Vishnus Schlaf zwischen den Welten
Zwischen den großen kosmischen Zyklen, wenn sich ein Universum aufgelöst hat und ein anderes noch entstehen muss, herrscht ein Zustand göttlicher Schwebe - weder Sein noch Nichtsein, weder Schöpfung noch Zerstörung. In diesem Zwischenraum zwischen den Welten verfällt Gott Vishnu in Yoga Nidra, den Schlaf, der kein Schlaf ist, sondern die tiefste Form kosmischer Meditation. Während dieser göttliche Schlummer in bekannten Schöpfungsmythen kurz erwähnt wird, bleiben die volle Natur und Bedeutung dessen, was sich während dieser Zeitspanne ereignet, in populären Berichten weitgehend unerklärt. Doch in bestimmten esoterischen Traditionen hat sich ein detaillierteres Verständnis dieses geheimnisvollen Zustands erhalten - eine Erzählung, die tiefe Einsichten über Bewusstsein, Realität und die Natur göttlichen Spiels offenbart.
Die Geschichte beginnt am Ende - dem Ende eines Kalpa, eines kosmischen Tages im Leben Brahmas, der 4,32 Milliarden Menschenjahre umfasst. Mit dem Ende dieser immensen Zeitspanne beginnt der Prozess der Pralaya (Auflösung). Das manifeste Universum zieht sich allmählich zurück, wie eine Schildkröte ihre Gliedmaßen in ihren Panzer zurückzieht. Zuerst löst sich das menschliche Reich auf, dann die Himmelssphären, dann die subtilen Dimensionen der Existenz, bis schließlich selbst die fundamentalen Elemente in ihren unmanifestierten potentiellen Zustand zurückkehren.
Während sich die letzten Spuren differenzierter Existenz auflösen, vollendet Lord Shiva seinen kosmischen Auflösungstanz. Die Feuer des Samvartaka, die sogar die Zeit selbst verzehren, erlöschen allmählich. Was bleibt, ist nicht die Leere, wie Menschen sie sich vorstellen, sondern das Urwasser der Potentialität - ein unendlicher Ozean unmanifester Bewusstseinssubstanz, den die Texte Ekarnava, den "einzigen Ozean", nennen.
Auf diesen kausalen Wassern nimmt Vishnu, der Bewahrer der Göttlichkeit, eine Gestalt an, die zugleich Sein und Jenseits des Seins ist. Er manifestiert sich als Narayana - ein Name, der sich von nara (Wasser) und ayana (Ruhestätte) ableitet - derjenige, der auf den kosmischen Wassern ruht. Seine Gestalt in diesem Zustand wird als "dunkler als der dunkelste blaue Lotus, strahlender als tausend Sonnen und doch wohltuend anzusehen" beschrieben. Er ruht auf den Windungen von Ananta-Sesha, der Schlange der Ewigkeit, deren Name "ohne Ende" bedeutet und das unendliche Potenzial symbolisiert, das auch dann noch besteht, wenn sich alle endlichen Formen aufgelöst haben.
Wenn Vishnu in Yoga Nidra versinkt, verliert er nicht das Bewusstsein wie im normalen Schlaf. Vielmehr erreicht er einen Zustand höchster Bewusstheit, der die Grenzen aktiver Wahrnehmung übersteigt. Dies ist nicht die Abwesenheit von Bewusstsein, sondern dessen Fülle - ein Zustand, in dem der Wissende, das Gewusste und der Erkenntnisprozess zu einer undifferenzierten Ganzheit verschmelzen.
Was während dieses göttlichen Schlafs geschieht, ist der Punkt, an dem die verborgene Geschichte von der allgemein überlieferten Mythologie abzuweichen beginnt. Esoterischen Vaishnava-Traditionen zufolge wirkt Vishnus Bewusstsein während Yoga Nidra gleichzeitig auf mehreren Ebenen, von denen jede ihre eigene Bedeutung für das Verständnis der Natur der Existenz hat.
Auf der grundlegendsten Ebene enthält Vishnus Bewusstsein die subtilen Eindrücke (Samskaras) des aufgelösten Universums - nicht als Erinnerung im menschlichen Sinne, sondern als potenzielle Muster, die die nächste Schöpfung prägen. Wie Samen, die den Winter überstehen, tragen diese Eindrücke das essentielle Dharma (kosmische Ordnung) in sich, das unter den richtigen Bedingungen wieder aufblühen wird. Diese Bewahrung kosmischer Muster gewährleistet die Kontinuität zwischen den Zyklen und ermöglicht gleichzeitig Evolution und Variation.
Doch Vishnus Yoga Nidra umfasst weit mehr als passive Bewahrung. In diesem Zustand findet ein tiefgreifender Prozess kosmischer Überprüfung und Verfeinerung statt. Der Herr untersucht die Muster der vergangenen Schöpfung - die Gesetze, die sie beherrschten, die Formen, die sich in ihr entwickelten, das Gleichgewicht zwischen Ordnung und Chaos, Wachstum und Verfall, Freude und Leid. Mit unendlichem Mitgefühl und Weisheit denkt er über Anpassungen dieser Muster nach und sucht in der kommenden Schöpfung nach immer vollkommeneren Ausdrucksformen göttlicher Möglichkeiten.
Dieser Prozess wird in den verborgenen Texten als "das göttliche Spiel der kosmischen Architektur" beschrieben - ein höchst kreativer Akt, der in vollkommener Stille stattfindet. Ohne sich zu bewegen, entwirft Vishnu. Ohne zu sprechen, formuliert er. Ohne zu handeln, schafft er den Entwurf für einen neuen Ausdruck der Existenz.
Noch tiefer in diesem Bewusstseinszustand liegt das, was die Texte "den Traum im Traum" nennen - eine Ebene von Vishnus Yoga Nidra, die ganze Universen der Erfahrung umfasst. Denn während sich der manifeste Kosmos aufgelöst hat, bleibt die göttliche Vorstellungskraft grenzenlos. In seiner Meditation träumt Vishnu unzählige mögliche Universen ins Leben - er testet Variationen, erkundet Alternativen und erfährt die Konsequenzen unterschiedlicher kosmischer Konfigurationen.
Diese Traumuniversen sind keine bloßen Fantasien, sondern voll verwirklichte Möglichkeiten, in ihrem eigenen Kontext so real wie unser Universum für uns. Manche dauern Milliarden von Jahren, andere nur Augenblicke kosmischer Zeit. Manche funktionieren nach völlig anderen physikalischen Gesetzen als unsere, während andere sich nur in subtilen Aspekten ihrer Entfaltung unterscheiden. In manchen Traumuniversen entwickelt sich das Bewusstsein auf völlig anderen Wegen, was zu Wesen führt, die wir in unserer Welt nicht kennen.
Das Bemerkenswerteste ist, dass Vishnu dieser esoterischen Lehre zufolge jedes dieser Traumuniversen von innen heraus erlebt - nicht nur als ihr Schöpfer, sondern als Teilnehmer an ihrer Entfaltung. Er nimmt die der jeweiligen Realität entsprechende Form an und erlebt die gesamte Bandbreite der Möglichkeiten, die dieser jeweiligen Existenzkonfiguration innewohnen. In einem Traumuniversum könnte er das Leben als etwas Ähnliches wie eine Quantenwellenfunktion erleben; in einem anderen als ein Wesen rein musikalischer Resonanz; in einem weiteren als etwas, das dem menschlichen Verständnis so fremd ist, dass es durch keine Analogie erfasst werden kann.
Dieser Aspekt des göttlichen Schlafes offenbart eine tiefe Wahrheit: Das Avatar-Prinzip - der göttliche Abstieg in die Form - ist nicht auf die uns bekannten Inkarnationen beschränkt, sondern ein ewiger Aspekt der göttlichen Natur. Der Impuls zu erfahren, von innen heraus zu wissen, teilzunehmen statt nur zu beobachten, existiert sogar in der Zeit zwischen manifesten Schöpfungen.
Auf der tiefsten Ebene des Yoga Nidra liegt das, was die verborgenen Texte als "den Ruhepunkt" bezeichnen - einen Zustand jenseits der Traumuniversen, jenseits der kosmischen Betrachtung, jenseits der Bewahrung von Mustern. Dies ist Turiya-atita, der Zustand jenseits des vierten Bewusstseinszustands (der selbst jenseits von Wachen, Träumen und traumlosem Schlaf liegt). Hier erfährt Vishnu seine eigene Wesensnatur als Brahman - die absolute Realität jenseits aller Eigenschaften, jenseits aller Unterscheidungen, sogar jenseits der Unterscheidung zwischen Existenz und Nichtexistenz.
In diesem Kernzustand löst sich die Trennung zwischen Vishnu, Shiva und Brahma auf. Die Dreifaltigkeit verschmilzt mit dem einzigen Prinzip, aus dem sie hervorgingen und in das sie zurückkehren. Dies ist nicht der Verlust der göttlichen Persönlichkeit, sondern ihre Erfüllung - die Erkenntnis, dass Differenzierung und Einheit selbst zwei Aspekte einer Realität sind, die beide transzendiert.
Was diese Erzählung besonders bedeutsam macht, ist, dass sie Yoga Nidra nicht als einen Zustand passiven Wartens zwischen aktiven Schöpfungsphasen darstellt. Vielmehr offenbart sie dieses Intervall als den vielleicht tiefgründigsten Aspekt göttlicher Aktivität - das Laboratorium kosmischer Möglichkeiten, den Schoß der Universen, die Quelle, aus der alle Manifestationen verfeinert und erneuert hervorgehen.
Eine noch außergewöhnliche Wendung nimmt die Erzählung, wenn sie beschreibt, wie dieser kosmische Schlaf mit dem individuellen Bewusstsein von Wesen wie dem Menschen zusammenhängt. Der verborgenen Lehre zufolge nimmt ein Wesen jedes Mal, wenn es in Tiefschlaf fällt, an einer mikrokosmischen Version von Vishnus Yoga Nidra teil. Der traumlose Schlaf, den Menschen als bloße Bewusstlosigkeit erleben, ist in Wirklichkeit eine vorübergehende Angleichung an den kosmischen Schlaf Vishnus - eine Rückkehr zur Quelle, aus der das individuelle Bewusstsein hervorgeht.
Die meisten Lebewesen erleben diese Ausrichtung unbewusst, indem sie in den Tiefschlaf eintreten und wieder aufwachen, ohne sich ihrer tiefen Natur bewusst zu sein. Doch die Texte sprechen von fortgeschrittenen Yogis, die durch spezielle Übungen bewusst in den Schlaf eintreten und dadurch Aspekte von Vishnus kosmischer Meditation erreichen können. Diese seltenen Wesen können die Prozesse der kosmischen Rückschau miterleben, alternative Möglichkeitsuniversen erleben und sich sogar dem "Punkt der Stille" nähern, an dem individuelles und universelles Bewusstsein ununterscheidbar werden.
Diese Lehre bildet die Grundlage für bestimmte fortgeschrittene Yoga-Praktiken, die in den tantrischen Vaishnava-Linien erhalten geblieben sind - Techniken für bewussten Schlaf, die Millionen von Jahren spiritueller Evolution in ein einziges Leben komprimieren sollen. Diese Praktiken werden traditionell nur an...