Schweitzer Fachinformationen
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Es klingt wie ein Märchen. Ja, schon gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts greift am Nanga Parbat ein Mann nach den Sternen: A. F. Mummery, einer der unternehmungslustigsten englischen Alpinisten seiner Zeit. Knapp vierzig Jahre vor den Deutschen wird am Nackten Berg also der erste ernsthafte Versuch einer Besteigung unternommen. 1895 (!) ist Mummery mit seinen Landsleuten Collie und Hastings und zwei Gurkhasoldaten vom Rupaltal kommend ins obere Diamirtal eingedrungen und hat seine Zelte am Gletscherrand aufgeschlagen. Gegenüber, in der breiten Flanke, sieht er eine Reihe aufsteigender Felsrippen. Ein naturgegebener und durchaus möglicher Anstieg, denkt er. Es gelingt ihm, gemeinsam mit dem Gurkha Ragobir als Träger und einem eingeborenen Jäger, sich tatsächlich ein Stück weit über den mittleren Felssporn hinaufzuarbeiten: in Nagelschuhen, ohne Sicherungs- und Abseilhaken. Ein Zelt wird auf dem zweiten Felsriff verankert und mit Proviant versehen. Dem Lastentransport folgen ein Schlechtwettereinbruch mit Stürmen und der Rückzug. Dann ein zweiter Aufstieg. Ein zweites Proviantdepot wird in 6100 Meter eingerichtet. Als Mummery mit Ragobir über die Schneide der gratartigen, oberen Rippe hinaufklettert, löst sich ein Zyklopenblock aus den Eisbalkonen über ihnen. Zuerst Stille!
Mummery und Ragobir steigen über eine steil abfallende Felskante, als ein ohrenbetäubender Knall sie erschreckt. Sie ducken sich und sind sofort wieder auf den Beinen. Mittlerweile hat sich hoch über ihnen eine riesige Menge Eis und Schnee aufgetürmt, die wie eine immer stärker anwachsende Wolke auf sie zukommt. Sekunden später werden sie von einer brodelnden, weißen Wolke eingehüllt. Von unten, durch sein Fernglas, sieht Collie die beiden darunter verschwinden. Er hält sie für tot.
Diama-Gletscher Richtung Diama-Scharte
Auch Mummery befürchtet, dass die Staublawine sie mitreißt. Er wirbelt herum, sieht aber nichts mehr. Dann ein Krachen und Brausen, begleitet von Lichtblitzen, die für kurze Momente den Himmel erleuchten. Mummery hofft, dass sie von diesem donnernden Eis- und Schneewirbel verschont bleiben.
Ragobir ist völlig verstört. Er begreift die Zusammenhänge nicht und zittert am ganzen Leib. »Reiß dich zusammen«, schreit Mummery seinen Träger an. »Jetzt geht's um alles.« Er sagt es auch zu sich selbst, immer wieder, er sagt es wie ein Mantra vor sich her.
Collie schaut dem herabstürzenden Wolkenknäuel lange hinterher. Dann sieht er nach oben. Der Schneestaub verflüchtigt sich. Zwei Punkte tauchen auf, bewegen sich. Sie leben! Sie steigen weiter aufwärts. Die herabschießenden Eismassen sind durch die Felsrippe wie durch einen Schutzdamm seitlich abgelenkt worden und durch eine Rinne abgegangen. Sie haben die Kletterer oben an der Kante verschont.
Blick von der Diama-Scharte ins Rakhiot-Tal
Mummery, nur kurz beeindruckt von diesem Vorfall, fühlt sich auf dem Felsrücken also sicher und steigt mit seinem Gurkha unbeirrt höher. Allerdings nicht bis in das anschließende Eisfeld. Weit unter dem letzten Eissperrriegel erkrankt Ragobir. Das Tor zur Bazhin-Mulde, einem weiten Tal links der Gipfelfelsen, ist zwar offen, aber der Gipfel ist noch lange nicht in greifbarer Nähe. Der faire britische Gentleman gibt vorerst auf, obwohl er immer noch von ungebrochenem Angriffsgeist beseelt ist. Er bringt seinen kranken Träger zurück ins Ausgangslager.
A. F. Mummery
Am Morgen und an den Tagen vorher, auf dem Weg nach oben, hat sich Mummery ständig bemüht, den optimalen Weg zu finden. Es ging darum, sich die Route auf allen Abschnitten genau einzuprägen. Immer wieder hat er deshalb nach oben geschaut. Um sich beim Abstieg nicht zu versteigen? Wie unter einem inneren Zwang hat er sich das gesamte Terrain als Puzzle gemerkt, Stück für Stück, eine Serie von Bildern, mit Eisbalkonen, Rinnen, Felsvorsprüngen. Am ersten Aufschwung, der wie ein Schiffsbug aussieht, muss er im Abstieg links vorbei. Und er bleibt am besten auf der dünnen Schneelinie, bis sie sich in den Spalten verliert. Ja, man muss sich immer ein paar Orientierungspunkte merken, um beim Auf- oder Abstieg nicht plötzlich verloren zu sein!
Mummery hat sich diese Art der Orientierung in vielen Jahren antrainiert. Und jedes Mal, wenn er aufsteigt, zwingt er sich zum Vorausvollzug des Umkehrbildes - für den Abstieg. Diese Vorsicht hat ihm oft das Leben gerettet. Auch am Nanga Parbat. Wie sonst hätte er wieder herunterfinden sollen? Im Schneetreiben oder bei Nebel ist jeder Berg ein Labyrinth.
Eine mögliche Route zum Gipfel kennt Mummery. Hätten Kraft und Ausdauer aber ausgereicht, um hinauf- und wieder hinunterzukommen? Und was, wenn er noch eine Nacht in einem Freilager hätte biwakieren müssen? Nein, er hätte auch am darauffolgenden Tag die Spitze des Nanga nicht erreicht, niemals.
Die Geschichte wird damit eine andere, eine tragische. Dauernde Schneefälle machen Mummery einen weiteren Aufstieg über seine ausgekundschaftete Gratrippe hinaus unmöglich. Er entschließt sich, aufzugeben und die Diama-Scharte im hintersten Talwinkel zu inspizieren. Will er mit seinen beiden Gurkhas den Rakhiot-Kamm überschreiten? Vielleicht. Am Nordfuß des Berges hat er sich mit Collie und Hastings verabredet, die mit dem Großteil der Expeditionsausrüstung ohne viel Risiko und über drei kleine Pässe auf der Chilas-Seite ins Rakhiot-Tal hinüberwechseln sollen. Mummery aber kommt dort nie an.
Hastings und Collie eilen zurück in das Diamirtal. Die englischen Behörden mobilisieren die Einwohner der umliegenden Täler, um nach Mummery zu suchen. Sie finden ihn nicht. Es wird vielleicht für immer ungeklärt bleiben, wo und wie dieser Pionier starb. Nur eines ist sicher, der Abstieg von der Diama-Scharte gegen Osten war 1895 nicht möglich. Ist Mummery also von einer Lawine verschüttet worden? Ist er in eine Spalte gestürzt? Oder hat er doch noch einmal nach dem Gipfel gegriffen? Über jene Nordwandrampe, die ich 105 Jahre später durchstieg. Dort jedenfalls hätte Mummery eine winzige Chance gehabt, den Nanga-Parbat-Gipfel zu erreichen.
Der Nanga Parbat von Norden gesehen, Rakhiot-Seite
Willo Welzenbach, der erfahrenste Eisspezialist der Zwischenkriegszeit, greift 1930 die Idee einer Nanga-Parbat- Expedition von Walter Schmidkunz auf. Schmidkunz, Schriftleiter des Deutschen Alpenvereins in München, der Mummerys letzte Briefe an seine Frau ins Deutsche übersetzt hat, sieht im Nanga Parbat den leichtesten Achttausender. Aber dann übernimmt Willy Merkl Welzenbachs Plan und führt 1932 eine deutsch-amerikanische Mannschaft zum »Nanga«. Er will zur Rakhiot-Seite des Achttausenders, dorthin, wohin zuletzt auch Mummery gewollt hat. Willy Merkl hält die Diamir-Seite des Berges für zu gefährlich. Dass die Südwand unbegehbar ist, weiß er von Mummery. Damit bekommt die Nanga-Parbat-Südwand, auch Rupalflanke genannt, ihr besonderes Flair. Sie gilt als das Unmögliche schlechthin. So beschreibt auch Günter Oskar Dyhrenfurth in seiner Besteigungsgeschichte des Nanga Parbat die Südost- und Südfront des Massivs als eine der höchsten Wände der Welt: »4500 Höhenmeter, die obere Hälfte von ungeheurer Steilheit, mit wilden Strebepfeilern, Wandstufen und Hängegletschern. Auch ein optimistischer und einsatzbereiter Bergsteiger muss sich rasch davon überzeugen, dass diese Riesenwand selbst für einen Versuch nicht infrage käme.«
Die deutsch-amerikanische Expedition erkundet 1932 also den Zugang zum Gipfel aus dem Rakhiot-Tal. Man kommt ziemlich weit hoch dabei, und die Mannschaft kehrt ohne Verluste ins Basislager zurück. Auf der Heimreise aber stürzt der Amerikaner Rand Herron - nachdem er den Lawinen und allen Gefahren am Nanga entgangen ist - an der Chefren Pyramide in Ägypten ab. Er ist tot. Schicksal, sagen die Nanga-Veteranen. Der
»Dämon« des Berges habe nach ihm gegriffen, unken die Einheimischen. Unbeeindruckt davon, beschreibt Merkl die Faszination des Kampfes um den Gipfel: Es gibt kein größeres Ziel!
»Hart war der Kampf, nahe der ersehnte Gipfel. Schwer ist der Verzicht, bitter die Erkenntnis, dass die Größe dieses gewaltigen Berges sich nicht unter unseren Willen hat zwingen lassen. Aber auch in der Reihe der Kämpfer zu stehen, Wegbereiter zu sein zu den höchsten Zielen, ist Glück.« Auch die Gefahren werden mystifiziert: »Worte vermögen keine Vorstellung von der Gewalt und dem Ausmaß der Eisstürze im Himalaja zu geben. Mit furchtbarem Dröhnen haben wir kilometerlange Eisbarrieren abstürzen sehen und in der unheimlichsten Verfinsterung des sich niederlegenden, dichten Eisstaubes kaum atmen können. Unheilkündend geht es von Mund zu Mund: der zornige Gott des Nanga habe nach uns geworfen. Spuken wirklich schlimme Geistergeschichten in den Köpfen der Einheimischen?« Nein, aber damit entsteht das Idealisieren eines Kampfes, der ein Titanenkampf werden soll. Auch die Vorstellung vom Berg als übergeordnete Idee.
Die Teilnehmer 1934 von links nach rechts, vordere Reihe: Schneider, Welzenbach, Aschenbrenner, Merkl, Konsul Kapp, Müllritter, Kuhn; hintere Reihe: Bernard, Wieland, Capt. Sangster, Hieronimus, Bechtold
Bergsteigen am Nanga Parbat wird zum Synonym für Werte wie bedingungslosen Einsatz, Treue bis in den Tod, Kameradschaft als Seilschaft fürs Leben. Und der Gipfel steht über allem: Gral und damit Metapher für das gemeinsame Ziel. Für Merkl fordert die Lösung der Probleme im Himalaja »andere Voraussetzungen als das Bezwingen der Berge unserer Ost- und Westalpen. Denn es ist ein Unterschied, ob man alle seelischen und körperlichen Kräfte auf Tage oder auf Monate zusammenfassen muss. Im Himalaja...
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