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Meine eigentümliche Reise mit der Stoa in leichtem Handgepäck gipfelte 1994 mit einem Buch über «Lebensversuche zwischen den Kriegen». Damals fand ich in der heillosen Geschichte der ersten deutschen Republik ein mentales Ordnungsschema, das in unterschiedlichen politischen Strömungen wirksam war, und nannte es «Verhaltenslehren der Kälte». Ich begriff sie als Anweisungen zu stoischem Verhalten und Denken, mit denen man die damaligen Lebensversuche angehen wollte.
Heute springt ins Auge, dass die ungeheuren linken Textmassen der sechziger und siebziger Jahre mit ihren Adaptionen des marxistischen und psychoanalytischen Vokabulars von Wilhelm Reich, Karl Marx, Antonio Gramsci, Karl Korsch, Herbert Marcuse und Max Horkheimer sowie die existenzialistische Verankerung des Terrors bei Sartre und Fanon - dass diese ganze brillant silberne oder getrübt dunkle Diskurssuppe, in der wir damals schwammen, in den «Verhaltenslehren» keinen Platz gefunden hat.[1] Die radikalen Lehren, die jetzt fehlten, waren auf politischen Umsturz gerichtet gewesen. Davon hatte ich mich, als ich das Buch 1989 bis 1993 in einer Plattenbausiedlung zwischen Utrecht und Amsterdam schrieb, abgewendet. War meine Anpassung eine Umsetzung des «Erfahrungshungers» (Michael Rutschky), den die Abstraktionen radikalen Denkens nie hatten stillen können?
Sicherlich war es ein «lagerübergreifender Enttäuschungsdiskurs», wie es damals in der «Frankfurter Rundschau» hieß.[2] Aber welche Erfahrung beginnt nicht mit Enttäuschung? Von den rebellischen Theorien blieb nur die Stimmung eines eher von Hegels Negativität geprägten Freiheitsraums der Kälte übrig. Ich begrenzte ihn auf kleinere Handlungsräume der Gesellschaft. Die Provokation der «Verhaltenslehren» bestand in ihrem Angriff auf den Kult der Betroffenheit der achtziger Jahre, auf den Rückzug in eine «Vulnerabilität», in die sich die Einzelnen einigelten und ihre Verletzbarkeit ausstellten. Mein Vorstoß gegen diese Empfindsamkeit trug durchaus unzeitgemäße Züge, weil ich zu Formen strategischen Verhaltens für Hofleute und Jesuiten im 17. Jahrhundert griff,[3] die von Schopenhauer und Nietzsche im 19. Jahrhundert aufgefrischt worden waren und deren Nutzen ich für die Gegenwart ausloten wollte. Man konnte ihnen Spielregeln der Distanz entnehmen, mit denen selbst auferlegte, erzwungene und verletzende Näheverhältnisse überwunden werden sollten. Es war ein Ratgeber für soziale Spielformen, mit denen sich die Menschen nahekommen konnten, ohne sich zu treffen, mit denen sie sich voneinander entfernen konnten, ohne sich zu verletzen. Wer wollte diese Regeln nicht beherzigen? Ein Taschen-Machiavelli für den Hausgebrauch! Darin zeigte sich das Positive der «Kältelehre» als einer privaten Endmoräne der Stoa.
Die «Verhaltenslehren» standen unter dem Einfluss des «Handorakels», das aus den Schriften des Jesuiten Baltasar Gracián 1647 zusammengestellt worden war.[4] Bei Gracián geht es im Grunde darum, das Leben in eigener Regie zu führen und seine Hoffnungen nicht an Prozesse zu heften, die man nicht verändern kann. In den 1920er Jahren kursierte sein «Handorakel» in intellektuellen Kreisen sowohl des rechten wie des linken Lagers; sicherlich bildete ihre Amoralität den Reizstoff für die Intellektuellen. Dreihundert Maximen bietet das «Handorakel» als Anleitung für stoisches Verhalten an. Darunter die folgenden:[5]
«Sich zu entziehen wissen. Wenn eine große Lebensregel die ist, daß man zu verweigern verstehe, so folgt, daß es eine noch wichtigere ist, daß man sich selbst, sowohl den Geschäften als den Personen, zu verweigern wisse .»
«Nie aus der Fassung geraten. Ein großer Punkt der Klugheit, nie sich zu entrüsten. Es zeigt einen ganzen Mann von großem Herzen an: denn alles Große ist schwer zu bewegen .»
«Nicht abwarten, daß man eine untergehende Sonne sei. Es ist die Regel der Klugen, die Dinge zu verlassen, ehe sie uns verlassen .»
«Nie sich beklagen. Das Klagen schadet stets unserm Ansehn. Es dient leichter, der Leidenschaftlichkeit Anderer ein Beispiel der Verwegenheit an die Hand zu geben, als uns den Trost des Mitleids zu verschaffen .»
«Nichts setzt den Menschen mehr herab, als wenn er sehn läßt, daß er ein Mensch sei (.) Wie der zurückhaltende Mann für mehr als Mensch gehalten wird, so der leichtsinnige für weniger als Mensch .»
Neben Graciáns barocker Lehre distanzierten Verhaltens hat Helmuth Plessners «Grenzen der Gemeinschaft» aus dem Jahre 1924 mein Buch maßgeblich geprägt. Plessner ging von der Erfahrung aus, dass die Existenz des Menschen «nie im Gleichgewicht»[6] ist. Die Gesellschaft der Weimarer Republik war 1924 noch vom eben erst abebbenden Bürgerkrieg und von der Inflation erschüttert. Wie hätten sich die Einzelnen in dieser zerrütteten Phase stabilisieren können? Die politischen Fronten waren verworren, der Einzelne, der den Parteien misstraute, musste aus eigener Kraft einen Ausgleich zwischen Vertrauens- und Misstrauenssphären schaffen. Stark war nach Plessner, wer die «Spielregeln» der Balance (für ihn das einzige Sittengesetz der Gesellschaft) beherrscht.
Plessners Verhaltenslehre der Distanz war von der Sehnsucht diktiert, eine Elite der Gesellschaft in Formen der Höflichkeit und des Taktes, die auch in Sphären der Gewalt gewahrt werden sollten, zu erziehen. Wo sind diese (zuweilen martialischen, mitunter «coolen») Spielregeln stoischen Gleichgewichts heute zu haben? Ist die stoische Gangart im 21. Jahrhundert an ein Ende gekommen oder ganz gescheitert? War sie immer schon eher virtuell, eher in neobarocken Wunschbildern als in den Härten des politischen Konflikts oder gar des Klassenkampfes verankert? Vielleicht hat Peter Sloterdijk 2009 einen Abgesang auf die Versteinerungen stoischer Haltung antiker Herkunft angestimmt, als er schrieb: «Mochten die Stoiker der Antike ihr Leben dem Versuch gewidmet haben, durch stetiges Üben in sich die Statue aufzustellen, die in unsichtbarem Marmor ihr bestes Selbst herausarbeitete - die Modernen finden sich als fertige Trägheitsplastik vor und stellen sich im Identitäten-Park auf, gleich, ob sie den ethnischen Flügel wählen oder das individualistische Freigelände bevorzugen.»[7]
Während sich die «Verhaltenslehren der Kälte» noch an der Moralistik als einer strategischen Konsultation für Hofleute und großbürgerliche Individuen[8] mit ihren Regeln des aktiven Lebens orientierten, brennen mir heute die Abstürze der stoisch anmaßenden Seligkeit, das Leben auch in der Kälte der Entfremdung, der Hitze der sozialen Nachbarschaften, der Angst vor wirtschaftlichem Niedergang und schließlich in den lähmenden Paradoxien der großen Politik «führen» zu können, auf der Haut. Wo bleibt die Möglichkeit, ruhigen Bluts die politischen Lager zu inspizieren, beim «Feind» Kerne von Wahrheit zu entdecken, uns zum Ausgleich zu ermutigen?
Die Überlegungen zu den «stoischen Gangarten» können nicht mit Ratschlägen zur Lebenspraxis der Gelassenheit aufwarten. Sie folgen vielmehr der Beobachtung, dass im diffus bleibenden, in diesem Buch nirgendwo fix definierten Zeichen der Stoa in ihrem antiken Sinne nichts außer der Instruktion übrigbleibt, dass Emotionen den Stoiker nicht aus der Fassung bringen dürfen, dass das Unverfügbare hingenommen werden und wie dem römischen Kaiser Marc Aurel die «seelische Meeresstille» immer ein Ideal sein sollte.[9] Es ist kein glücklicher Zustand, sondern nur, wie Schopenhauer befand, «das gelassene Ertragen der Leiden, die man als unvermeidlich vorhergesehen hat» und die man wie eine Abhärtung gegen Wind und Wetter mit «melancholischer Ruhe» ertragen sollte.[10]
Bei deutschen Stoikern findet man selbst diese Haltung nur als schwaches Zeichen in der Niederlage. Gegen Ende des Zweiten Weltkrieges heißt es pessimistisch bei Gottfried Benn: «<Überwachsen, nicht überwältigen> sagt Laotse, das ist die Stimmung der tiefsten Schicht; oder sein anderer Satz: . Alles meint das Gleiche, reifsein ist alles. Wer stillsteht, auf den kommen die Dinge zu. Die Männer grosser äusserer Erfolge wie die Männer grosser innerer Erfahrung vereinen sich darin, ihren eigenen Willen zu überwachen und das Bereitwerden der Objekte zu empfinden.»[11] So also sah die deutsche Stoa in Zeiten der Niederlage aus - die surreale Komplizenschaft mit dem NS-Staat, die Benn für einige Monate im Jahre 1933/34 pflegte, lag im Dunkel vergangener Geschichte. Die furchtbaren Akteure des letzten Jahrzehnts sowie ihre passiv konservativen Beobachter, die alles zugelassen hatten, bereiten sich darauf vor, als Objekte anonymer Prozesse vorangetrieben oder liegengelassen zu werden. Schuldlos, versteht sich. Jetzt dürfen sie das «Sein» in Seelenruhe «auswirken» lassen. Ein Tiefpunkt der Stoa, wenn man diese Haltung damit noch bezeichnen kann.
Den Titel «Stoische Gangarten» hatte ich schnell gefunden, ohne zu wissen, wohin die Reise gehen würde. Was die «Gangart» betrifft, folgte ich wieder der Attraktion von Bewegungs-Suggestionen, die die Literatur für mich enthält. Zugleich wollte ich an einen Satz aus...
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