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»Es ist keine Frage: der Hesse von heute hat ein Staatsbewusstsein. Es ist ein Staatsbewusstsein, das aus dem Zusammenschluss der Waldecker, der Kurhessen, der Nassauer, der Darmstädter Hessen und der Bürger der freien Reichsstadt Frankfurt entstand und vom Geiste der Toleranz, der Geistesfreiheit und des Bürgerstolzes getragen wurde. Toleranz, Geistesfreiheit und Bürgerstolz sind die Charaktermerkmale der Hessen. Sie haben sie immer wieder unter Beweis gestellt, angefangen von der Aufnahme der wegen ihres Glaubens verfolgten und außer Landes gewiesenen Hugenotten bis zur Eingliederung der Heimatvertriebenen und Flüchtlinge in unseren Tagen.«1 Mit diesen Worten auf dem ersten Hessentag am 2. Juli 1961 in Alsfeld umriss Ministerpräsident Georg August Zinn (SPD) das sich nach dem Zweiten Weltkrieg insgesamt doch herausbildende gesamt-hessische Bewusstsein, obwohl das Land erst am 19. September 1945 durch einen Verwaltungsakt der Amerikaner gebildet worden war. Dabei verliefen Gründung und Festigung des neuen Landes ohne Spannungen zwischen den Regionen, die eben keine gemeinsame politische Geschichte hatten. Unterschiedliche landsmannschaftliche Traditionen flossen ineinander, die so fremd sich nicht waren, sieht man einmal von dem großen Kontingent an Neubürgern ab, die nach dem Zweiten Weltkrieg im Zuge von Flucht und Vertreibung in die hessischen Lande strömten und in einem langwierigen, mitunter schmerzvollen Prozess ein neues Zuhause fanden. Gleichwohl, so analysierte die Wochenzeitung Die Zeit 20 Jahre nach der Premiere des Hessentags, sei das hessische Staatsbewusstsein ein »Konglomerat historisch und konfessionell unterschiedlich geprägter Teile«. Historische Traditionen und regionale Identitäten erweisen sich als fest implementiert. So schreibt die Zeit weiter: »Da gibt es nicht nur Nord- und Südhessen.«2 Also entwickelte sich etwas »Gesamthessisches« nur ganz allmählich.
Obwohl letztlich die Amerikaner die Geburtshelfer des heutigen Hessen waren, so standen doch die Hessen als Eltern und Paten an der Wiege des neuen Landes, dessen nach dem Krieg zusammengefügte Territorien gemeinsame historische Traditions- und Entwicklungslinien vorweisen konnten, sodass der Zusammenschluss von 1945 in gewisser Weise zu Formen eines Zusammengehörigkeitsgefühls führte, trotz unterschiedlicher historischer Wurzeln und unterschiedlicher Identitäten der Räume. Dabei existiert ein »Historikerstreit« en miniature, ob Hessens Gründung im ersten Nachkriegsjahr eine künstliche Schöpfung der amerikanischen Sieger, ja gar ein »ahistorischer Willkürakt einer landesunkundigen Besatzungsmacht« oder im Gegenteil die »nachvollziehbare Vollendung einer historischen Tradition« gewesen sei.3 Hier nur so viel: »Separatistische« oder sich dem Gesamthessischen vehement verweigernde Bewegungen kamen nicht auf, auch wenn das Land eine Zusammenfügung unterschiedlicher Territorien war und dabei noch um wesentliche Teile (das volksstaatliche Rheinhessen und vier nassauische Kreise) beschnitten wurde. Aber: Keineswegs erweist »sich die moderne Forschung einig, dass es sich dabei um eine >Kunstschöpfung der amerikanischen Besatzungsmacht handelte<«, wie 2010 konstatiert wurde.4
Ungeachtet der erst später erfolgenden Herausbildung der politischen Einheit Hessen ist es legitim, eine Geschichte Hessens für das 20. Jahrhundert vorzulegen, die den territorialen Rahmen des heutigen Landes als Betrachtungsgegenstand nimmt. Es gab auch vor 1945 Gemeinsamkeiten und Verbindungslinien in den seinerzeit durch politische Grenzen getrennten hessischen Gebieten. So handelt es sich bei der vorliegenden Darstellung also um eine Geschichte eines Raumes, der als Einheit zunächst gar nicht existierte. Bislang wurden immer die unterschiedlichen Territorien einzeln behandelt. Karl E. Demandt tut dies in seiner großen Geschichte Hessens5 wie auch Uwe Schultz und Walter Heinemeyer in ihren Sammelbänden der 1980er-Jahre.6 Auch das umfassende Projekt »Handbuch der hessischen Geschichte« bringt zum Auftakt neben den bis 1945 reichenden weiten Überblicken zur preußischen Provinz Hessen-Nassau und zum Großherzogtum bzw. Volksstaat Hessen - im Folgenden wird beides zur Verdeutlichung zumeist mit dem Zusatz (-Darmstadt) versehen - auch ein eigenes Kapitel über Waldeck bis zum eigenstaatlichen Ende 1929.7
Man wird also zunächst nicht von der hessischen Politik sprechen können, zumindest nicht bis zum Jahr 1933, als mit der nationalsozialistischen Diktatur über Zentralisierung und Gleichschaltung Nivellierungen spürbar wurden, welche die politischen Unterschiede verwischten.8 In der Fortsetzung des Handbuches der hessischen Geschichte von 2010 wird nunmehr - jedenfalls da, wo es sich anbietet und es möglich ist - die gesamthessische Perspektive eingenommen.9 Dieser Blick auf das Hessen in seinen 1945 festgelegten Grenzen liegt auch hier zugrunde. »Hessen« bezieht sich also folglich auf das Land in seinem heutigen Staatsgebiet, was freilich nicht stringent eingehalten werden kann. Das Gemeinsame und das Verschiedenartige der Territorien wird beschrieben, ohne dass eine künstliche Vereinheitlichung kreiert wird.10 Es geht eben um die Einheit aus der Vielfalt - um den Titel einer 1990 begründeten kleinen Reihe der Hessischen Landeszentrale für politische Bildung aufzugreifen -, aber auch um die Vielfalt vor der Einheit.11
Dennoch gilt: Es ist nicht die Geschichte des heutigen Landes im 20. Jahrhundert, sondern es ist eine Geschichte Hessens über diese Zeitspanne, denn auf rund 650 Seiten kann der politische Weg nicht in aller Breite aufgezeichnet werden, zumal der Historiker immer eine individuelle Sicht auf die Ereignisse hat. Mathematische Eindeutigkeit gehört nicht zu den Kennzeichen der Geschichtswissenschaft. Ewige historische Wahrheiten jenseits des bloßen Faktischen gibt es nicht; Kenntnisstand und Blickwinkel der Betrachtung verändern sich. Gleichwohl bemüht sich eine historische Darstellung, mit der ihr eigenen Interpretation von Vergangenheit(en) der tatsächlichen Entwicklung möglichst nahe zu kommen.
Das geschieht hier in unterschiedlicher Dichte. So fällt das Kapitel 1945 bis 1950 im Vergleich zu den zeitlich längeren anderen Perioden naturgemäß ausführlicher aus, wurde doch in dieser Periode der Grundstein für eine dauerhafte Demokratie gelegt, und zwar in einer Zeit der Trümmer, nicht nur in (städte-)baulicher Hinsicht, sondern auch in politischer, wirtschaftlicher, sozialer, gesellschaftlicher und mentaler. Umso mehr bedarf es der ausführlichen Schilderung, warum auf diesen Trümmern die Pfeiler für eine stabile und seit mehr als einem Dreivierteljahrhundert funktionierende Demokratie errichtet werden konnten. Die Betrachtung der 14 Jahre der ersten Republik ist im Vergleich zu jener der nachfolgenden zwölfjährigen Diktatur signifikant umfangreicher. Das liegt zum einen daran, dass der hessische Raum in der nationalsozialistischen Zeit die weitgehend gleichen Entwicklungen wie die in den anderen größeren Verwaltungseinheiten jenseits des Hessischen durchlief, zum anderen, und dies ganz entscheidend, weil in der Terrorherrschaft die wesentlichen Elemente von demokratischer Politik fehlten: Wahlen und Wahlkämpfe, Parteien und Interessengruppen, Kompromiss und Konfrontation im Parlamentarismus auf der Basis des Volkswillens. Dagegen verlangt die Betrachtung der Diktatur eine eingehende Analyse von Leben und Lebensverhältnissen, vor allem des Unmenschlichen, das sich im Hessischen wie andernorts auch manifestierte.
Periphere Einzelaspekte wie etwa die Zuwanderung werden nicht der Zeit entsprechend in den chronologisch geordneten Großkapiteln zu finden sein, sondern dort in Gänze abgehandelt, wo sie erstmals in Erscheinung treten, um dann bis zum Ende unseres Betrachtungszeitraums beschrieben zu werden. Andererseits werden immer wieder auftauchende Themen wie die Stellung der Frau und Frauenpolitik auch über den Zeitrahmen des Einzelkapitels hinaus bis hin zu einer Zäsur dargelegt. Und je mehr wir uns dem Jahr 2000 nähern, desto dünner in Aussage und Analyse wird die Darstellung, denn die Zahl der historischen Studien, auf die zurückgegriffen werden kann, ist wesentlich geringer als für die davorliegenden Zeiträume. Neben dem Mangel an diesbezüglicher Literatur spielt natürlich auch die begrenzte Verfügbarkeit von Quellen eine Rolle. Diese unterliegen teils noch der Sperrfrist und dürfen weder eingesehen noch publik gemacht werden. Dort, wo die Quellen noch unter Verschluss liegen, übt sich der Historiker in vorsichtiger Zurückhaltung. Das gilt auch für diesen Band und erklärt den doch eher kursorischen Blick auf die Endzeit des 20. Jahrhunderts - und darüber hinaus. Zudem waren die Entwicklungen in den Krisenzeiten etwa in der ersten Republik viel dramatischer und stärker von Wendungen geprägt als in den doch eher geruhsamen bundesrepublikanischen...
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