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Der 4. Oktober 1862 war ein windstiller Tag, die Temperatur lag um die 16 Grad. Um halb zwei in der Nacht wurde Johanna Gezina Bonger in der Amsterdamer Egelantiersgracht 504 geboren. In einer Anzeige im nrc hieß es, dass Hermine Louise Weissman und Hendrik Christiaan Bonger jun. »durch Gottes Güte« ein gesundes Mädchen bekommen hätten. Zwei Tage später zeigte ihr Vater (zu dem Zeitpunkt Kommissionär und 34 Jahre alt) beim Standesamt die Geburt seiner Tochter an. In der Familie sollte sie »Jo« bzw. »Net« gerufen werden. Sie wurde nach ihrer Tante, der Junggesellin Johanna Gezina Weissman, der Schwester ihrer Mutter, benannt. Ihren zweiten Namen Gezina fand Jo selbst äußerst hässlich und ließ ihn daher auch immer weg.1 Pfarrer Willem Moll, Professor für Kirchengeschichte, taufte sie am 2. November in der Nieuwe Kerk.
Ein Notizbuch vermerkt, dass sie die üblichen Kinderkrankheiten hatte, unter anderem Windpocken, Keuchhusten und Masern.2 Ein Jahr nach ihrer Geburt, am 24. September 1863 ? ihrer Mutter zufolge war Jo zu dem Zeitpunkt »ein engelhaftes Würmchen« ? ließen Hendrik und Hermine Bonger sich mit ihrer Familie in Zeist auf dem Zusterplein nieder.3 Hendrik war einer von drei Direktoren der Algemeene Brandwaarborg- & Verzekeringsmaatschappij Ultrajectum. Er war »Liquidator« und kümmerte sich um die Abwicklung bei Unternehmensaufgaben. Doch Ultrajectum ging es nicht gut, denn im Jahr 1865 beschloss man auch die Liquidation des eigenen Unternehmens.4
1. Hermine Bonger-Weissman mit ihren Töchtern: Jo (neben ihr), Lien und Mien, ca.1869.
Anschließend kehrte die Familie nach Amsterdam zurück.5 Hendrik war 37 Jahre alt, Hermine 34. Die beiden hatten inzwischen sechs Kinder und fanden eine Bleibe in der Keizersgracht 320.6 (Abb. F2) Vater Bonger wurde nun Redakteur und Herausgeber bei der Zee-post, einer täglich erscheinenden Zeitung mit internationalen Schiffsmeldungen.7 Im Jahr 1866 zogen sie um in die Weteringschans 159a. Dort, damals noch am Stadtrand, wohnten sie zwölf Jahre und zogen dann ein paar Türen weiter in die Nummer 121, ein Haus, das dem Weteringplantsoen gegenüberlag. Ab 1895 lautete ihre Adresse Weteringschans 89, die sich auf der Höhe des 1885 eröffneten Rijksmuseums befand.8
Für ein Kinderporträt hat der Fotograf Jo auf einen Tisch gesetzt. Sie stellt die Füße auf den Stuhl und hält ein Bilderbuch in der Hand (Abb. F3). Während derselben Sitzung in der Spiegelstraat ließ sich auch Hermine mit ihren drei Töchtern ablichten. Jo hielt dabei ihren Kopf ein wenig schräg (Abb. 1). Nicht alle Familienmitglieder sollten verewigt werden, denn bereits in jungen Jahren wurde Jo mit dem Tod konfrontiert: Vor ihrem siebten Lebensjahr hatte sie bereits drei Brüder verloren.
2. Jo Bonger, ca. 1876.
Von ihrer Grundschulzeit verbrachte sie ein Jahr auf der Tesselschadeschool in der Plantage Muidergracht, einer Openbare Burgerschool für Schüler von sechs bis 13 Jahren. Christina Louisa Theunissen leitete dort die zweite Klasse. »Nie bin ich so verdorben worden wie da«, so Jo im Rückblick auf diese Zeit.9 Außerdem besuchte sie die »Französische Schule«, eine allgemeinbildende Schule zum Zweck einer breiten Bildung einschließlich der französischen Sprache. Ihr ältester Bruder Henri notierte in einem Kalender mit Geburtstagen den Namen Eugenie Petit, zu der Jos Sohn später anmerkte: »Die Töchter H.C. Bongers jun. waren auf der >Französischen Schule< von Fräulein Petit.« Eugenie Charlotte Petit schrieb das Gedicht »Op de reize door dit leven« (Auf der Reise durch dieses Leben) in Jos Poesiealbum. Jo war damals 14 Jahre alt und sollte bald darauf zur Hogere Burgerschool, einer Höheren Schule, wechseln. Diese französischen Mädchenschulen hatten das Ideal einer verheirateten Frau und Mutter zum Ziel. Doch für manche Schülerin waren sie das Sprungbrett in den Lehrerberuf.10 Das galt auch für Jo, die in der Schule gut mitkam. Aus dieser Zeit ist ein Porträtfoto erhalten geblieben, das sie mit einem perfekten Mittelscheitel zeigt.11 (Abb. 2)
Das Poesiealbum hatte sie 1876 begonnen. Ihre Eltern schrieben ihr als Erste einen Eintrag.12 Der Vater zitierte ein paar Zeilen von Lord Byron: »Ja, Liebe ist ein Himmelsstrahl / Des ew'gen Lichts, von Gott verliehn, / Ein Funken, um vom Erdenthal / Den niedern Sinn emporzuziehn« mit der dazugehörigen Botschaft: »Lass Dich von der darin ausgedrückten Wahrheit tief durchdringen, dann wirst du den behaglichen inneren Frieden kennenlernen, der für den Menschen ein nicht hoch genug zu bewertender Schatz ist.«13 Die Mutter kopierte das Gedicht »Jonge roeping« (Frühe Berufung) des damals populären Dichters P.A. de Génestet, das von frischer Lebenslust handelt, die einem Herzen entspringt, das »in Gott ruht«.14 Beide Eltern verweisen in ihren Beiträgen auf die Kraft himmlischer Unterstützung, die zu innerer Ruhe führen kann. In dieser Lebensphase Jos war anscheinend noch alles in Ordnung, doch später sollte es mit ihrer Gemütsruhe so manches Mal nicht weit her sein.
Im Jahr 1885 charakterisierte Jo ihren Vater folgendermaßen: »Mein lieber Vater ist, was man sehr liberal nennt, aber ein echt frommer, religiöser Mann, der die göttliche Lehre: >Liebe deinen Nächsten wie dich selbst< nicht nur mit den Lippen, sondern mit Taten bekennt.« Und sie sprach von ihrer »lieben, guten Mutter mit ihrem grenzenlosen, kindlichen Vertrauen«.15 Diese Eigenschaften, die ihre Eltern auf die Kinder übertragen hatten, fasste sie einige Jahre später auch für ihren zukünftigen Ehemann Theo van Gogh in Worte:
Pa hat etwas zunehmend Solides in seinem Charakter, etwas, das Ma ganz und gar abgeht. Sie gibt sich einzig ihrem Gefühl hin, und da dies bei ihr besonders fein entwickelt ist, kann sie beruhigt darauf vertrauen, weil es ihr immer das Gute eingibt, dennoch wäre sie dort, wenn sie allein dastehen müsste, so nicht gekommen.
An verschiedenen Familienmitgliedern nage, wie sie andeutete, die »Willensschwäche«, auch an ihr, aber vor allem an ihrem Bruder Andries:
Er will etwas ? doch ihm fehlt die Kraft, die sein Vater hatte ? um es zur Ausführung zu bringen ? und das Sensible, das er von seiner Mutter hat, führt dazu, dass er sich alles viel zu sehr zu Herzen nimmt und unter dem leidet, was ihm fehlt ? und gerade weil ich etwas Ähnliches in mir spüre, habe ich immer so viel Angst, dem nachzugeben. Das hat mich immer dazu getrieben, meinen eigenen Weg zu suchen, von zu Hause wegzugehen, unabhängig zu sein, denn ich spürte, dass, wenn ich nicht die Kraft, die in mir war, benutzte, nicht ein bisschen härter würde ? dann käme nichts von dem nach außen, was in mir war.
Theo reagierte darauf, ergänzte es und entdeckte bei Jo durchaus auch »etwas Moderneres, etwas Revolutionäreres, wenn man so will«.16 Die hier genannten Charaktereigenschaften manifestierten sich später: die Verhärtung, als sie sich gegen allerlei Kunsthändler und Käufer der Werke van Goghs zur Wehr setzen musste, und das Revolutionäre, als Jo sich voller Überzeugung den Sozialisten anschloss.
Ihre jungen Jahre waren paradiesisch. So blickte sie zumindest in ihren Zwanzigern darauf zurück, nachdem sie in London die Foundling Church besucht hatte und dort vom Schicksal der Waisenkinder berührt worden war, die ein »happy home« entbehren mussten. Sie selbst war ungewöhnlich anhänglich. Bis zu ihrem 22. Lebensjahr wurde sie an ihrem Geburtstag immer zuerst von ihrer Mutter geküsst, darauf folgten die herzlichen Umarmungen ihrer Brüder und Schwestern ? ihr Vater war um sieben Uhr bereits zur Arbeit gegangen.17 In der harmonischen Familie hatte Jo eine unbekümmerte Kindheit und Jugend. Später schrieb sie, dass sie als Kind die Sonntage so sehr geliebt habe, weil sie bei ihnen zu Hause so schön und gemütlich gewesen seien.18
In der Zeit, in der Jo aufwuchs, zählte Amsterdam etwa 265.000 Einwohner. Die Gegend um die Weteringschans war noch halbwegs ländlich geprägt, doch ab 1875 änderte sich viel: Die Vondelstraat und die P.C. Hooftstraat wurden angelegt, und das Straßennetz breitete sich rasch aus. Die Stadt bekam einen immer großstädtischeren Charakter. Die industrielle Revolution und der moderne Kapitalismus setzten sich zunehmend durch. Ab Mitte des Jahrhunderts hatte sich als eigene Schicht der Mittelstand herausgebildet. Parallel dazu entwickelten sich Ausbildung, berufliche Qualifizierung und Handelsunternehmen. Im Jahr 1876 wurde der Nordseekanal eröffnet, neun Jahre später das Rijksmuseum an der Stadhouderskade, 1888 das Concertgebouw, kurz darauf der neue Bahnhof Amsterdam-Centraal und 1895 das Stedelijk Museum. Die städtische Verkehrsgesellschaft Amsterdamsche Omnibus Maatschappij nahm den Betrieb einer Pferdestraßenbahnlinie Leidseplein?Plantage auf. Um 1890 prägten rund 9.000 Handkarren und zahlreiche Drehorgeln das Straßenbild. Viel wurde zu Fuß erledigt.19
Jo war ein echtes Stadtkind. Das wurde ihr im März 1892 bewusst,...
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