Schweitzer Fachinformationen
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In der modernen Diagnostik sind standardisierte Verfahren unverzichtbar geworden. Die klinische Einschätzung aufgrund einer unstrukturierten Interaktion zwischen Untersucher und Patient ist wegen systematischer Urteilsfehler anfällig für Verzerrungen, sodass es hierbei leicht zu Fehldiagnosen und zu geringen Übereinstimmungen mehrerer Diagnostiker kommt. Peter Fiedler spricht in seinen Seminaren immer von der Fehlerquelle der "Bauchdiagnostik". Standardisierte psychodiagnostische Verfahren sind in der Regel objektiver, reliabler und valider, was zu einer besseren Übereinstimmung verschiedener Untersuchungsergebnisse führt (Goldbeck & Stieglitz, 2009). Dies gilt natürlich uneingeschränkt für Persönlichkeitsstörungen und somit auch für die Borderline-Persönlichkeitsstörung und ist sicherlich Grundlage vieler Diskussionen um Widersprüche in den Ergebnissen verschiedener Untersuchungen. Gleichzeitig ist festzuhalten, dass es relativ wenige Erhebungsinstrumente zur Diagnostik von Persönlichkeitsstörungsmerkmalen im Kindes- und Jugendalter gibt (Krischer, Sevecke, Döpfner & Lehm kuhl, 2006). Sie werden im Folgenden vorgestellt.
Hervorzuheben ist das International Personality Disorder Examination Instrument (IPDE, Mombour et al., 1996), das als Einziges von der WHO zur Diagnose von Persönlichkeitsstörungen anerkannt ist. Dazu existiert im deutschsprachigen Bereich ein auf dem Interview basierender Fragebogen (Inventar zur Erfassung von Persönlichkeitsmerkmalen und -störungen, IPMS, Berner, Benninghoven, Genau & Lehmkuhl, 1998). Die Anwendbarkeit des NEO-5-Faktoren-Inventars (NEO-FFI) konnte wiederholt bei Jugendlichen ab dem Alter von 16 Jahren nachgewiesen werden (Borkenau & Ostendorf, 1993). Andere Autoren geben einem QSort-Verfahren zur Befra gung von Klinikern und Psychotherapeuten zur Einschätzung von Persönlichkeits merkmalen bei Jugendlichen den Vorrang. Das nach Cloninger, Przybeck, Svrakic und Wetzel (1994) entwickelte Junior Temperament- und Charakterinventar (JTCI, Schmeck, Meyenburg & Poustka, 2009) kann offiziell ab dem Alter von zwölf Jahren verwendet werden. Ein Selbstbeurteilungsfragebogen zur Erfassung von Persönlichkeitsdimensionen (Dimensional Assessment of Personality Pathology, Livesley & Jackson, 2001) wird in seiner Anwendbarkeit für das Jugendalter derzeit in einer Studie untersucht. Fragebögen auf der Basis des Temperamentsmodells wie das Childhood Behavior Questionnaire oder das Inventory of Child Individual Differences können von Eltern, Lehrern und anderen Bezugspersonen für Kinder in jüngeren Alters stufen (drei bis zwölf Jahren) verwendet werden. Es wird deutlich, dass die meisten Instru mente nicht spezifisch sind, sodass am Ende sinnvollerweise nur der IPDE einzusetzen ist. Allerdings ist zu beachten, dass die deutsche Version sich auf die ICD-10-Kriterien und nicht auf die DSM-Kriterien bezieht. Der Fragebogen ist ab ca. 14 Jahren einsetzbar, fragt 6 Lebensbereiche ab, und erst nach Ende des Interviews wird eine Diagnose erfasst. Der Bereich "Arbeit" muss für einige Jugendliche durch den Begriff "Schule" ersetzt werden, dennoch bleiben die Ergebnisse valide.
Neben der eigentlichen Diagnose ist es natürlich auch notwendig, die Ausprägung der verschiedenen Symptome zu erfassen. Instrumente zur Quantifizierung der Symptomatik, d. h. zur Schweregradbestimmung, sind erst in jüngster Zeit erschienen: Zanarini publizierte eine DSM-basierte Fremdrating-Skala mit dem Titel "Zanarini Rating Scale for Borderline Personality Disorder" (ZAN-SCALE) (Zanarini, 2003; Zanarini, Frankenburg, Hennen & Silk, 2003). Arntz und Mitarbeiter entwickelten den "Borderline Personality Disorder Severity Index" (BPDSI; Arntz et al., 2003) und veröffentlichten erste sehr erfreuliche Prä-Post-Messungen. Bohus und Mitarbeiter entwickelten die Borderline Symptom Liste (BSL; Bohus et al., 2001) als 90-Item-Selbstrating-Instrument. Die psychometrischen Kennwerte sind gut, dies betrifft auch die Veränderungssensitivität. Das Instrument liegt mittlerweile auch als 25-Item-Kurzfassung vor, die sicherlich für den Einsatz bei Jugendlichen sinnvoller ist, da diese einen 90 Items umfassenden Fragebogen wahrscheinlich eher verweigern werden (aktiv oder passiv) als einen Kurzfragebogen mit 25 Items. Zusätzlich ist die Qualität der Kurzversion vergleichbar gut.
Die klinische Diagnostik in der Praxis sollte sich am hier vorgestellten Entscheidungs-Algorithmus orientieren (s. Kasten).
Einschießende intensive aversive Anspannung
Starke Affektschwankungen
Selbstverletzungen
Chronische Suizidalität auch außerhalb depressiver Episoden
IPDE (International Personality Disorder Examination, Borderline-Modul)
BSL (Borderline-Symptom-Liste - Selbstrating)
ZAN-Skala (Zanarini-Scale - Fremdrating, deutsche Version derzeit nicht validiert)
SKID I (Strukturiertes Klinisches Interview für Achse I-Störungen, nach DSM-IV)
Mittels dieser Vorgehensweise erscheint es möglich, eine reliable und valide Diagnose als Basis einer angemessenen Behandlung zu stellen. Gleichzeitig stellt vor allem die Schweregradeinschätzung einen fortlaufenden behandlungsbegleitenden Prozess dar (Schulte, 1998).
In der Primärversorgung kann, bevor es zum Einsatz von standardisierten Verfahren kommt, zunächst das Leitsymptom der intensiven aversiven Anspannung erfragt werden. Wird dies bejaht und zudem angegeben, dass Maßnahmen wie Selbst verlet zungen, Erbrechen, intensive körperliche Anstrengung oder Alkohol-Abusus zur kurz fristigen Entlastung eingesetzt werden, empfiehlt es sich, die Items des IPDE zur klinischen Diagnostik heranzuziehen. Dabei wird dann natürlich auch erfasst, ob die Person die Symptome weiterer Persönlichkeitsstörungen aufweist, die die Behandlung eventuell verkomplizieren können. Leider ist es auch bei den Persönlichkeits störungen so, dass in der Regel die Personen die Diagnosekriterien mehrerer Persönlichkeitsstörungen erfüllen. Die mangelnde Trennschärfe der Symptome und damit die starke Überschneidung der verschiedenen Störungen ist einer der Gründe für die Diskussion um die Persönlichkeitsstörungen.
Der Übergang von "normalen" Persönlichkeitsstilen in klinisch relevante Persönlichkeitsstörungen ist fließend! So sehr kategoriale Diagnosen komplexe Verhaltenskonstellationen abgrenzen lassen, für die es dann je spezifische therapeutische Interventionen gibt, so werden gerade Individuen, die im Grenzbereich solcher Definitionen liegen, dadurch bisweilen nicht erfasst und folglich von sinnvollen therapeutischen Maßnahmen ausgeschlossen. Im Kindes- und Jugendalter ist dies ein typisches Pro blem. Jugendliche erfüllen die kategorialen Persönlichkeitsstörungsdiagnosen oft nur teilweise, wobei ihre dysfunktionalen Persönlichkeitsmerkmale sich dennoch negativ auf ihre Entwicklung auswirken können. Dimensionale diagnostische Modelle zur Erfassung der Übergänge von gesunden zu gestörten Persönlichkeitsmustern erscheinen im Kindes- und Jugendalter daher den kategorialen Klassifikationsansätzen überlegen. Eine Persönlichkeitsstörung ist als das Extrem auf einer kontinuierlichen Verteilung von Persönlichkeitsmerkmalen anzusehen. Shedler und Westen (2004) machen den Vorschlag, kategoriale und dimensionale Ansätze zu integrieren, ein Vor schlag, der im "Alternativmodell" der DSM-V für alle Persönlichkeitsstörungen übernommen wird. Sie gehen von typologischen Definitionen einzelner Persönlichkeitsstörungen aus und erfassen aufgrund dimensionaler Erhebungen die Passung des gegenwärtigen Persönlichkeitsmusters zum Typus.
Fünf Diagnosestufen werden angegeben:
Stufe 1: Die vorhandene Beschreibung trifft auf das Individuum nicht zu.
Stufe 2: Das Individuum weist nur wenige Facetten des Störungsbildes auf.
Stufe 3: Die diagnostischen Kriterien treffen moderat zu, wobei signifikante Aspekte des Störungsbildes bei dem Individuum fassbar werden.
Stufe 4: Der Patient weist das entsprechende Störungsbild sicher auf. Die Diagnose passt.
Stufe 5: Der Patient repräsentiert die entsprechende Störungsdiagnose geradezu und ist für dieses Störungsbild prototypisch.
Ergänzt wird dieses Vorgehen durch die Definition von spezifischen Traits, die die Grundlage bilden und deren Ausprägung ebenfalls gerated wird. Ein solches Diagnoseverfahren erscheint besonders gut geeignet, Persönlichkeitsstörungen im frühen Lebensalter zu erfassen, und stellt eine sinnvolle Ergänzung zu den rein kategorialen Vorgehensweisen dar.Wie in vielen anderen Zusammenhängen auch zu beobachten: Die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen benötigt in vielen Aspekten andere Vorge hensweisen und mehr Flexibilität als die therapeutische Arbeit mit Erwachsenen.
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