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10. Januar 2020
Von keinem anderen Land der Erde wurde mir während meines Unterwegsseins mehr berichtet, keines scheint Reisende so zu polarisieren wie Indien. Es wirkt auf mich wie eine geheimnisvolle, fremde Welt. Ich traf Menschen, die in mit Räucherstäbchen benebelten Höhlen ihre scheinbare Erleuchtung und das wahre Glück fanden. Und andere, die in der Milliardenrepublik schlichtweg verrückt wurden und heute nur noch auf Drogen mit ihrem Leben klarkommen. Mein eigentliches Ziel in Indien war gewesen, irgendwo ein buddhistisches Kloster zu finden, um dort meinen ewig rastlosen Geist zu bändigen. Bis ich dann in Thailand einem buddhistischen Mönch begegnet war, der mich verwundert gefragt hatte, warum ich dafür nach Indien wollte. Dort herrsche doch eher die hinduistisch geprägte Weltanschauung vor und eben nicht der Buddhismus. Ich hatte ja keine Ahnung, was mich auf dieser großen Reise erwartete. Aber so muss es einem wohl ergehen, wenn man überstürzt in die Fremde aufbricht, ohne sich vorher darauf vorzubereiten.
Ich sehe es als ein Privileg der heutigen Zeit, als Spontanreisender ohne einen wirklichen Plan zu reisen. Die Technik macht es möglich: Mit Google Maps kann jeder ein Entdecker sein. Orientierung auf der Reise gibt mir eine in Gedanken gemalte Weltkarte in Schwarz-Weiß-Schattierungen. Über einige Ecken habe ich schon mal gelesen und mir selbst etwas darüber zusammengereimt. Doch die meisten Stellen der Karte sind unbekannt und dunkel. Länder, Landschaften und Ozeane, abgebildet in verschwommenen Graustufen, wie im Toner-Sparmodus gedruckt. Sobald ich jedoch ein Land erreiche, beginnt sie sich mit Farben zu füllen. All die strahlenden Menschen, die mir begegnen, ihre magischen Rituale und die blühende Natur sind wie Malereien, die meine Weltkarte bunt werden lassen.
Das Ziel meiner Reise? Es gibt kein Ziel. Auch wenn mein Kompass eher gen Osten zeigt und mich Asien schon immer neugierig machte, begleitet mich eine Frage, seit ich denken kann: Wo will ich hin? Eine Antwort zu haben würde im selben Moment wahrscheinlich bedeuten, am Ende meiner Reise zu sein. Ein Gedanke, der mich ängstigt. Denn was, wenn Ankommen mit Sesshaftsein gleichzusetzen ist? Eine gruselige Vorstellung.
Nicht selten spielen flüchtige Begegnungen am Wegesrand eine wichtige Rolle, wo die Reise weiter hingeht. In einem Nachtbus in Myanmar treffe ich auf Pieti aus Helsinki. Es sind erst wenige Tage vergangen, seit man mir im thailändischen Waldkloster die ernüchternde Nachricht eröffnet hatte, dass ich im hinduistischen Indien wohl kaum einen buddhistischen Tempel finden würde. Enttäuscht sitze ich im voll besetzten Bus, der die südlichste Stadt Myanmars Kawthaung mit dem nördlicher gelegenen Mergui verbindet.
Die schmale Rüttelpiste durch kurviges Gebirge existiert erst seit wenigen Jahren. Bevor es diese Fernverkehrsroute gab, nahmen reisende Burmesen das Schiff, um von einem Ort in den nächsten zu gelangen. Der Bus braucht für die fast 450 Kilometer über zwölf Stunden. In meinem alten Leben in Deutschland wäre ich mit dem Rennrad wohl noch schneller unterwegs gewesen. An den abrupten Wechsel des Verkehrsmittels haben sich die empfindlichen Mägen der Einheimischen bis heute nicht gewöhnt. Denn den rund fünfzig Burmesen um mich herum geht es trotz Schneckentempo viel zu schnell. Sie übergeben sich immer wieder in schwarze Plastikbeutel. Bloß mein auf deutschen Autobahnen groß gewordener Magen kommt mit den Turbulenzen klar. Und der von Pieti. Ein kleiner, unauffälliger Finne mit Stupsnase sitzt in der ersten Reihe und ist mit mir der einzige Westler und gleichzeitig der einzige nicht kübelnde Fahrgast.
Kurz nach Mitternacht hält der Nachtbus an einem kleinen burmesischen Straßenrestaurant an. Ich bin nicht hungrig, dennoch lotst mich mein Kompass auf die mit bunten Plastikstühlen gesäumte Außenveranda des Restaurants. Was ich suche, weiß ich nicht. Während der letzten Monate und Länder habe ich andere europäische Reisende meistens gemieden, als zu anstrengend empfand ich den Kontakt zu den oft gehetzten Urlaubern. Doch in dieser Nacht geht alles ganz schnell. Ich steuere intuitiv Pietis runden Tisch an. Er sitzt allein, die anderen drei Stühle sind nicht besetzt.
»Ist bei dir noch frei?« Pieti freut sich über die nächtliche Gesellschaft irgendwo im burmesischen Nirgendwo. Ich erzähle ihm von meiner Zeit in Thailand und den verworfenen Indienplänen. Die Aussage, dass es in Indien keinen Buddhismus gebe, verwundert Pieti.
»Aber du weißt schon, dass im äußersten Nordosten Indiens, in Tawang, das größte buddhistische Kloster außerhalb von Tibet liegt? Es ist ein wundersamer Ort«, entgegnet er. Kein Reiseführer, keine Bewertungsplattform, keine Internetrecherche, nein, ein kleiner sympathischer Finne malt seine eigenen Farbtupfer in meine Weltkarte. Die Begegnung mit ihm ebnet mir meinen weiteren Weg.
23. Februar 2020
Die Route nach Tawang führt mich an einem schwülheißen Februartag über ein kleines Hostel in der indischen Millionenstadt Guwahati in Assam, im Nordwesten des Landes. Es sind noch genau zwei Wochen, bis Anna nach Nepal fliegt. Vier Tage muss ich einplanen, um von Tawang zum Treffpunkt, dem Flughafen in Kathmandu, zu gelangen. Also bleiben mir insgesamt etwa zehn Tage, um den Geheimnissen des Buddhismus auf die Spur zu kommen. Kaum zu glauben. Ganz unverhofft werde ich Tibet nun doch noch sehr nahe kommen. Tawang gehört zum umkämpften indischen Distrikt Arunachal Pradesh. Seit Jahrhunderten erhebt China Anspruch auf das Territorium als Teil des Autonomen Gebiets Tibet. Bis heute führt der schwelende Grenzkonflikt immer wieder zu Militärmanövern auf beiden Seiten der Grenze.
Es ist fünf Uhr in der Früh. Meine Nächte im Hostel habe ich gestern Abend schon bezahlt. Alles, was ich jetzt noch brauche, ist ein Ticket nach Tawang und dringend ein Paar neue Socken. Denn als ich dem Hostelbesitzer gestern von meinen Plänen erzählte, fragte er mich erstaunt: »Du willst echt im Winter in die nordindischen Berge reisen?« Ja, will ich. Aber in meinem riesigen, hundert Liter fassenden schwarzen Trekkingrucksack sind bloß noch zwei Paar zerrissene Socken. Meine dünnen Sportstrümpfe habe ich vor einem Jahr fast täglich auf meiner langen Radreise zum Nordkap getragen. Sie waren so hauchdünn, dass sie mittlerweile an den Fersen durchgescheuert sind. Auch meine grünen Kniestrümpfe aus Wolle, die ich mir in Norwegen für die bevorstehende Nordkapexpedition zugelegt habe, sind kaputt. Es waren meine Lieblingssocken. Zwischen Moskau, Irkutsk, Ulan-Bator und Peking, auf Wanderungen am Baikalsee, durch die mongolische Steppe und in engen Gassen chinesischer Millionenmetropolen sind sie mir immer weiter aufgerissen. In China fiel dann mein Entschluss, bloß noch barfuß in die Schuhe zu schlüpfen. Der Sommer, dem ich einfach hinterhergereist war, hat es möglich gemacht. Doch nun wartet der Schnee des Himalayas auf mich. Ich brauche dringend etwas Warmes um die Füße.
Als ich über den Gemeinschaftsraum das kleine Hostel Richtung Bahnhof verlassen will, schlafen alle noch. Dann schallt es plötzlich durch den Raum, als hätte jemand eine spontane Erscheinung: »Deuter!« Ich habe keine Chance. Es ist schon wieder passiert. Denn egal, wohin ich auch reise, an meinem kleinen Extra-Rucksack, den ich zusätzlich zum Hauptgepäck auf der Brust trage, erkennt man mich immer wieder als Deutschen. »Ach, du trägst einen Deuter-Rucksack? Aus welcher Stadt in Deutschland kommst du?«, wird man an den entlegensten Orten dieser Welt entlarvt. Je weiter ich komme, desto mehr scheint es sich zu bewahrheiten: Deuter-Deutsche gibt es überall. Es gibt keine Steppe, keine Wüste, kein Gebirge und vor allem kein Hostel, wo man nicht auf Deutsch sprechende Backpacker trifft.
»Reist du schon ab?«, fragt mich der junge Kerl mit kahl rasierten Schläfen und blondem Springbrunnen-Zopf mitten auf dem Kopf direkt auf Deutsch.
»Nee, ich will heute nach Tawang. Aber dort liegt noch Schnee, und ich brauche unbedingt noch ein Paar warme Socken aus der Stadt«, erzähle ich ihm.
Er lacht laut und greift zu seinem dunkelgrünen, ausgefransten Deuter neben ihm auf der Couch.
»Mir ging es genauso. Ich reiste ohne Socken. Aber jetzt geht's mit dem Zug nach Nepal in die Berge. Hier, nimm dir gerne ein Paar, ich komme auch nur mit einem klar«, übergibt ...
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