Schweitzer Fachinformationen
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Mit 18 erhielt sie eine Erklärung für die Gedächtnislücken und Blackouts, für die Schwere in ihrem Leben, die endlich Licht ins Dunkel brachte: Bonnie hat eine Dissoziative Identitätsstörung, früher auch multiple Persönlichkeitsstörung genannt. Sie weiß seitdem: Sie ist Viele. Viele unterschiedliche Personen leben in ihrem Körper: eine komplexe Reaktion auf schwere Kindheits-Traumata, zugleich ein wichtiger Überlebensmechanismus und eine große Last.
Wie lebt man sein Leben, wenn man sich den Körper und die Lebenszeit mit anderen teilen muss? Was für Probleme und Strategien ergeben sich im Alltag und wie geht man damit um? Die Geschichte der Bonnies zeigt ihre Stärke und Resilienz, beantwortet zahlreiche Fragen zu einer faszinierenden Lebensrealität und informiert fundiert über eine Diagnose, die für viele nur in vagen Umrissen existiert.
Ami:
»Das ist die schlimmste Klinik, die ich kenne!«, knallte ich meinem zuständigen Therapeuten an den Kopf, nachdem ich, ohne zu klopfen, in sein Büro platzte.
»Was meinen Sie? Wir sind eine Trauma-Klinik mit sehr viel Erfahrung.« Mit einer Geste bat er mich auf den Stuhl, der seinem Schreibtisch gegenüberstand.
Ich schüttelte den Kopf. »Können Sie vergessen. Ich entlasse mich jetzt. Sie helfen mir nicht.«
»Aber Frau Leben, wir sind doch auf einem guten Weg. Wir können nun endlich am Ursprung ansetzen.«
Ich war verwirrt und mindestens genauso wütend. Woher sollte er denn wissen, wo der Ursprung meiner Probleme war, wenn er mir nicht zuhörte? Ich kannte ihn doch selbst nicht.
»Seit anderthalb Monaten bin ich nun hier und ich hatte noch kein einziges Gespräch mit Ihnen. Wollen Sie warten, bis meine Probleme sich in Luft auflösen?«
Für einen kurzen Moment schien mein Therapeut verwirrter als ich selbst.
Dann atmete er tief ein: »Wir haben uns jeden zweiten Tag gesehen. Sechs Wochen lang. Können Sie sich an nichts davon erinnern?«
Da ich kein Wort mehr herausbekam, schüttelte ich nur den Kopf. Das konnte nur ein schlechter Witz sein.
»Kein Problem. Ich kann Ihnen erklären, warum nicht.«
In den darauffolgenden 60 Minuten erklärte er mir, ich sei multipel und würde mir meinen Körper und meine Lebenszeit mit anderen Personen teilen. Das würde auch bedeuten, dass ich seit meiner frühen Kindheit regelmäßig Traumata erlebt haben müsste. Nur so würde die Psyche gar nicht erst zusammenwachsen und stattdessen verschiedene Persönlichkeiten entstehen lassen, die sich das Erlebte aufteilten. An die Zeit, in der eine andere Person am Steuer war, könne ich mich einfach nicht mehr erinnern. Das sei normal.
Normal? Nichts war mehr normal, wenn einem sein Gegenüber erzählte, man habe sein Leben nicht für sich allein. Nichts war mehr normal, wenn ein Mensch meine perfekte Kindheit hinterfragte und ich ungewollt spürte, dass er damit etwas in mir angestoßen hatte.
Er war nicht der Erste, der dieses große böse Wort aussprach: Dissoziative Identitätsstörung, abgekürzt DIS, was die Sache nicht besser machte. Auch meine langjährige ambulante Therapeutin hatte es in den letzten Monaten immer wieder anklingen lassen. Immer wieder ohne Erfolg. Auch wenn es viele kuriose Situationen erklären würde, warf es gleichzeitig noch mehr neue Fragen auf, die keinen Sinn ergaben. Warum sollte mir das all die Jahre lang nie aufgefallen sein? Warum war ich dann so problemlos lebensfähig? Wie sollte ich gute Noten in der Schule erzielt haben, wenn mein Leben hauptsächlich aus Erinnerungslücken bestand?
Das musste einer dieser Psychologen-Tests sein. Ein Trick. Ich suchte den Raum nach versteckten Kameras ab. Da ich keine fand, musste ich mich wohl selbst verstecken. Ohne ein Wort stand ich auf und verzog mich auf mein Zimmer. Warum aber fühlte sich ein Teil von mir ertappt? Warum verunsicherte mich das so sehr? Wer war ich?
Die Erklärung meines Therapeuten änderte nichts daran, dass ich mich noch in derselben Nacht selbst aus der Klinik entließ. Dass in meinem Kopf mehr war, als ich gedacht hatte, konnte ich irgendwie noch akzeptieren. Die Diagnose DIS vielleicht auch - selbst, wenn ich persönlich nicht daran glaubte. Aber Traumata? In meinem Leben? Nein. Meine Vergangenheit war perfekt gewesen. Das wusste ich. Wenn etwas so Schlimmes passiert wäre, hätte ich das doch nicht ohne Weiteres vergessen können.
Ich war in diese Klinik gekommen, um die Trauma-Diagnose, auf die meine ambulante Therapeutin immer wieder angespielt hatte, ausschließen zu lassen. Nicht, um mit etwas Großem schwarz auf weiß wieder herauszugehen.
Deshalb wollte ich am liebsten gar nicht mehr zurück ins Leben. Ich wollte mich verkriechen, damit niemand mehr in mir forschen konnte, was ich nicht erforschen wollte. Doch mit diesem Etikett, das man mir in der Klinik aufgedrückt hatte, war dortbleiben auch keine Option.
46:
Die Zeit der Diagnosestellung haben die meisten von uns nur bruchstückhaft in Erinnerung. In der Regel kann sich eine Person nur an das erinnern, was während der Zeit passiert ist, in der sie selbst vorne - also »am Steuer« - war. In dieser Zeit hat sie die Kontrolle über den Körper und sein Handeln. Nur manche der anderen können dabei dann von innen heraus zuschauen oder eingreifen. Ich bin eine davon.
Um unser Erleben zu verbildlichen, nutze ich gerne eine Autofahrt als Vergleich: Unser Körper ist wie ein Auto, in dem mehrere Personen sitzen. Eine davon befindet sich am Steuer und kann lenken, in welche Richtung sich das Fahrzeug und somit auch alle anderen Personen begeben. Trotzdem ist sie nicht die Einzige, die zur Frontscheibe hinausschauen kann. Manchmal sitzt jemand auf dem Beifahrersitz, der ebenfalls in der Lage ist, einen Blick nach draußen zu werfen. Manchmal kommt es auch dazu, dass diese Person versucht, ins Lenkrad zu greifen, und kurzzeitig die Fahrtrichtung beeinflusst. Auf der Rückbank sitzen oft Personen, die nur durch verdunkelte Scheiben schauen können, aber hören, was passiert. Ihnen ist es möglich, ansatzweise zu erahnen, an welchem Ort sich das Auto gerade befindet. Vielleicht agiert eine davon auch als Navigationsgerät und gibt Anweisungen, welche Ausfahrten die fahrende Person nehmen soll. Im Kofferraum sitzen die meisten Personen. Sie hören nichts und sie sehen nichts. Sie sind vom äußeren Geschehen vollkommen abgeschottet. Manche davon können sich miteinander unterhalten. Andere hingegen merken gar nicht, dass sie dort nicht allein sind.
Es gibt Personen, die fest zugewiesene Sitzplätze haben. So sitze ich beispielsweise nie im Kofferraum, da ich eine Kontrollfunktion habe und dafür das grobe Geschehen im Blick haben muss. Gleichzeitig saß ich bis vor einer Weile fast nie selbst am Steuer. Denn das würde Zeit im Körper bedeuten und die hatte ich nicht, wenn ich unsere ungewollt gemeinsame Reise koordinieren musste.
Andere Personen werden ans Steuer geworfen, sobald es dunkel wird. In einer traumatischen Situation sitzen die am Steuer, die in den sonnigen Momenten im Kofferraum eingesperrt waren und umgekehrt. Es gibt also Personen, die nur die Dunkelheit kennen, und andere, die nie davon gehört haben. Nur durch diese Trennung können letztere tagsüber fröhlich und funktionsfähig durch das Leben flitzen, während andere das Leben nie kennenlernen durften.
Eine Person allein könnte das Auto nicht über lange Zeiträume steuern, da die Wege von Anfang an immer wieder durch Täler der Gewalt führten.
Der Arztbrief aus der Klinik sollte nie bei meiner Therapeutin ankommen. Er war spurlos verschwunden und ich war nicht böse darüber. War das der Beweis dafür, dass die Diagnose stimmte? Oder der Beweis dafür, dass ich mir alles nur eingebildet hatte und nie eine Diagnose ausgesprochen wurde?
Vielleicht war es meine Aufgabe, zu beweisen, dass ich nicht traumatisiert sein konnte. Vielleicht musste ich noch mehr für die Schule lernen. Vielleicht musste ich noch mehr Freundschaften pflegen. Vielleicht musste ich noch ein drittes Instrument beherrschen. Vielleicht musste ich mein Leben noch mehr optimieren, um zu beweisen, dass es nie anders als ideal gewesen sein konnte.
Nur wem? Anderen oder nicht doch mir selbst?
Nach dem Abbruch des Klinikaufenthaltes meldete ich mich mehrere Wochen nicht bei meiner ambulanten Therapeutin. »Es ist alles gut«, murmelte ich wie ein Mantra vor mich hin, während ich mich wie besessen in Aufgaben stürzte. Ich trat die Flucht nach vorn an. Doch es blieb eine Flucht und ich wusste genau, dass man nicht ewig auf der Flucht sein konnte. Trotzdem rannte ich.
Nur damit ich meiner Therapeutin in der ersten Stunde nach Monaten lächelnd ins Gesicht blicken und sagen konnte: »Mir geht es jetzt richtig gut. Ich habe einen Nebenjob gefunden, ich habe die Zusage für einen Studienplatz, ohne je ein Abitur gemacht zu haben, und zwischendurch habe ich die Welt bereist. Ich glaube, ich brauche keine Therapie mehr.«
In diesem Moment war es, als würde mich jemand von innen heraus auslachen. Aber das waren sicher nur meine Gedanken. Was auch sonst?
»Ich glaube, eine Therapie war noch nie so nötig wie jetzt«, entgegnete sie mir.
Heute weiß ich: Sie hatte niemals so recht wie in diesem Moment.
Die Diagnostik hatte ihren Lauf genommen, bevor wir es überhaupt merkten. Wir waren in Therapie, bevor wir wussten, dass wir Traumata erlebt hatten. Wobei das genau genommen nicht richtig ist. Nur die Personen, die für den Alltag zuständig waren - wir nennen sie »Alltagspersonen« - haben in der Regel keinen Zugang zu Traumata.
Andere kennen nichts anderes als Gewalt. Manche davon wissen schon immer, dass wir viele sind, weil sie im Inneren mit anderen kommunizieren können. Jedoch saß bis zum Zeitpunkt der Diagnosestellung noch niemand von ihnen in der Therapie. Sie war bis dato ausschließlich für Alltagspersonen bestimmt gewesen, die eine innere Anspannung oder seelischen Schmerz spürten, Empfindungen dieser Art aber nicht einordnen konnten. Während diese Alltagspersonen immer frustrierter wurden, weil sich trotz psychologischer Begleitung nichts zu verbessern schien, versuchte unsere Therapeutin, hinter die Fassade zu blicken, um die Wurzel des Problems zu finden. Wir waren wie ein verschlüsseltes Kreuzworträtsel, das die Lösung aber schon in seinem Inneren trug. Sie war...
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