erfasste sie.
Entschlossen schluckte sie dagegen an und legte zwei zitternde Finger an den Hals der Frau. Quälend langsam tropften die Sekunden dahin. War da ein Puls? Fühlte sie etwas? Machte sie das gerade überhaupt richtig? War das die korrekte Stelle?
Marie biss sich auf die Lippen, sah auf ihre Hand, dann auf das Messer und schließlich auf ihre Uhr. Verdammt noch mal! Das dauerte alles viel zu lange! Genickbrüche oder Verletzungen am Rücken waren schließlich nicht zwingend tödlich, wenn auch oft fälschlich davon ausgegangen wurde.
Auf das Messer starrend, fasste Marie einen Entschluss. Wenn sie Bianca wiederbeleben wollte, musste sie es tun! Mit zitternden Fingern umschloss sie den Griff. Sie atmete aus, kniff die Augen zusammen und zählte.
Eins, zwei, drei.
Sie drückte Biancas Schultern herunter und zog an der Klinge. Mit etwas Widerstand löste sich das Messer und fiel mit einem Klirren zu Boden.
Keuchend stieß Marie die Luft aus und drehte Bianca vorsichtig um. Ein merkwürdiges Glucksen ging durch den Körper der Frau. Marie erschauderte, zuckte zunächst zurück.
Nun konnte sie auch das Blut sehen, dass am Hals der Maklerin entlanggelaufen und auf den Boden getropft war. Es war nicht viel, nur eine kleine Pfütze, sodass Marie die Hoffnung hatte, dass Bianca Toledo tatsächlich noch lebte. Außerdem waren ihre Augen geschlossen. Vielleicht hing ihr Leben gerade wirklich noch an einem seidenen Faden.
Sollte sie den Kopf auf ihre Brust legen? Zögerlich beugte Marie sich vor, horchte erst an Biancas Mund, ob sie vielleicht den leisesten Hauch einer Atmung wahrnehmen würde. Nichts. Dann rang sie sich zähneknirschend dazu durch, das Ohr auf Biancas Oberkörper zu legen.
Marie erschauderte, als sie nichts außer Stille vernahm.
Eilig zog sie ihr Handy hervor und wählte den Notruf. Sie stellte das Gerät auf Lautsprecher und begann mit der Herzdruckmassage.
Quälende zwanzig Minuten dauerte es, bis ein Sanitäterteam durch die Tür des La Vista stürmte und Marie ablöste.
Inzwischen war sie vollkommen durchgeschwitzt. Ihre Arme und Beine zitterten, und sie wischte sich den Schweiß von der Stirn. Aber Bianca Toledo hatte nicht auf ihre Reanimationsversuche reagiert.
Die Sanitäterinnen umschwärmten den leblos daliegenden Körper. Bereits am resignierten...