2.
Social Media ist nicht echt
»Ja, weißt du, ich habe sie mir irgendwie lockerer vorgestellt«, erklärte Cassandra auf Maries fragenden Blick hin. »Aber irgendwie wirkt sie so aufgesetzt, und ich dachte immer, dass ihre Storys . authentischer sind.« Marie und sie fanden sich wieder hinter der Rezeption ein und gingen gleich ihrer üblichen Arbeit nach.
»Ist diese Influenza weg?«, fragte Christian, der schon wieder wie aus dem Nichts aufgetaucht war.
»Verdammt noch mal, Christian«, erwiderte Marie empört und fasste sich an die Brust. »Das ist jetzt das zweite Mal, dass du dich so anpirschst. Wo kommst du jetzt schon wieder her, und wohin bist du vorhin verschwunden?«
»Ich habe mich aus dem Staub gemacht, als der Trubel ausgebrochen ist.« Christian musterte Marie, dann Cassandra. Von ihr wollte er wissen: »Warum ziehst du so ein Gesicht?«
»Sie ist enttäuscht, dass Isabella nicht so wirkt wie im Internet«, gab Marie mit einem Augenzwinkern zurück.
Christian runzelte die Stirn. »Ich verstehe nichts davon, um ehrlich zu sein.«
»Das hat keiner erwartet.« Cassandra lachte gutmütig.
Sein rechter Mundwinkel zuckte. »Das Prinzip, das eigene Leben online zu stellen, und jeder kann zusehen, ist für mich mehr als befremdlich.« Christian entfernte akribisch einen Fussel von seinem Sakko. Erst jetzt fiel Marie auf, dass er - für seine Verhältnisse - chic angezogen war. »Was hat man davon, sein Leben zu präsentieren wie ein Stück Fleisch auf dem Wochenmarkt?«
Marie schmunzelte über seinen eher unpassenden Vergleich, sagte jedoch nichts.
Cassandra hingegen krauste die Stirn. »Ja . nein, so läuft das nicht.« Sie lachte und klopfte ihm auf die Schulter, wobei er sich bei ihrer Berührung sichtlich versteifte. »Sie verdient Tausende von Euros damit.«
Christian riss die Augen auf und blinzelte Cassandra beinahe empört an. »Ich dachte, das wäre nur so ein kleines Hobby, mit dem man sich ein nettes Taschengeld dazuverdienen kann.«
Sie feixte amüsiert. »Kleines Hobby!« Sie lachte auf. »Wahrscheinlich verdient Isabella an einem Tag mehr als ich in einem ganzen Monat.«
Christian schüttelte den Kopf. »Vielleicht liegt es daran, dass ich alt und ein ehemaliger Mordermittler bin, aber auch das Geld wäre es mir nicht wert, meine persönlichen Informationen und Aufenthaltsorte mit potenziellen Stalkern und anderen Verbrechern zu teilen.«
Er machte eine kurze Pause, dann hob er die Schultern. »Vielleicht ist es aber auch nur mein rein subjektives Sicherheitsempfinden.« Er seufzte, sein Gesichtsausdruck blieb trotz der Wehmut in seiner Stimme neutral. »Wo sind die guten alten Zeiten ohne elektronische Hundeleine geblieben?«
Marie lachte. »Christian, jetzt wirst du ja ganz gefühlsduselig.«
»Ja«, gab er monoton zurück.
»Das Internet und die sozialen Medien sind nicht immer nur schlecht. Sonst gäbe es zum Beispiel auch keine Dating-Apps.« Das sagte Marie, weil sie wusste, dass er diese seit einiger Zeit nutzte. »Apropos: Du siehst so chic aus. Triffst du dich etwa wieder mit Hildegard Alsberg?« Marie grinste breit.
Christian straffte die Schultern, knöpfte umständlich das Sakko zu und räusperte sich. »In der Tat. Wir treffen uns bei Marcos.«
Cassandra pfiff anerkennend durch die Zähne.
»Christian, Hildegard Alsberg tut dir gut. Du brichst ja langsam aus deiner starren Routine aus.« Marie stützte sich mit den Ellenbogen auf dem Rezeptionstresen auf.
Christian warf einen kurzen Blick auf seine Uhr. »Eigentlich breche ich so sehr aus meiner Routine aus wie ein Veganer, der anfängt, Steak zu essen.«
Cassandra runzelte die Stirn. »Hä?«
»Hildegard Alsberg und ich treffen uns jeden Sonntag und gehen dann bei Marcos essen.«
Marie lachte. »Gut. Aber es ist schön, dass du dich amüsierst und mit jemandem deine Zeit verbringst. Viel Spaß.«
»Danke.« Christian lächelte kurz, klopfte dann zweimal auf den Tresen und wandte sich zum Gehen.
»Ich mag diesen verschrobenen Kerl ja«, murmelte Cassandra, die gerade vor dem Computer saß und sich offenbar bereits der Liste mit den Shooting-Orten widmete, die Anna Biskova verlangt hatte.
»Ich auch. Sehr«, sagte Marie und beobachtete Christian dabei, wie er durch das Tor des Hotels trat und verschwand. Dann deutete sie auf den Bildschirm. »Die Bucht unten an den Höhlen ist auch sehr zurückgezogen.«
»Klar, bis auf die paar Nackedeis, die sich da regelmäßig die Sonne auf den blanken Hintern scheinen lassen.«
Marie lachte leise. »Wäre eigentlich der perfekte Ort für Señor Falfale.« Die beiden Freundinnen prusteten los.
Nachdem sie sich wieder eingekriegt hatten, fiel Marie auf, dass Thomas Bergsteiger immer noch nicht wiederaufgetaucht war. Suchend sah sie sich um. »Hast du Thomas gesehen?«
Cassandra blickte nicht vom Bildschirm auf. Sie hatte das Kinn auf die Hand gestützt und nuschelte etwas vor sich hin, das wie »Ist mir auch egal« geklungen hatte.
Seufzend zuckte Marie mit den Schultern.
Ein leises Ping lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die Aufzüge.
Aus einem trat Anna Biskova. Sie hatte das Outfit gewechselt, trug nun einen cremefarbenen Seidenbademantel, unter dem ein goldmetallic glänzender Badeanzug hervorblitzte. Dieses Outfit kombinierte sie mit farblich passenden und aus demselben Material gefertigten Badelatschen. Das Haar hatte sie zu einem strengen Knoten im Nacken zusammengefasst.
Sie sah sich um, wobei sie ihren Körper wie mechanisch zur Seite drehte, ehe sie mit hocherhobener Nase auf die Rezeption zusteuerte. »Hallo«, sagte sie träge und blickte sich dabei angelegentlich um, anstatt eine von ihnen anzusehen.
»Was kann ich für Sie tun, Frau Biskova?« Marie bemühte sich um ein besonders freundliches Lächeln, denn diese Frau gab ihr seit der ersten Sekunde das Gefühl, dass nichts gut genug für sie war.
Sie bedachte alles mit einem abfälligen Blick, als wäre es eine Zumutung für sie. Ihre Lider waren stets halb geschlossen, die Mundwinkel zeigten leicht nach unten. »Ich würde gern den Spa aufsuchen. Bekomme ich ein Handtuch?«
»Natürlich. Gehen Sie zum Spa-Bereich durch, dann wird Ihnen direkt eines ausgehändigt. Meine Kollegin hat übrigens die gewünschte Liste für das Shooting angefertigt.« Marie schob ihr den Zettel rüber.
Beinahe desinteressiert blickte die Unternehmerin auf das Papier. Dann sah sie wieder zu Marie. Nun zuckte doch ein kurzes Lächeln über ihre Lippen. Der Rest des Gesichts war wie eingefroren. »Danke.« Sie trat vom Tresen zurück. »Tun Sie mir einen Gefallen und mailen Sie diese Aufstellung meiner Assistentin, die schickt sie mir dann auf das Handy. Haben Sie vielen Dank.« Erneut lächelte sie knapp und ging dann in Richtung Spa.
Marie schaute über ihre Schulter zu Cassandra, die nun die Nase in die Höhe reckte und den Gesichtsausdruck der Geschäftsfrau nachahmte. »Schicken Sie sie an meine Assistentin.« Ihr gelang es erstaunlich gut, Anna Biskovas Tonfall zu treffen.
Marie kicherte. »So was Bescheuertes.« Sie setzte sich an den Computer und tippte eine Mail an die Assistentin, mit der sie in Kontakt gewesen war, auch um von ihr eine lange Liste der Unverträglichkeiten von Anna Biskova zu erhalten.
»Sie ist irgendwie merkwürdig. Findest du nicht? Ihr Gesicht ist ganz eingefroren«, sagte Marie, während sie auf der Tastatur herumtippte.
Cassandra tackerte gerade Papiere zusammen. »Die hat wahrscheinlich zu viel Botox intus.«
»Meinst du?«
»Auf jeden Fall. Da bewegt sich ja gar nichts mehr.«
Schweigend schrieb Marie die Mail und schickte sie ab. Dann blickte sie auf und sah zufällig Thomas, der sich gerade durch die Tür neben den Aufzügen stahl. Diese führte ins Treppenhaus. Dabei sah er sich nach allen Seiten um, huschte in die Lobby und richtete sich dann auf, als wäre er gar nicht weg gewesen. Merkwürdig, dachte Marie. Er musste hier doch nicht herumschleichen.
Sie stupste Cassandra in die Seite.
Diese schaute brummend von ihrem Handy auf und zog zugleich die Brauen zusammen. »Thomas«, rief sie laut durch die Lobby. Dieser zuckte zusammen und blieb wie ein Reh im Scheinwerferlicht stehen. »Wo warst du wieder, hä?«
»Ich - ich .«
In diesem Moment ging die Aufzugtür auf, und ein in einer knappen Badehose gekleideter Señor Falfale stieg pfeifend aus dem Aufzug.
Marie dachte an Anna Biskova. Eine Begegnung der beiden käme wahrscheinlich einer Katastrophe gleich. Besonders dann, wenn Señor Falfale sich erneut seiner Badehose entledigte.
Das schien auch Cassandra durch den Kopf zu gehen. Sie lehnte sich weiter über den Tresen der Rezeption. »Pssss«, zischte sie in Thomas' Richtung, sodass dieser hastig ein bisschen näher kam. Cassandra zeigte auf Señor Falfale, der sich mit beschwingten Schritten dem Spa näherte. »Halt ihn auf. Lenk ihn ab.«
Thomas blickte erschrocken zwischen Señor Falfale und Cassandra hin und her, als wüsste er noch nicht, von wem er mehr eingeschüchtert sein sollte. Er hob die Hände. »Wie soll ich das denn machen?«, wisperte er.
»Sag ihm, er bekommt eine Gratis-Wein-Flat. Das Angebot gilt aber nur in den nächsten fünf Minuten.«
Thomas riss die Augen auf. »Bist du verrückt?«
»Er liebt Wein.«
Brummend drehte Thomas sich auf dem Absatz um und eilte...