|19|1 Nicht-medikamentöse Maßnahmen im Schmerzmanagement von Früh- und Neugeborenen
Anne Helga Schmitt
Neugeborene werden im Rahmen der postnatalen Versorgung routinemäßig kleineren schmerzhaften Eingriffen unterzogen. Auch Früh- und Neugeborene, die auf einer Neugeborenen-Intensivstation (NICU) versorgt werden, benötigen täglich mehrere schmerzhafte Tests und Verfahren. Die Verabreichung von Schmerzmedikamenten bei Interventionen wie Impfen, der intramuskuläre Injektion, Venenpunktionen oder Einführen eines zentralen Venenkatheters und dem Fersenstich (Deutsches Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP), 2020; Deutsche Gesellschaft für Anästhesiologie und Intensivmedizin (DGAI), 2021) wird als problematisch angesehen, so dass zur analgetischen Versorgung Alternativen wie nicht-medikamentöse Maßnahmen zur Schmerzlinderung herangezogen werden (Johnston et al., 2017). Weitere schmerzhafte Prozeduren sind das endotracheale und nasale Absaugen (Ayyıldızk et al., 2023; Zayed & Fathalla, 2022) sowie das Einführen einer Ernährungssonde (Srivastava et al., 2022). Insbesondere bei Früh- und Neugeborenen und Säuglingen unter einem Jahr werden nicht-medikamentöse Maßnahmen als meist einfach durchzuführen angesehenen und werden als nicht-invasive und effektive Verfahren zur mindestens begleitend Analgesie in Deutschland empfohlen. Empfohlen wird, nicht-medikamentöse Maßnahmen bei Kindern auch in das perioperative Schmerzmanagement zu integrieren, um Schmerzen zu reduzieren und den Verbrauch von Analgetika und die damit verbundenen potenziellen Nebenwirkungen zu senken oder sogar zu vermeiden (DGAI, 2021).
Die im Folgenden aufgeführten nicht-medikamentösen Maßnahmen beziehen sich auf Cochrane-Reviews, randomisiert kontrollierte Studien und die in aktuellen nationalen Standards (DNQP, 2020) und Leitlinien (DGAI, 2021) empfohlenen Maßnahmen.
Zu den häufig verwendeten und gut untersuchten nicht-medikamentösen Maßnahmen der Schmerzlinderung für Früh- und Neugeborene zählt die orale Gabe von Glukose bzw. Saccharose, Stillen, Berührung im Zusammenhang mit Kangaroo Mother Care (KMC), nicht-nutritives Saugen (NNS), Swaddling und das Halten in "Froschstellung" (Facilitated tucking) und zwar vor, während und nach einer schmerzhaften Prozedur (DNQP, 2020; DGAI, 2021). Einige dieser Maßnahmen sind jedoch aufwendig und ressourcenintensiv in der praktischen Anwendung, wie z.?B. KMC und Facilitated tucking, da oftmals für eine effektive und korrekte Durchführung zwei Personen notwendig sind.
|20|1.1 Orale Verabreichung von Glukose-Lösung oder Saccharose
Die orale Verabreichung von Glukose-Lösungen oder Saccharose in einer Konzentration von 20-30?% hat bei Neugeborenen bei leichten bis moderaten schmerzhaften Prozeduren eine schmerzlindernde Wirkung und ist eine in der Praxis häufig angewendete Maßnahme. Als wirksam wird die Verabreichung vor allem bei der kapillaren Blutentnahme aus der Ferse, Venenpunktionen und intramuskulären Injektionen beschrieben (Stevens et al., 2016; Yamada et al., 2023).
Dosierung: Die optimale Dosis von Saccharose zur Schmerzlinderung bei Neugeborenen, Frühgeborenen und Säuglingen bis zu einem Alter von 12 Monaten ist noch nicht ermittelt (Stevens et al., 2018). Es bestehen zwischen den einzelnen Studien Unterschiede in der Dosierung in Bezug auf die optimale Konzentration, der optimalen Menge (Volumen) und der optimalen Verabreichungsmethode. Die minimal wirksame Dosis von Saccharose während eines einzelnen schmerzhaften Eingriffs sowie die Auswirkungen einer wiederholten Saccharose-Verabreichung auf die unmittelbaren (Schmerzintensität) und langfristigen Auswirkungen auf die neurologische Entwicklung sind nicht ausreichend erforscht (Stevens et al., 2018).
Durchführung: Die Verabreichung von oraler Saccharose oder anderen süßen Lösungen kann bei Früh- und Neugeborenen mit oder ohne NNS erfolgen, z.?B. mit einem Schnuller oder einer Spritze: Die Verabreichung erfolgt vor und während eines schmerzhaften Eingriffes (Bueno et al., 2013; Stevens et al., 2016). Die Verabreichung der Saccharose kann einige Minuten vor dem Eingriff erfolgen, z.?B. hat sich in einer Studie das Verabreichen von 2 ml Saccharose mit einer Spritze zwei Minuten vor der Prozedur als wirksam erwiesen (Örs et al., 1999). In einer anderen Untersuchung erhielten Neugeborene 2-3 ml Glukose 20?% aus einer Spritze: Einige Tropfen Glukose werden 1-3 Sekunden vor der Punktion der Ferse durch eine Assistenzperson auf die Vorderseite der Zunge des Neugeborenen aufgetragen, die Verabreichung wird während des Eingriffs fortgesetzt (Napiórkowska-Orkisz et al., 2022). Die Betonung liegt hier auf Neugeborenen, denn bei kleinen Frühgeborenen ist es nicht möglich in 1-3 Sekunden, 2-3 ml Glucose 20?% oral zu verabreichen.
Wirksamkeit: Das Verabreichen von Glukose-20?%-Lösung oder Saccharose entfaltet seine Wirkung alleine oder in Kombination mit anderen Maßnahmen (Stevens et al., 2016). Als besonders wirksam hat sich Saccharose (24?%) in Kombination mit nicht-nutritivem Saugen gezeigt, z.?B. kann der Schnuller in die Saccharose getaucht werden (Stevens et al., 2018). Saccharose ist auch im geringeren Maße beim wiederholten Fersenstich wirksam. Die analgetische Wirkung von Saccharose funktioniert bis zu einem Alter von etwa einem Jahr, die Wirksamkeit kann bei älteren Säuglingen im Vergleich zu Neugeborenen abnehmen (Harrison et al., 2003).
Unerwünschte Ereignisse: Insgesamt liegen nur wenige Berichte zu unerwünschten Ereignissen bei der Verabreichung von Glukose- oder Saccharoselösungen vor. Es kann in seltenen Fällen zu Anzeichen von Ersticken oder Würgen kommen, schwerwiegende unerwünschte Ereignisse wurden laut Autoren nicht dokumentiert (Stevens et al., 2016; Stevens et al., 2018). Wobei "Anzeichen von Ersticken" ja schon als schwerwiegend bezeichnet werden sollte.
Die orale Verabreichung von Saccharose bei extrem unreifen Frühgeborenen, die instabil oder beatmet sind oder beides zusammen, ist noch nicht ausreichend untersucht (Stevens et al., 2018). Wiederholte Verabreichungen von Saccharose führten in zwei Tiermodellen zu Hirnveränderungen, das Kurzzeitgedächtnis im Erwachsenenalter war vermindert (Tremblay et al., 2017; Ranger et al., 2019). Die S3-Leitline |21|"Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen" empfiehlt, da es Untersuchungen am Menschen dazu bisher nicht gibt, "sollten auf Grundlage der Tierexperimente keine unkontrollierten oder hohen, oder dauerhaften Gaben von oralen Zuckerstoffen erfolgen - v.?a. nicht in Situationen ohne Schmerzreiz." (DGAI, 2021, S. 235). Zu den langfristigen Auswirkungen der wiederholten Verabreichung von Saccharose bei kranken oder sehr früh geborenen Neugeborenen in Kombination mit anderen nicht-medikamentösen oder medikamentösen Maßnahmen gibt es keine Erkenntnisse (Stevens et al., 2016).
1.2 Stillen und Verabreichen abgepumpter Muttermilch
Das Stillen (Napiórkowska-Orkisz et al., 2022; Tavlar & Karakoc, 2022) und das Verabreichen von abgepumpter Muttermilch (Yilmaz & Arikan, 2010) sind sehr gut wirksame Maßnahme zur Schmerzlinderung beim Fersenstich, z.?B. bei der Blutentnahme für das Neugeborenenscreening, das bei allen Früh- und Neugeborenen durchgeführt wird.
Durchführung: Um eine Schmerzlinderung durch Stillen zu erreichen, wird das Neugeborene mindestens drei Minuten vor bis drei Minuten nach dem Eingriff gestillt (Tavlar & Karakoc, 2022). Vor Beginn der Fersenblutentnahme wird die Mutter in die richtige Technik des Anlegens des Neugeborenen eingewiesen. Das Stillen sollte effektiv sein. Beim Auftreten von Schwierigkeiten beim Stillen muss zunächst das Stillproblem gelöst werden. Die Position des Neugeborenen während des Stillens wird zuvor mit der Mutter...