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»Ein Schriftsteller muss im Gefängnis gewesen sein.« Entstehung und Therapie der Gefängniskrankheit
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Weil ich 1989 in der Nacht des Tian'anmen-Massakers vom 3. auf den 4. Juni[1] ein Langgedicht mit dem Titel Das Massaker schrieb, kam ich für vier Jahre ins Gefängnis, mein Leben war wie von einem Schwertstreich in ein Davor und ein Danach geteilt. Davor war ich ein anerkannter junger Dichter gewesen, der fasziniert das Reich des Spirituellen erkundete und für Politik nichts übrig hatte; danach war ich ein politischer Gefangener, gehörte zum Bodensatz der Gesellschaft[2] und wurde ein Experte für Gefängniserzählungen. Bis heute werde ich, inzwischen seit Jahren im Exil, von vielen westlichen Lesern als »politischer Gefangenenschriftsteller«, ein Schriftsteller wie Alexander Solschenizyn in der ehemaligen Sowjetunion, gesehen.
Im Laufe der Zeit war ich mit mehr als zwanzig zum Tode verurteilten Gefangenen von früh bis spät zusammen gewesen und hatte jedes Mal wieder hilflos dabei zugesehen, wie sie aus der Gefängniszelle gebracht wurden, um erschossen zu werden. - Vor ihrer Exekution war ich jeden Tag noch von diesen »Todgeweihten« erbarmungslos mit Unmengen von Details über ihre Fälle überschüttet worden. - Das war schrecklicher als die Gehirnwäschen durch die Kommunistische Partei, auch wenn ich es eigentlich nicht hören wollte, ich musste zuhören.
Und genau das ist nun schon mein halbes Leben die Quelle meines schriftstellerischen Zeugnisablegens. Deshalb sage ich immer wieder: »Ein Schriftsteller muss im Gefängnis gewesen sein.«
Ich saß während vier Jahren in vier Gefängnissen. Im dritten Jahr sagte ein Aufseher, der gerne las und viel nachdachte, eines Herbsttages zu mir: »Das Gefängnis ist die Kloake der chinesischen Gesellschaft, ist man da erst reingefallen, soll man nicht glauben, je wieder als Mensch sauber rauszukommen.«
Damals saß ich tief in der Hocke wie ein Hund am Boden, Vorderpfoten auf den Knien. Der Aufseher fuhr fort: »Im Knast sitzen bedeutet Scheiße fressen, und hast du sie einmal gefressen, kannst du sie auch ein zweites und ein drittes Mal fressen. Deshalb hatte ich es auch schon mit verdammt vielen Wiederholungstätern zu tun, der verrückteste von allen ist gleich fünfmal hier eingefahren.«
Ich fühlte mich wie der letzte Dreck, nur zu gern hätte ich gesagt: »Friss du doch erstmal diese Scheiße.« Aber als ich aufsah, fiel mir sein Elektroschlagstock ins Auge und ich antwortete stattdessen: »Aber da waren doch sicher keine politischen Gefangenen drunter?«
»Doch, auch. Hier gibt es eine Menge Konterrevolutionäre, die zum zweiten, zum dritten Mal eingefahren sind. Die sind wie süchtig danach, den Staat zu stürzen.«
Ich stand auf.
»Hock dich wieder hin.«
»Nein.«
»Hock dich, das ist ein Befehl.«
»Ich muss mal.«
»In Ordnung, danach hockst du dich aber wieder hin.«
Der Aufseher pfiff munter vor sich hin, während er auf mich wartete. Um dieser Strafe irgendwie zu entkommen, hatte ich mir etwas Schlaues zurechtgelegt: »Scheiße fressen ist eigentlich gar nichts, im alten China haben berühmte Ärzte regelmäßig Diagnosen über Krankheiten gestellt, indem sie Exkremente verkostet haben, das gehörte zu einem bunten Leben der fünf Geschmäcker dazu. In der Frühlings- und Herbstperiode[3] vor über 3000 Jahren waren die Staaten Wu und Yue im Süden miteinander im Krieg und der Führer des unterlegenen Staates Yue, König Gou Jian, wurde gefangen genommen und eingesperrt. Als der Führer des siegreichen Staates Wu, König Fuchai, bettlägrig wurde, aß der herbeigerufene Gou Jian zum Beispiel von seiner Scheiße, legte mit einem Lächeln die Hände vor der Brust zusammen, um sich respektvoll zu verbeugen, und sagte: >Die Krankheit wird bald vorüber sein, großer König, meine Glückwünsche.<«
Ich erinnere mich noch, wie der Aufseher seine Mausaugen taubeneigroß aufriss und erst nach einer halben Ewigkeit antwortete: »Und du bist Gou Jian, was? 099, krank bist du, sonst nichts.«
Erst viel später wurde mir klar, dass ich wirklich krank war, ich litt an der sogenannten »Gefängniskrankheit«. Jeder Gefangene, egal ob politisch oder nicht, erkrankt über den langen Zeitraum hinweg irgendwann schwer an diesem Leiden. Zumindest solange er nicht alles Gewöhnliche hinter sich lassen kann und zum Weisen wird oder von Gott auserwählt. Weil es so lange keine Gelegenheit zur körperlichen Liebe gibt, sind sexuelle Funktionsstörungen im Gefängnis an der Tagesordnung, und die dadurch hervorgerufene Geilheit, die Lügen und die Gewalt wuchern im fleischlichen Körper, in dem die Hormone verrückt spielen, und wandeln sich allmählich in eine unkontrollierbare Gemütsverfassung extremer Unterdrückung aller Gefühle oder plötzlicher emotionaler Ausbrüche. Und wer kann sehen, dass du krank bist? Merkst du es selbst?
Gleich nach der Entlassung aus dem Gefängnis traf ich meine Ex-Frau nach langer Trennung wieder und hatte noch während der ersten Umarmung einen vorzeitigen Samenerguss. Kurz darauf ließen wir uns scheiden und ich kehrte aus der Metropole Chongqing, aus der Gebirgsstadt Fuling am Jangtse, in das Flachland von Chengdu zurück, wo ich bei meinen betagten Eltern, so eng es dort war, unterkroch. Ich konnte es kaum erwarten, meine Komplizen, die gut zwei Jahre früher entlassen worden waren, anzurufen. Ich war einmal ein Held gewesen, meine Tonkassetten, auf denen ich aus Protest gegen das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens mein Gedicht rezitierte, hatten sich in über 20 Städte verbreitet. Glücklicherweise wurde mein Fall erst neun Monate danach aufgeklärt und ich gefasst, hätten sie mich in flagranti erwischt, wäre es mein Ende gewesen. So war ich gerade noch davongekommen, die Henker allerdings standen weiterhin auf der Bühne und niemand wagte, mich öffentlich zu begrüßen. Aber hätte es nicht wenigstens ein privates Willkommensessen geben können? - Nein, auch das nicht, nicht einmal meine Anrufe wurden entgegengenommen.
Deng Xiaoping[4], der im Hintergrund nach wie vor die Strippen zog, hatte nämlich auf seiner berühmten Reise in Chinas Süden in der Sonderverwaltungszone Shenzhen angemerkt, dass »Armut kein Sozialismus« sei. Daraufhin waren die ehemals vaterlandsliebenden Massen scharenweise zur Profitjagd ausgezogen und ich, an dem die Zeit vorübergegangen war, war herabgesunken zum Hundehaufen auf dem Bürgersteig, dem jeder, kaum dass er ihn sah, ausweichen wollte - das ließ in mir eine unaussprechliche Wut aufsteigen, die nirgendwohin aus konnte, und als ich schon drauf und dran war, aus purer Enttäuschung auf die Wände ringsum einzutrommeln, klingelte das Festnetztelefon zu Hause, ich hob ab und am anderen Ende hieß es ohne Umschweife: »Sie sind raus? Kommen Sie zu mir, jetzt gleich.«
Wie sich herausstellte, war es ein hochangesehener Lehrer aus den literarischen Kreisen der 1980er Jahre. Ein im Ausland wie zu Hause bekannter, bedeutender Vertreter der sogenannten »Rechten« hatte er unter Mao Zedong im Gefängnis gesessen und später das Gedicht Ein Geist wandert auf chinesischer Erde[5] veröffentlicht. Meine Wut war mit einem Schlag dahin, dafür durchströmten mich Gefühle voller Wärme.
Doch dann die Überraschung: Nachdem ich den ganzen Weg bis zum Wohnblock der Chinesischen Vereinigung für Literatur- und Kunstschaffende so gerannt war, dass ich bei meinem Eintreffen erstmal Luft holen musste, saß der geschätzte Lehrer, früher gegen jedermann gleichermaßen liebenswürdig, aufrecht da und regte sich nicht, das Gesicht voller Verachtung. Seine Frau stand an seiner Seite, und als ich mich ihm schließlich mit dem gebührenden Respekt näherte und nach seinem Befinden erkundigte, stellte er mich unvermittelt zur Rede:
»Ich habe gehört, Sie waren im Gefängnis von Chongqing ein Tyrannenboss, haben Neuankömmlinge gezwungen, Ihnen den Schwanz zu lecken .«
»Das, das - wer sagt das?«
»Egal, wer das sagt, ein politischer Gefangener, wie kann der so was tun?«
»Wer hat es gesagt?«
»Ihr Mithäftling Sowieso.«
Ich knirschte vor Wut mit den Zähnen und machte auf der Stelle kehrt nach Hause, wo ich aus einer Küchenschublade ein Springmesser hervorkramte, es einsteckte und diesen Sowieso anrief, der, als er abhob und meine Stimme hörte, sofort auflegte. Obwohl ich ziemlich pleite war, rief ich mir ein Taxi und fuhr direkt zur Wohnung von Sowieso. Als auf mein Klopfen niemand reagierte, hämmerte ich mit der Faust gegen die Tür, doch weiterhin keine Reaktion. Ich ließ mich im Treppenhaus nieder, um zu warten. Nach drei Stunden tauchte der Kopf seiner Mutter auf und ich brüllte: »Ihr Sohn soll kommen!«
»Wozu?«
»Etwas klären.«
Ich schoss hoch, bekam jedoch die alte Dame nicht mehr zu fassen, die sich bereits wieder zurückgezogen hatte. Keinen Augenblick später war eine 110er Polizeistreife da, ich wurde mitgenommen und der Ortspolizei des Bezirks übergeben, in dem meine Eltern wohnten. Auf der dortigen Polizeiwache wurde ich einen Tag und eine Nacht eingesperrt. Als der nächste Abend dämmerte, steckte ich das Messer erneut ein und nahm meinen Rachefeldzug wieder auf. Diesmal brauchte die alte Dame...
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