Schweitzer Fachinformationen
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Vor zwölftausend Jahren wird ein Fluss geboren.
In einer Senke am Fuß eines mit augenweißem Flint bedeckten Hügels entspringt erstmals aus einem Kreidespalt Wasser - und fließt davon. Entspringt und fließt, entspringt und fließt: über Tage, über Jahre, Jahrzehnte und Jahrhunderte, betrachtet von einem Tagmond zu Mittsommer und einer beerenroten Wintersonne, betrachtet bei jeder Witterung, von zwei Meter hohen Hirschen, von spähenden Falken und Füchsen, bei Hagel und Graupel, betrachtet von - Schnauze bis Schwanz - drei Meter langen Auerochsen.
Das Quellwasser fiel als Schnee zur Erde, sammelte sich, schmolz dann und sickerte durchs Felsgestein, bis es als Quelle wieder zutage trat - ein schlafloses, silbern sich kräuselndes Wallen in einem Gumpen, den es sich flüsternd und murmelnd selbst erschuf.
Das Wasser ist rein von den Jahren in der Tiefe. Es ist klar wie Glas mit einer blauen Note. Im Norden ziehen sich missmutig die Gletscher zurück: breite Kristallzungen und Bugspriete aus Eis, die knarzen und ächzen, während das sich erwärmende Klima sie zum letzten Kampf ins Hochland hinaufdrängt. Das große Eisschild hinterlässt aufgescheuerten Grund, Plateaus aus vernarbtem Fels, Seen und Moränen aus Schmelzwasser.
Ein unermessliches Gewicht ist vom Land abgerückt, das sich nun erleichtert hebt. Bäume stellen den Gletschern auf ihrer Flucht gen Norden nach: erst Birke und Hasel, dann füllt Grauweide die Lücken. Unten im Süden hat der Frost endlich seinen ehernen Griff gelöst, sodass das Wasser nun tief in die Erde einsickert, bis hinab zur Grundwasserschicht, wo es sich sammelt, um am Fuße des Hügels als Quell zu entspringen.
Aus dem Quell wird ein Bach wird ein Fluss, und sie alle zieht es zum Meer.
Jetzt sind wir achttausend Jahre vor unserer Zeit, in der Zeit der Linden. Ein wilder Wald streckt sich über das Land bis zu den Küsten und bis zum Rand der Senke, aus der die Quelle entspringt. Von Regen gespeist, strömt die Quelle stärker zur See: aus Schwerkraft oder aus einer Art Sehnsucht. Dann trifft das Rinnsal auf den Fluss, der feist zu seiner Mündung mäandert und schließlich - zwischen bronzenen Stränden - ans Meer gelangt, wo er durch Tide und Wind in den Wellen zerrinnt.
Durchs Baumgeäst an der Quelle schieben sich Schatten: Zum ersten Mal finden sich hier Menschen ein, vom Born des Wassers angezogen. Die Quelle wird zum Anker ihres Wanderns, ein seltsamer Fixpunkt in den Schleifen und Kreisen ihres jahreszeitlichen Ziehens. Hier trinken, essen und schlafen sie, hauen Flint mit Geweihstücken zu Ringen als Werkzeug, außen weiß, innen blau. Sie klemmen Holzschäfte an Klingen, zimmern Ahle und Deichseln, spitzen Stichel, mit denen sie in Knochen ritzen. Bauen sich Herdstellen aus Stein und lassen sie angekohlt in der Kreide zurück. Ihre Nachtfeuer lodern in der großen Einsamkeit des dünn besiedelten Landes und der noch größeren Einsamkeit des Universums. In einer Winternacht tanzt das Polarlicht über den Himmel: wechselnd helle Lichtflüsse, die sich in Strudeln winden und grünrosa auf die erstaunten Gesichter der Menschen fallen, bis das alles umspannende Dunkel sie wieder verschluckt.
Die Geschichte rast und lahmt, verwirbelt und bildet, wo Strom auf Gegenstrom trifft, Strudel. Leben und Tod erstehen und vergehen - und die Quelle ordnet das Leben um sie herum, wie seit jeher, sie drückt dem Land ihren Willen auf. Dann die ersten Siedlungen: Auf einem Hügel über der Quelle wird ein erhöhter Hag eingefriedet, groß genug für etwa zehn Familien. Jahrhunderte vergehen. Die Anlage wird verlassen, überwuchert, vom Grün verschlungen. Neue Tote finden in der alten Kreide ihre letzte Ruhe, Grabbeigaben werden zugefügt: Töpfe, Perlen und die riesigen Hörner eines Auerochsen, dem eine Streitaxt mit einem einzigen Hieb zwischen die lodernden Augen den Schädel zertrümmert hat.
Die Bilder der Laterna magica wechseln schneller und schneller. Zweitausend Jahre vergehen. Die Kreidehügel werden erneut zur Festung - ein riesiger Ringwall mit Graben und Palisaden. In dem kleinen Wald entspringen nun noch mehr Quellen: neun an der Zahl, sie füllen zwei Senken. Wasserträger kommen immer wieder hierher, trampeln auf ihren Gängen von der Festung zur Quelle einen Pfad in den Boden. Wasseranbetung flutet rundum das Land. Quellen und Bäche werden zu Heiligtümern, an denen das Wasser in Stimmen spricht, die niemand verstehen oder widerlegen kann. Zu dieser Zeit gelten Flüsse rundheraus als Götter und werden auch so benannt: Dana (die spätere Donau), Deva (der Dee), Tamesa (die Themse), Sinnann (der Shannon). Doch wenn der Wasserlauf, der aus den Quellen am Fuß des weißen Hügels entspringt, jemals einen Namen erhielt, ist er an die Zeit verlorengegangen.
Unzählig oft wird das Jetzt zu Einst. Die Pax Romana bringt Frieden ins Quelltal. Kleinbauern teilen das Land unter sich auf. In der Dämmerung schlagen ihre Eisenpflüge orange Funken aus dem Flint und lassen ihn bersten. Die scharfen Splitter bleiben liegen, ununterscheidbar von den Feuersteinen, die vor vier- oder fünftausend Jahren von Menschenhänden erschaffen wurden. Die Römer verehren die Dryaden der Bäume und die Naiaden des Wassers. Das Wasser einer bestimmten Quelle oder eines Baches ist nicht austauschbar. Woher es entstammt, ist bedeutsam. Auch wo entlang es geflossen kam, ist bedeutsam. Jeder Fluss trägt in sich einen anderen Geist und eine andere Sprache - und muss anders verehrt werden. Weit oben im Norden, wo die Gletscher ihre Bäuche einst übers Land schleiften, bauen batavische Soldaten auf einer Quelle einen Tempel und widmen ihn der Göttin Coventina, deren Name vom keltischen Wort gover abgeleitet ist, »kleiner Wasserlauf«. Massenhaft werden Coventina Geschenke dargebracht: Münzen, Perlen aus Knochen, Blei, Gagat, eine Kupferbrosche mit Wasserschlangen. Und wegen der kleinen Quellen mit dem klaren Wasser kommen von der befestigten Landstraße, die einen Kilometer entfernt verläuft, Jahr für Jahr Legionäre her, um Dolch und Speer niederzulegen, ihren Durst zu löschen und Gebete zu sprechen. Sie nennen den Ort Nona, nach einer der Schicksalsgöttinnen. Im Laufe der Zeit wird Nona zu Nine. Nine Wells, neun Brunnen - die Quellen des Schicksals, die einen Fluss gebären.
Die Zeit fließt dahin, wiederholt sich, und die Quellen sprudeln weiter, Jahr für Jahr. Blütenfolge: Schwarzdorn, Pflaume, Weißdorn, Hundsrose, Spindel. Blätter in verschiedenstem Grün: Hainbuche, Hasel, Eiche und Ahorn. Im Wald rund um die Quellen rufen die Eulen aus Eschen und Buchen einander zu, immerfort, Jahr für Jahr. Irgendwer befestigt an einem Baum am Rand der Senke eine lange Kette mit einer eisernen Schöpfkelle, damit die Menschen das kalte Quellwasser daraus trinken können.
Jahrhunderte vergehen. Die Pest schreitet in großen Schritten vom europäischen Festland bis hierher. Scharfzahnig und hungrig stürzt sie sich auf die junge Stadt Cambridge, die nun nahe der Quellen wächst - und verschlingt ihre Bewohner. Die halbe Stadt stirbt. Halb Europa stirbt. Ein alter Dornbaum blüht an den Quellen, und Bittsteller kommen, um an den Ästen Stofffetzen anzubinden und zu hoffen, dass das Leben des Wassers sie vor dem Tode bewahrt. Aber die Beulen in ihren Achseln und Leisten eitern weiter. Einige der Toten werden behutsam und allein beerdigt, andere in Gräben geworfen, die auf Kirchhöfen ausgehoben worden sind. Die Quellen aber fließen weiter, und den Fluss zieht es weiterhin zum Meer.
Dann kommen die 1530er-Jahre. Heinrich VIII. hat mit Rom gebrochen und sich vom Papst abgewandt. Die Reformation ist in vollem Gange, doch werden nicht nur Altäre geplündert und Lettner zerstört. Eine reinigende Wut ergießt sich auch über das lebende Land, darauf versessen, den Menschen die verabscheuungswürdigste Sünde, den Götzendienst, auszutreiben.3 Ortsgarden ziehen umher. Dem fließenden Wasser - mit seiner Macht, zu heilen, zu segnen und zu handeln - wird besonders heftig nachgestellt. Heilige Brunnen werden zugeschüttet und versiegelt. Eine Kapelle, die tief im Westen an der Quelle eines Heiligen errichtet wurde, wird zerstört, und die Angreifer schwören, keinen Stein auf dem anderen zu lassen. Einige, die weiterhin zu den Quellen und Flüssen pilgern, werden verhaftet und vor Gericht gestellt. Dennoch kommen die Menschen, manches Mal im Schutz der Dunkelheit, und hinterlassen weiter Opfergaben. Für viele bestätigt die Unterdrückung der Quellen durch die Obrigkeit nur die numinose Kraft des Wassers, das wie von Zauberhand aus der Erde sprudelt - wie schon seit Jahrtausenden.
Fast dreihundert Jahre später badet ein überwältigend schöner junger Dichter mit lahmem Bein, der sich in seinem Zimmer an der Universität angeblich einen Bären hält, nackt in einem grünen Gumpen nahe der Quellen. Später beschreibt er in einem Gedicht einen Albtraum, in dem die Sonne ausgelöscht wurde und die eiskalte Erde blind und schwarz durchs All trudelte, und Flüsse, Seen und Meer standen still, und in...
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