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»exterminating all the niggers«
Am 22. Juni 1897, demselben Jahr, in dem in Deutschland der Begriff »Lebensraum« geboren wurde, erreichte die britische Expansionspolitik ihren Höhepunkt.11 Das größte Imperium der Weltgeschichte feierte sich selbst in einem unvergleichlichen Überschwang.
Die Repräsentanten aller von den Briten unterdrückten Völker und Territorien - beinahe ein Viertel der Welt und ihrer Einwohner - versammelten sich in London, um Königin Victoria zum sechzigsten Jahrestag ihrer Thronbesteigung zu gratulieren.12
Zu jener Zeit existierte eine Zeitschrift mit dem Namen Cosmopolis, die sich mit unübersetzten Beiträgen auf Deutsch, Französisch und Englisch an Gebildete in ganz Europa richtete.
Vor diesem qualifizierten europäischen Publikum wurde Victoria mit Darius, Alexander dem Großen und Augustus verglichen. Keiner dieser antiken Kaiser konnte eine Gebietserweiterung vorweisen, die mit jener unter Victorias Herrschaft vergleichbar gewesen wäre.
Ihr Imperium war um dreieinhalb Millionen Quadratmeilen und einhundertfünfzig Millionen Untergebene gewachsen. Es hatte China, das bis dahin mit vierhundert Millionen Einwohnern als das bevölkerungsreichste Imperium auf Erden galt, einge- und überholt.
Die übrigen Großmächte Europas, so wurde argumentiert, hätten die militärische Stärke des britischen Imperiums vielleicht nicht klar genug erkannt. In den Briten würden mehr Kampfgeist und soldatische Disziplin als in irgendeinem anderen Volk stecken. Was die Flotte angehe, so sei hier das Imperium nicht nur überlegen, nein, es habe die absolute Herrschaft über die Meere.
Die Briten wurden nach all ihren Erfolgen nicht überheblich, sondern blieben demütig der Überzeugung, dass diese - in der Geschichte vielleicht einmaligen - Erfolge Gottes außerordentlicher Gnade geschuldet waren.
Sowie, selbstverständlich, der Person der Königin. Mag sein, dass die moralische Kraft ihres Charakters nicht mit wissenschaftlicher Präzision gemessen werden konnte, aber es stand außer Zweifel, dass ihr Einfluss enorm war.
»Die heutige Zeremonie«, schrieb ein Auslandskorrespondent, »bedeutet einen größeren Triumph als alle jemals zuvor gefeierten: Mehr nationale Vitalität, mehr Handel, mehr Urbarmachung von Land, mehr Unterdrückung von Bestialität, mehr Friede, mehr Freiheit. Dies ist nicht Überschwänglichkeit, es ist simple Statistik.«
»Die Nation betrachtete bewusst und entschlossen ihre kolossale Macht, ihren kolonialen Fortschritt, ihre lebendige Einigkeit, ihr weltumspannendes Territorium und jubelte darob.«
»Die Hurrarufe bedeuteten: Wir waren nie stärker. Lasset die ganze Welt erkennen, dass wir in der Zukunft nicht schwächer zu werden gedenken!«
So klang es 1897. Die deutschen und französischen Beiträge stimmten in die Jubelchöre mit ein. Alle blickten in dieselbe Richtung. Deshalb war die Erzählung, die diese Jubiläumsausgabe einleitete, von solch beispielloser Schockwirkung.
Die Hauptfiguren sind zwei Europäer, Kayerts und Carlier, die von einem zynischen Direktor einer Handelsgesellschaft an einer kleinen Handelsstation am großen Fluss abgeladen werden.
Ihre Lektüre besteht aus einer vergilbten Zeitung, die in schwülstigen Worten »Unsere koloniale Expansion« preist. So wie in der Jubiläumsausgabe von Cosmopolis, werden die Kolonien hier wie eine heilige Tat im Dienste der Zivilisation dargestellt. Der Artikel lobpreist jene Eigenschaften der Pioniere, die Licht, Glauben und Handel an »die finsteren Orte« der Welt bringen.
Zuerst glauben die beiden Kompagnons diese großen Worte. Aber nach und nach merken sie, dass Worte nur Laute sind, »sounds«. Außerhalb der Gesellschaft, die sie geschaffen hat, fehlt den Lauten jegliche Substanz. Nur solange ein Polizist an der Straßenecke steht, solange es in den Geschäften Essen zu kaufen gibt, solange die öffentliche Meinung dich im Blick hat - nur so lange sind deine Laute gleichbedeutend mit Moral. Gewissen hat Gesellschaft als Voraussetzung.
Bald sind sie zu Sklavenhandel und Massenmord bereit. Als der Proviant zur Neige geht, geraten sie über einem Zuckerstück in Streit. Kayerts flieht um sein Leben, im Glauben, sein Kamerad sei mit einer Pistole hinter ihm her. Als sie unversehens aufeinandertreffen, schießt Kayerts, wie er glaubt, in Notwehr - und erkennt erst zu spät, dass er in der Panik einen Unbewaffneten getötet hat.
Aber was macht das schon. Begriffe wie »Tugend« und »Verbrechen« sind ja nur Laute. Jeden Tag sterben Menschen zu Tausenden, denkt Kayerts, wie er da neben dem Leichnam seines Kompagnons sitzt, vielleicht sogar zu Hunderttausenden, wer weiß das schon? Einer mehr oder weniger kann kaum von Bedeutung sein, zumindest nicht für ein denkendes Wesen.
Er, Kayerts, ist ein denkendes Wesen. Bisher hat er wie der Rest der Menschheit eine Menge Unsinn geglaubt. Jetzt denkt er zum allerersten Mal wirklich. Jetzt weiß er. Jetzt zieht er den Schluss aus dem, was er weiß.
Als der Morgen anbricht, zerreißt ein unmenschlicher, vibrierender Schrei den Nebel. Der Dampfer der Handelskompanie, auf den beide Männer seit Monaten gewartet haben, ist zurück!
Der Direktor der »Großen Zivilisierungsgesellschaft« geht an Land und findet Kayerts aufgeknüpft am Grabkreuz seines Vorgängers. Er scheint in Habachtstellung zu hängen, aber noch bis in den Tod zeigt er seinem Direktor die Zunge.
Und nicht nur dem Direktor. Kayerts zeigte seine schwarze, geschwollene Zunge der gesamten Jubiläumsfeierei, die sich in den Zeitungsspalten rund um diese Erzählung abspielte, und all der imperialistischen Ideologie, die dort triumphierte.
Es war ganz natürlich, dass Joseph Conrads Ein Vorposten des Fortschritts bei seiner erstmaligen Publikation in Cosmopolis als ein Kommentar zum Jubiläum gelesen wurde. Doch war die Erzählung bereits ein Jahr zuvor geschrieben worden, während Conrads Hochzeitsreise in der Bretagne im Juli 1896. Sie war eine der ersten Erzählungen Conrads überhaupt.
Das Material hatte er während seines Aufenthalts im Kongo gesammelt. Er war selbst mit einem Dampfschiff des Handelsunternehmens den Fluss hinaufgefahren, hatte die kleinen Handelsstationen gesehen und die Erzählungen der anderen Passagiere gehört. Einer von ihnen hieß Keyaerts.13
Dieses Material hatte Conrad schon seit sechs Jahren. Weshalb aktualisierte er es ausgerechnet jetzt? Die Kongodebatte kam erst 1903, also sechs Jahre später, wirklich in Gang. Was hatte Conrad ausgerechnet im Juli 1896 dazu bewogen, sowohl seine Hochzeitsreise als auch den Roman, den er damals in Arbeit hatte, abzubrechen, um stattdessen eine Erzählung aus dem Kongo zu schreiben?
Ich bin umgezogen, miete nun ein billiges Zimmer im ehemaligen Hotel Badjouda gegenüber vom Eingang zum Markt und esse bei Ben Hachem Moulay im »Restaurant der Freunde«. In der Abenddämmerung sitze ich unter den dünnfädig benadelten Bäumen an der großen Straße, trinke Milchkaffee und beobachte die Menschen, die vorbeigehen.
Vor hundert Jahren war der Markt von In Salah der belebteste Treffpunkt in der Sahara. Sklaven aus dem Süden wurden gegen Saat, Datteln und Industriewaren aus dem Norden getauscht. Die Sklaven mussten nicht einmal festgekettet werden, eine Flucht aus In Salah war gleichbedeutend mit dem sicheren Tod in der Wüste. Die paar, die es trotzdem versuchten, wurden schnell gefunden und bestraft. Man zerquetschte ihre Hoden, schnitt ihnen die Achillessehnen durch und ließ sie einfach zurück.
Auf diesem einst weithin bekannten Markt welkt heute importiertes Gemüse vor sich hin, das schon bei seiner Ankunft traurig aussieht. Planwirtschaftlich produzierte Textilien leuchten giftig in schreienden Farben.
Der Bücherstand hat sich auf klassische Meisterwerke wie Don Quijote und Madame de Staëls Buch Über Deutschland spezialisiert, und zwar jeweils auf den zweiten Teil. Der erste Teil wurde an irgendeine andere Oase geliefert, vermutlich aus verteilungspolitischen Gründen. Ein und derselben Oase sowohl den ersten als auch den zweiten Teil so gefragter Bücher zukommen zu lassen wäre doch sehr ungerecht.
Das einzig wirklich Interessante, was der Markt zu bieten hat, ist versteinertes Holz, Reste von gigantischen Bäumen, die vor Jahrmillionen ausstarben und vom Sand begraben wurden. Die Kieselsäure hat das Holz in Stein verwandelt, der, als der Sand weiterzog, wieder freigelegt wurde und auf dem Markt landete.
Es ist verboten, versteinertes Holz zu sammeln, das größer als eine Faust ist. Aber auch in einer Faust ist reichlich Platz für die grünen Wälder der Sahara. Mein Stück liegt hier auf dem...
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