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Wenn Antonia Bellago in späteren Jahren auf ihr Leben zurückblickte, kam es ihr vor, als habe es, ohne daß sie es damals bemerkt hätte, in ihrem neunundzwanzigsten Lebensjahr eine Zäsur gegeben. Die Schatten von draußen rückten näher und verdunkelten allmählich die Tage, die bisher so licht und sorglos gewesen waren.
»Dieses Kind ist so alt wie der Krieg«, hatte der Pfarrer bei der Taufe gesagt, aus deren Anlaß sich Antonias Familie versammelt hatte. Gerade so viele waren sie, daß jeder von ihnen am Rande des sechseckigen Marmorbeckens Platz fand, in das der Mesner kurz vorher erwärmtes Taufwasser gegossen hatte. Antonia, die junge Mutter, stand neben dem Pfarrer. Sie hielt das Taufkind in den Armen, das in wenigen Augenblicken den Namen Elisabeth erhalten sollte, seit seiner Geburt aber bereits von allen Lilli genannt wurde.
Zur allgemeinen Erleichterung schlummerte Lilli sanft. Nur von Zeit zu Zeit öffnete sie kurz die Augen, seufzte leise und schlief dann sofort wieder ein. Ein Teil der Anwesenden erinnerte sich bei ihrem friedlichen Anblick daran, daß die Taufe von Lillis älterer Schwester sieben Jahre zuvor wesentlich turbulenter verlaufen war. Die kleine Enrica, die damals das gleiche spitzenbesetzte Taufkleid trug wie heute Lilli, hatte während der ganzen Zeremonie ohne Unterbrechung durchdringend gebrüllt. Erst als alles vorbei war, verstummte sie und war von da an den ganzen Tag der liebenswürdigste Säugling, den man sich nur vorstellen konnte. Ihr lautstarker Auftritt diente seither in Pfarrkreisen dazu, besorgte Eltern zu beruhigen, wenn sie fürchteten, ihr Kind könnte durch sein Geschrei das Taufritual stören. »Da gab es einmal eine Enrica«, erklärte man ihnen dann mit einer Stimme, als spräche man von der mittelalterlichen Pest. »Die hätten Sie hören sollen!« Heute allerdings stand Enrica im weißen Kleidchen zwischen ihren Eltern, seltsam gerührt, als wäre sie selbst eine kleine Mutter. Alle Anwesenden hatten gehört, was sie mit leuchtenden Augen geflüstert hatte, als der weißgewandete Geistliche im Gegenlicht die Kirche betrat: »Da kommt ja der liebe Gott!«
Auch der Pfarrer hatte es vernommen und daraufhin selbstgefällig gelächelt. Sein Familienname war »Herrn«, und jedesmal, wenn die Gläubigen das Lied >Lobet den Herrn< anstimmten, lächelte er so wie eben, als würde ihm eine Ehrenbezeigung erbracht, auf die er ein Anrecht hatte. Die Gemeinde schmunzelte darüber, wenn auch zunehmend verdrossen, da es kaum noch eine Messe des Pfarrers gab, bei der er das Lied nicht singen ließ.
Neben Antonia stand ihr Mann Ferdinand Bellago, mit dem sie seit acht Jahren verheiratet war. Daß das zweite Kind wieder ein Mädchen war, spielte weder für Ferdinand noch für die übrige Familie eine Rolle, obwohl die gegenwärtige öffentliche Meinung Söhne eindeutig favorisierte. Auf diesbezügliche Bemerkungen antwortete Ferdinand: »Hauptsache gesund!«, was zwar die meisten Väter in einem solchen Fall sinngemäß zu sagen pflegten, doch Ferdinand Bellago verspürte tatsächlich keinerlei Bedauern. Während er nun am Taufbecken stand und den Arm um die Schultern seiner Frau legte, dachte er daran, daß sie elf Jahre jünger war als er, doch beide hatten den Altersunterschied nie wirklich wahrgenommen. Und auch in ihrem Bekanntenkreis bildete er kein Thema. Ferdinand und Antonia Bellago galten einfach nur als schönes, angenehmes Paar, das man gern bei sich zu Hause empfing - besonders Antonia, denn sie war lebhaft und nahm regen Anteil an den Tischgesprächen.
Als der Pfarrer nun mit einem Kopfnicken ans Taufbecken trat, übergab Antonia den Täufling an den Paten Thomas Harlander - Juniorpartner in Ferdinand Bellagos Anwaltsbüro. Die Bellagos hatten ihm die Patenschaft angetragen, um ihn noch enger an die Familie und die Kanzlei zu binden. Er nahm es mit Humor und bemerkte nur ganz nebenbei, daß er sich für eine derartige Würde eigentlich noch nicht gesetzt genug fühle.
Fünf weitere Personen nahmen an der Taufe teil: Ferdinands und Antonias Eltern sowie Antonias jüngerer Bruder Peter, der noch aufs Gymnasium ging. Ihre nächsten Angehörigen standen hier vereint beieinander, dachte Antonia, während ihr Blick von einem zum anderen wanderte. Eigentlich hatten die beiden Familien nicht viel miteinander gemein, doch in den zwei kleinen Mädchen verband sich ihr unterschiedliches Erbe.
»Dieses Kind ist so alt wie der Krieg«, wiederholte der Pfarrer, und wie beim ersten Mal zuckte Antonia zusammen. Es hätte ein so schönes Fest werden können, dachte sie, wenn der Pfarrer es nicht mit diesem einen Satz zunichte gemacht hätte, der daran erinnerte, daß es außerhalb dieser Familie noch eine andere Welt gab, die ihr Glücksgefühl über die Ankunft eines neuen kleinen Menschenwesens nicht teilen konnte. Panzer, die ein schwaches Land überrollten. Flugzeuge, die ihre tödliche Fracht abwarfen. Gewehrkolben, die Türen einschlugen. Gewalt gegenüber hilflosen Menschen, kaum vorstellbar für jene, die noch im Frieden lebten und sich wünschten, daß es ewig so bliebe.
Dieses Kind ist so alt wie der Krieg . Meine arme kleine Lilli, dachte Antonia: Elisabeth Bellago, gerade sechzehn Tage alt, so zart noch, so verletzlich, daß man beim Baden Angst hatte, dem winzigen Körper ein Leid anzutun. Ein ganz junges Leben, ohne jede Schuld. Niemand hatte das Recht, es mit dem Krieg in Verbindung zu bringen, diesem Urverbrechen der Menschheit, das alle anderen Schandtaten weit übertraf.
Wie es in der Familie Bellago üblich war, hatte Lillis Geburt zu Hause stattgefunden, da man das Risiko nicht eingehen wollte, daß in der Klinik die Gebärende den Kreißsaal mit anderen Frauen zu teilen hätte - eine Nähe, der man sie nicht aussetzen wollte. Die Bellagos waren im allgemeinen auf Distanz bedacht, auch wenn sie mindestens einmal die Woche Gäste hatten und noch häufiger selbst eingeladen waren. Trotzdem wagte niemand, Franz Josef Bellago seinen Freund zu nennen, und ebensowenig konnte sich eine der Damen der Gesellschaft damit brüsten, daß die alte Frau Doktor ihr jemals ein Geheimnis anvertraut, sie um Rat gebeten oder sich auch nur einen Scherz über die eigene Familie erlaubt hätte. Trocken seien sie, die älteren Bellagos, hieß es, staubtrocken, und bevor seine Heirat ihn offener gemacht hatte, habe es so ausgesehen, als ob auch der Sohn auf dem besten Weg wäre, ihrem Beispiel zu folgen.
Im Gegensatz zu ihren Schwiegereltern galt Antonia Bellago als heiter und aufgeschlossen, so daß sie nicht in die provinzielle Enge der kleinen Stadt zu passen schien, in die ihre Heirat sie verschlagen hatte. Sie war stets freundlich, und wenn man sie nach ihrer persönlichen Meinung fragte, antwortete sie offen und mit Gefühl. Sie war ein Gewinn für diese Familie, dessen war man sich sicher. Eine Rose zwischen lauter Dornen, hatte ein heimlicher Verehrer sie einmal genannt, und wer sich der Bellago-Villa mit ihren hohen Zaunspitzen und der einschüchternden Hausfront näherte, atmete auf, wenn ihm die junge Frau lächelnd entgegenkam und ihn willkommen hieß.
Die Geburt war ohne Komplikationen verlaufen. Antonia erholte sich schnell. Ihre Schwiegermutter achtete darauf, daß der Schlaf der jungen Mutter durch das Neugeborene nicht gestört wurde. Lillis Kinderzimmer lag mehrere Türen vom Schlafgemach ihrer Eltern entfernt. Es war das Reich der Kinderfrau Fanni, die schon Enrica aufgezogen hatte und der alle blind vertrauten, wie die vermögenden Stadtleute schon seit Generationen ihre Kinder in die Obhut der jungen Bauerntöchter aus dem Umland gaben. Bereits sieben Jahre lebte Fanni im Haus, fast so lang wie Antonia, und sie hatte sich noch nie von irgend jemandem hier einschüchtern lassen.
»Geh'n S', Herr Doktor!« pflegte sie zu antworten, wenn Franz Josef Bellago sie zurechtwies oder sie auf halb spöttische, halb streitbare Art aus der Reserve zu locken suchte. »Geh'n S', Herr Doktor!« - Manchmal kampfbereit mit finster gerunzelten Brauen, manchmal tadelnd, wie niemand sonst es gewagt hätte, doch zuweilen auch wieder verschämt lächelnd, als wäre der alte Herr noch ein junger Mann, der ihr gerade ein Kompliment gemacht hatte. »Geh'n S', Herr Doktor!« Dann drehte er sich scheinbar verärgert um und ließ sie stehen, ohne daß ein Schmunzeln sein heimliches Wohlbehagen verraten hätte.
Ja, staubtrocken waren sie, die alten Bellagos, aber es ließ sich mit ihnen auskommen. Das fand Fanni und das fand auch Antonia. Von Anfang an hatte sie sich in der Familie ihres Mannes wohl gefühlt, die so ganz anders war als ihre eigene. »Geh'n S', Herr Doktor!« tadelte auch sie manchmal ihren Schwiegervater und imitierte Fannis Lächeln und ihre kokette Schulterdrehung. Dann kam es vor, daß er doch ein wenig schmunzelte und sich insgeheim eingestand, daß sein Sohn - dieser lahme Knochen, der so lange gebraucht hatte, bis er endlich die Richtige fand! - eine akzeptable Wahl getroffen hatte.
Eine angenehme Zeit hatte man bisher miteinander verbracht. Das kleine Mädchen im Taufkleid aus Brüsseler Spitze wurde in eine Familie hineingeboren, die Zuneigung und Fürsorge versprach. Gute Wünsche, liebevolle, sollten ihm bei der Taufe mitgegeben werden - nicht der Hinweis darauf, daß dieses verletzliche junge Leben gerade so alt war wie ein jenseits der Grenzen ausgebrochener Krieg.
Der weitere Verlauf des Tages wurde vom Naturell Franz Josef Bellagos diktiert, der Völlerei haßte und es verabscheute, seinen asketischen Körper nach einem üppigen Mittagsmahl schon am Nachmittag wieder mit Kaffee und Torte zu traktieren, womit man seiner Auffassung nach dem Gehirn...
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