Schweitzer Fachinformationen
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Es beginnt mit dem Papier. Seine Oberfläche ist rau und porös, die Farbe ein schmutziges Beige; der Geruch verortet die Bündel irgendwo im Souterrain der Geschichte. Zahlreiche Risse wandern von den Rändern ins Zentrum, viele Faltstellen sind gebrochen, den Aktendeckeln gelingt es nur mit Mühe, ihr Innenleben zu bändigen. Die Akten haben, das zeigen sie ohne große Umschweife, ihre Zeit gehabt: Sie sind durch Hände gegangen, über Schreibtische gewandert, zwischen Behörden zirkuliert, sie kamen auf Vorlage und Wiedervorlage, wurden angefordert, gelesen, beachtet, umgesetzt, bis ihr normatives Leuchten von den Zeitläuften erst verdunkelt wurde und schließlich ganz erlosch. Ein schroffes «Weglegen» war das Ende. Gemessen an seinen ursprünglichen Zwecken war das Papier jetzt nutzlos geworden; für eine Anstandsfrist blieb es vor Ort, aber irgendwann kam unweigerlich die Übergabe an die amtliche Verwahrstelle für Altpapier: das Archiv. Dort bekam es neue Gebrauchsspuren - Signaturen, Stempel, Aufkleber -, wurde umsortiert - in Büscheln, Schubern, Schriftgutbehältern -, normativ rekonfiguriert - Archivwürdigkeit, Datenschutz, Persönlichkeitsrechte -, bevor der nächste Verwertungskreislauf eröffnet werden konnte. Das Papier beschreibt jetzt die Zeit, in der es einstmals selbst beschrieben wurde, aus den Akten sprudelt die Geschichte. Die Akten komprimieren Zeit, Entstehungszeit, Gebrauchszeit, Erinnerungszeit, Geschichtszeit, ein papiernes Zeitgestrüpp, das sich zwischen heute und gestern schiebt und den Blick zurück leicht in die Irre führt. Es beginnt mit dem Papier. Aber wann?
Am 26. August 1944 leitete das Reichsjustizministerium an die Oberlandesgerichte einige Überlegungen von Joseph Goebbels weiter, die dieser, soeben zum Reichsbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz ernannt, unter dem Titel «Lebensstil im totalen Kriege» zusammengetragen hatte. Das öffentliche Leben, monierte Goebbels, trage «mancherorts noch einen teilweise stark friedensmäßigen Charakter», Theateraufführungen versuchten durch eine «möglichst prunkvolle Inszenierung» zu glänzen, Ausstellungen «durch den bei ihrer Eröffnung gereichten Imbiß». Damit müsse es ein Ende haben. Künftig habe jede Form von Geselligkeit - Empfänge, Amtseinführungen, Festwochen, Musiktage, Familienfeiern - zu unterbleiben, wenn sie nicht unmittelbar den Kriegsanstrengungen gelte; es sei fortan eine Ehre, einen sichtbar enthaltsamen Lebensstil zu pflegen und dem Ausland zu demonstrieren, dass von Deutschland Kompromissbereitschaft nicht zu erwarten sei.[1] Die Erfordernisse des Krieges wurden zur Richtschnur für das gesamte Leben. Mit Folgen auf allen Ebenen: Wenige Tage später gab Reichsjustizminister Otto Thierack bekannt, er werde ab sofort auf «Glückwunschschreiben aller Art» verzichten und «lediglich noch Kondolenzschreiben an Angehörige von Gefallenen unterzeichnen».[2] In der Woche darauf traf es die Toiletten, von denen man sich ebenfalls Ressourcen für den Krieg versprach; erbost musste man feststellen, noch immer würden regelmäßig Zeitspüler tätig, die einen Wasserverbrauch auslösten, «der sachlich nicht gerechtfertigt» sei.[3]
Dann waren die Justizbediensteten selbst dran. Um die Bevölkerung in ihrer Arbeitskraft möglichst wenig zu beeinträchtigen, wurden die Einsatzzeiten bei Gericht im Spätsommer 1944 auf wöchentlich sechzig Stunden erhöht und Sonntagsarbeit eingeführt,[4] was freilich schon mit nahendem Winter wieder rückgängig gemacht werden musste, weil es für einen längeren Betrieb am Tage an Heizmitteln und Strom fehlte.[5] Am 1. November notierten die Buchhalter im Ministerium, dass die Richterschaft nun prozentual mehr Gefallene zu beklagen habe als noch im Ersten Weltkrieg.[6] In Danzig ließ man die Guillotine und den Galgen in Kisten verpacken, um sie angesichts der erwarteten sowjetischen Offensive in Sicherheit zu bringen,[7] und in Stettin erhielten die Justizbehörden Ende 1944 eine Weihnachtskarte mit einem aufmunternden Zitat des Kriegsmetaphysikers Heinrich von Treitschke: «Darin eben liegt die Hoheit des Krieges, daß der kleine Mensch ganz verschwindet vor dem großen Gedanken des Staates; die Aufopferung der Volksgenossen füreinander zeigt sich nirgends so herrlich.»[8]
Staat, Volk, Opfer, Herrlichkeit: Wo solche historischen Zentnerwörter zu vergeben sind, da leistet auch die Justiz gerne ihren Beitrag. Sie war gut gerüstet in den Krieg gezogen. Schon 1937 hatten im Ministerium streng vertraulich die entsprechenden Vorbereitungen begonnen, unter dankbarer Verwendung der reichen Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg.[9] Zu Kriegsbeginn lagen nicht weniger als einunddreißig Gesetze und Verordnungen parat, um die Justiz auf den Kriegsbetrieb umzustellen. Zwei Überlegungen waren dabei maßgeblich. Zum einen sollte die Rechtsverwaltung dem Krieg möglichst nicht in die Quere kommen. Für die Front musste Personal gespart werden, und wer im Einsatz war, erhielt einen umfassenden Rechtsschutz gegen juristische Behelligungen in der Heimat. Zum anderen aber sollte die Zivilbevölkerung auf juristische Dienstleistungen nicht verzichten müssen. Das Recht durfte den Krieg nicht stören, aber umgekehrt durfte auch der Krieg das Recht nicht zu sehr stören. Justus Wilhelm Hedemann, der Grandseigneur der nationalsozialistischen Rechtserneuerung, gab dazu die Parole aus, ein Staat könne sich einen Verzicht auf seine Rechtsordnung «selbst im erbittertsten und großartigsten Kriege» nicht leisten; man wisse aus dem letzten Krieg, dass «das bürgerliche Rechtsleben trotz schwerster Kriegsereignisse unablässig weiterläuft», weshalb die ordentlichen Gerichte «das Palladium der Rechtspflege auf dem Gebiete des bürgerlichen Lebens bleiben» müssten.[10]
Und das blieben sie. Im Februar 1943, nach der Niederlage bei Stalingrad, wurde eine erste große Schließungswelle angekündigt, deren Umsetzung jedoch so viele Bedenken auslöste, dass von den gut 2000 Amtsgerichten am Ende gerade einmal 98 stillgelegt wurden.[11] Kurz darauf erging die Anweisung, alle Rechtsstreitigkeiten zurückzustellen, deren Erledigung «während des Krieges nicht dringlich» sei.[12] Auch diese Maßnahme blieb ohne größere Auswirkungen. Was «kriegsdringlich» bedeute - zumal im Hinblick auf einen Zivilprozess -, wusste niemand. Die Justiz übersetzte «Kriegsdringlichkeit» deshalb mit «Prozessökonomie» und nutzte das Instrument, um die eigene Bedeutung für die Heimatfront herauszustreichen und zugleich das alltägliche Arbeitspensum zu steuern. Aufwendige Verfahren wurden zurückgestellt - betroffen waren 2 bis 4 Prozent aller Eingänge -, der Rest ging weiter wie zuvor.[13]
Freilich war dieser Rest trotzdem mit dem Arbeitsanfall zu Friedenszeiten nicht vergleichbar. Die politischen, wirtschaftlichen und ideologischen Rahmenbedingungen des Krieges hatten die Justizstatistik auf allen Ebenen stark verändert. Die letzten Einberufungen zum Volkssturm schrumpften den Personalbestand von 1939 auf etwa 30 Prozent, von den fast 14.000 Richterstellen waren 1944 nur noch gut 6000 besetzt.[14] Auch die Prozesse wurden immer weniger. Im Strafrecht waren zunächst mehr und mehr Zuständigkeiten an die Sondergerichte gegangen, ein Trend, den man seit 1943 wieder zu entzerren versuchte. Gewöhnliche Kriminalität sollte nach Möglichkeit im Verwaltungswege erledigt oder vor den ordentlichen Gerichten angeklagt werden. Die Strafjustiz war deshalb spürbar zurückgegangen, bekam aber noch immer gut zu tun. Im Zivilrecht dagegen hatte es tiefere Einschnitte gegeben. Vermögensrechtliche Auseinandersetzungen waren um etwa drei Viertel eingebrochen; eine förmliche Explosion von Ehescheidungen und Unterhaltssachen und der kontinuierliche Bestand von Mietstreitigkeiten kompensierten den Rückgang nur zum Teil.
Im Herbst 1944, als Goebbels dem öffentlichen Leben endgültig den friedensmäßigen Anstrich nehmen wollte, erging ein weiterer Schlag gegen die angestammte Gerichtsverfassung. Am 27. September wurde der Rechtsweg im Prinzip abgeschafft. Die Oberlandesgerichte sollten ganz verschwinden, das Reichsgericht nur noch dürftige Restzuständigkeiten verwalten, Frist: sechs Wochen. Aber auch diese radikale Sparmaßnahme blieb auf halbem Wege stecken. Die Frist, die den Gerichten zur eigenen Abwicklung gesetzt wurde, musste mehrfach verlängert werden und wurde schließlich vom Kriegsende...
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