1.
Chaos im Tierheim
Das Kläffen und Hecheln der Hunde hallte durch die Bucht. Marie lachte, denn die Freude über den Auslauf war den Vierbeinern anzusehen.
Während der Terrier Hulk, der eine bunte Promenadenmischung aus vielen kleinen Hunderassen war, mit voller Begeisterung durch den Sand und das Wasser jagte, ärgerte der Schäferhundmischling Mika leidenschaftlich gern Christian Munker, einen pensionierten Kriminalkommissar aus Bremen, der seit einiger Zeit auf Mallorca seinen Ruhestand genoss und sich mit Marie angefreundet hatte, obwohl er um einiges älter war als sie.
Lachend wandte sie sich um und beobachtete, wie der Junghund Christian zunächst schwindelig rannte, indem er enge Kreise um ihn drehte und ihn mit sich zog, wobei er die Hose des äußerst peniblen Pensionärs mit Salzwasser und Sand besudelte. Dabei kläffte Mika immer wieder und biss fröhlich in die Leine.
Vor einigen Wochen hatte Marie Christian dazu überredet, bei ihren gemeinsamen Spaziergängen Hunde aus dem Tierheim auszuführen. Auf die Idee war sie gekommen, nachdem sie erfahren hatte, dass sich außerhalb Cavís eine Auffangstation für Straßenhunde und Katzen befand.
Wie immer hatte es etwas Überzeugungsarbeit gebraucht, bis der oftmals etwas umständliche Christian eingewilligt hatte. Aber Marie war überzeugt, dass er im Stillen die Spaziergänge mit den Vierbeinern genoss - außerdem taten sie etwas Gutes und unterstützten die Tierpension, indem sie ab und an einigen Hunden einen großzügigen Auslauf ermöglichten.
Amüsiert beobachtete Marie den schnaubenden Christian bei dem Versuch, den Hund unter Kontrolle zu bringen. »Aus! Nein! Ah - verflixt - du störrisches Tier, du!«
Kichernd schaute sie sich das Spektakel noch einige Sekunden an, ehe sie den Ast nahm, den das Meer angespült hatte. »Mika!«, rief sie mit einer für Hundeohren verführerisch hellen Singsangstimme.
Sofort hielt der Schäferhundmischling inne, blickte mit großen braunen Augen an Christian vorbei zu Marie und legte den Kopf schief.
Die Schnauze klappte auf, und die Zunge fiel heraus. Kurz darauf stob er bellend auf Marie zu - schneller, als sie damit gerechnet hatte. »Oh - Mika! Nein!« Sie riss die Augen auf und schleuderte den Ast in die Wellen.
Doch zu spät: Mika war bereits abgesprungen. Alles lief in Zeitlupe vor Maries Augen ab: Die Hundezunge flatterte im Wind, die fellbewachsenen Beine angewinkelt, die Augen verfolgten den Stock, der sich zu Mikas Unglück von Marie entfernte. Mit dem Schwanz schien der Hund noch die Flugrichtung ändern zu wollen, was ihm aber nur halb gelang, sodass er Marie zwar nicht mit voller Wucht erwischte. Dennoch reichte der Rempler, um sie von den Füßen zu reißen.
Obwohl sie weich fiel, presste ihr der Aufprall die Luft aus den Lungen. Eine Welle schwappte über sie hinweg.
Keuchend blieb Marie liegen und starrte, noch perplex von dem Sturz, in den blauen Himmel, an dem sich weiße Wolken türmten.
Das Meerwasser spritzte ihr ins Gesicht. Es hatte noch eine angenehme Temperatur, obwohl sich die Sommerhitze in den letzten Wochen verzogen hatte.
Mika war weitergelaufen und balancierte nun triumphierend das Treibholz in seinem Maul, wobei er mit erhobener Rute am Wassersaum auf und ab lief.
Gerade als Marie sich aufrichten wollte, stieß nun der kleine Terrier-Mix Hulk seine kalte Schnauze in ihr Auge. »Au! So ein Mist«, jammerte sie und ließ die darauf folgenden feuchten Hundeküsschen über sich ergehen, bis sie sich irgendwann so weit aufgerichtet hatte, dass der kleine Rüde nicht mehr an ihr Gesicht kam.
Eine Hand erschien in ihrem Blickfeld. Marie sah in Christians grinsendes Gesicht. War das etwa Schadenfreude? »Nur zur Erinnerung: Das war deine Idee mit dem Gassigehen.« Er zog sie auf die Beine.
»Das stimmt.« Marie klopfte sich den Sand von der größtenteils durchnässten Jeans. Dann lachte sie. »Das war wohl die Strafe dafür, dass mich dein Kampf mit Mika ein bisschen zu sehr amüsiert hat.«
Christian hob eine Braue und verschränkte die Arme. »Soso, Frau Holstein, Sie laben sich also am Leid anderer.«
»Am Leid?« Marie schnaubte. »Bist du da nicht etwas überdramatisch und übertreibst?« Sie untermauerte ihre Frage, indem sie einen kleinen Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger andeutete. In der Zwischenzeit kam Mika mit dem Ast im Maul zu ihr und ließ ihn stolz vor ihren Füßen in den Sand fallen. »Mika ist halt ein junger Hüpfer. Er braucht noch ein wenig Erziehung.«
»Aber nur ein wenig«, brummte Christian ironisch und zuckte mit den Schultern, als er sich einer einzelnen stummen Lachsalve hingab. »Jetzt untertreibst du, nicht?«
Marie bedachte den Schäferhund, der nun in die Wellen biss, nachdem sie seine auffordernden Blicke ignoriert hatte. »Vielleicht braucht er auch etwas mehr Erziehung und Anleitung. Er ist ja quasi noch ein Baby.« Mikas Alter wurde auf ungefähr sieben Monate geschätzt.
»Ein fünfundzwanzig Kilo schweres Baby, das wie eine wild gewordene Abrissbirne durch die Gegend titscht«, grunzte Christian.
Hulk, der kleine Terrier, rannte unterdessen bellend im Kreis. Mit angelegten Ohren flitzte er durch das Wasser, achtete darauf, dass keine der Wellen ihn erwischte, und raste dann durch den Sand.
Christian beobachtete das Spiel einige Sekunden. »Und der hat nur einen Sendekanal in Dauerschleife.«
Marie lachte, schlug dem unverbesserlichen Miesepeter aber auch sanft auf den Oberarm. »Christian«, tadelte sie. »Das sind ehemalige Straßenhunde, die haben alle ihr Päckchen zu tragen und viel erlebt.«
Christians Züge glätteten sich. »Ja, du hast ja recht.«
Marie warf einen Blick über das türkisfarben schimmernde Meer, atmete tief die salzige Luft ein und lauschte dem Rauschen der Wellen. Am Meer zu sein, es zu riechen und zu hören, den Sand unter den Fingern zu spüren, all das erfüllte Marie jedes Mal mit einem kribbelnden Gefühl des Glücks. Das war nach ihrem Umzug auf die Sonneninsel nun ihr Leben! Manchmal konnte sie es selbst nicht glauben.
Die milde Oktobersonne versteckte sich ab und an hinter den Wolken, die sich wie riesige Zuckerwatteberge auftürmten.
Marie genoss das mallorquinische Klima. Es war nicht mehr so schrecklich heiß, was es auch für die Vierbeiner angenehmer machte. Nun wurde es aber Zeit, die Hunde zur Tierfarm zurückzubringen. Also schlenderten Christian und sie langsam zurück in Richtung Pinienwald.
Während Mika ungestüm durch das Dickicht stromerte, dabei das ein oder andere Mal über Äste stolperte oder gegen Bäume prallte, weil er in all seinem jugendlichen Leichtsinn nicht wirklich nach vorne sah, blieb Hulk hinter Christian und Marie, kläffte hier und da seinen Hunde-Kameraden, Wanderer oder Vögel an.
Der von Nadeln bedeckte Waldboden dämpfte ihre Schritte, die Luft war erfüllt vom Duft des Harzes, und über ihnen knarrten die Baumkronen, die sich in den gelegentlichen Böen wiegten.
Marie atmete die Luft tief ein und genoss den Spaziergang mit Christian und den Hunden in vollen Zügen. Auch der neurotische Mordermittler wirkte entspannter. Er machte heute einen viel gelösteren Eindruck und schien weniger steif zu sein als sonst.
»Wie läuft es mit deiner Bar?«, fragte er nun.
Augenblicklich erschien ein breites Lächeln auf Maries Lippen. Ihr Herz stolperte vor Aufregung. »Die Renovierung geht erstaunlich gut voran. Es sind ein paar Dinge ausgebessert worden, und die Toiletten lasse ich auch noch sanieren, damit sie neuer und moderner sind, aber bald kann ich das Lokal streichen und mir Gedanken über die Inneneinrichtung machen.« Die Worte sprudelten nur so aus ihr heraus. »Ich habe so viele Ideen.«
Christian lächelte und nickte wie ein stolzer Onkel. Sacht tätschelte er ihre Schulter. »Das freut mich sehr für dich. Sicherlich werde ich nach deiner Eröffnung dann und wann aus meiner Routine ausbrechen und etwas bei dir trinken kommen.«
»Du wirst der Ehrengast meiner Bar.«
Christian bedachte sie mit einem schnellen Blick. »Hast du noch keinen Namen für sie?«
Marie ließ die Schultern hängen und seufzte. »Nein, und das macht mich total wahnsinnig. Eigentlich bin ich gut in so etwas. Konzepte erstellen und mir Bezeichnungen ausdenken. Aber irgendwie ist diesmal nichts gut genug.«
»Wie wäre es mit Chez Marie?«
»Etwas Französisches - hier auf der spanischen Insel?« Marie seufzte. »Ist ein schöner Name, aber ich fürchte, dass er nicht passt.«
»Na ja, ich bin leider überhaupt nicht gut in so etwas.«
Marie streichelte lächelnd seinen Arm. »Trotzdem danke.«
»Falls du aber mal Hilfe bei den Renovierungen benötigst, denk gern an mich. Handwerklich habe ich doch etwas auf dem Kasten.«
»Darauf werde ich ganz bestimmt zurückkommen.«
Die beiden lächelten einander an und schlugen nun einen breiten Weg ein, der sich in einigen Kurven durch den Pinienwald schlang. An dessen Ende befand sich auf einer großen Lichtung das Tierheim von Rosa Linde. Es war ein friedlich gelegener Ort.
Mika und Hulk stoben bereits vorneweg, was Marie rührselig stimmte. Auch wenn die Hunde eine oft schmerzliche Vergangenheit hatten und sich mit vielen anderen Vierbeinern den Platz bei Rosa Linde teilen mussten, nur relativ wenig Auslauf bekamen und sehnsüchtig auf ein liebevolles eigenes Zuhause warteten, liefen sie dennoch mit Freude zurück zum Tierheim. Hunde blickten immer positiv nach vorn. Das zeigte...