Schweitzer Fachinformationen
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YASUKO LEBT NICHT MEHR. Sie ist einfach gestorben und wir haben es gar nicht gemerkt. Meine Mutter hat irgendwann aufgehört, ihre Familie in Japan anzurufen, erst war sie zu müde, dann wurde sie über die Jahre zu vergesslich dafür. Es kommen auch schon lange keine Pakete mit getrockneten Algen mehr. Yasuko lebt sicher noch, sagte meine Mutter immer, sonst hätte ihr Bruder sich auf jeden Fall bei ihr gemeldet.
Er habe nicht mehr gewusst, was er wählen müsse, um nach Deutschland zu telefonieren, entschuldigt sich Masayuki am Telefon, als ich mich bei ihm melde. Ich höre die Stimme meines Onkels und wundere mich, dass mir der Abstand zu ihm eben noch so unendlich groß erschien, wie es sein kann, dass ich mich ihm jetzt, wo ich mit ihm spreche, nach all den Jahren, auf einen Schlag so nahe fühle. Ich höre die Stimme meines Onkels und komme mir plötzlich armselig vor. Als ob ich ihm böse sein könnte, wo ich es doch seit Jahren nicht schaffe, einen kleinen Brief zu schreiben, ein paar Fotos zu schicken, seine Nummer zu wählen. Wo ich doch wusste, dass meine Großmutter jederzeit sterben konnte.
Meine Mutter kann sich nicht merken, dass sie keine Mutter mehr hat. Was? Sie ist gestorben? Wann? Das habe ich nicht gewusst, sagt sie, die Stirn in Falten, plötzlich hellhörig geworden. Das hast du mir nicht erzählt, Aki. Sie ist friedlich eingeschlafen, sage ich dann und lege ihr die Hand auf den Arm, mit hundertzwei Jahren. Meine Mutter neigt den Kopf, so alt, sagt sie und lächelt vorsichtig. Ihre Mutter habe gar nicht mehr gewusst, dass sie eine Tochter habe, sagt sie, sie hätten sich so selten gesehen in den letzten fünfzig Jahren, dass sie vergessen habe, dass es sie gibt. Aber meine Mutter klingt gar nicht traurig dabei, ihr Gesicht sieht schon wieder aus wie immer.
Seit ich weiß, dass meine Großmutter nicht mehr lebt, suche ich nach dem passenden Gefühl für ihren Tod, wundere mich darüber, dass wir es nicht gespürt haben, meine Mutter und ich. Es ist kompliziert, um jemanden zu trauern, dessen Tod man verpasst hat, um mehr als ein halbes Jahr. Meine Großmutter Yasuko war klein, ihre Füße waren klein, ihre Beine krumm, ihre Statur etwas dicklich. Sie hat immer gern gegessen, obwohl sie, seit ich mich erinnern kann, fast keine Zähne mehr hatte. Besonders gern aß sie Tori Karaage, sie kaute die frittierten Hühnerteilchen mit den Kieferknochen. Sie trug einen wadenlangen, elastischen Wollrock und eine unauffällige Strickjacke, die grauen Haare waren zu einem Dutt zusammengebunden, die Strähnen seitlich mit Klammern hochgesteckt. Ich schaute gern in ihr liebes, altes Gesicht mit den weichen, herabhängenden Wangen. Interessiert und wohlwollend sah meine Großmutter mich an. Sie sagte nicht viel. Den ganzen Tag saß sie in ihrem Zimmer oberhalb der steilen Treppe an ihrem niedrigen Tischchen, eine uralte Lupe vor dem Gesicht, neben ihr auf der Tatami surrte der Plastikventilator. Die Lupe ließ ihr Auge größer aussehen, das andere kniff sie zu. Sie löste Zahlenrätsel in der Zeitung. Nach unten ging sie nur noch, wenn es unbedingt sein musste. Beim Treppensteigen hörte ich sie ächzen und sich gut zureden, yoisho, yoisho, sagte sie bei jeder Stufe. Fernsehen musste sie mit Kopfhörern, weil sie schwerhörig war und meine Tante den Ton nicht im ganzen Haus hören wollte. Sie lachte laut, wenn ihr etwas gefiel. Ich hörte immer nur ihr Lachen und wusste nie, warum sie lachte, ich lachte einfach mit.
Mein Mann Felix sagt, es sei sinnlos meiner Mutter immer wieder und wieder zu sagen, dass ihre Mutter nicht mehr lebe, aber ich schaffe es nicht, sie anzulügen, und mit wem sollte ich über Yasuko sprechen, wenn nicht mit ihr. Als ich meine Mutter frage, ob Yasuko ihre Entscheidung, nach Deutschland zu gehen, verstanden habe, zieht meine Mutter die Augenbrauen hoch und schüttelt den Kopf. Das sind doch alte Geschichten, wie lange soll das her sein, Aki, das weiß ich doch nicht mehr. Es ist so schade, dass meine Mutter sich nicht an Yasukos völlig aus der Form geratene und mehrfach mit Klebstreifen fixierte Brille erinnert. Wie gern würde ich mit ihr gemeinsam über die Situation beim Optiker lachen, als wir Yasuko bei einem unserer Besuche eine neue Brille machen ließen. Der Optiker ließ meine Großmutter durch eine ganze Reihe verschiedener Gläser blicken, fragte jeweils, mit welchem sie besser sehen würde. Vornübergebeugt saß Yasuko auf dem Drehstuhl, blickte angestrengt senkrecht nach unten durch das Gerät und gab sich alle Mühe, sie wusste es nicht. Über die neue Brille freute sie sich am Ende trotzdem.
Am Morgen machte Yasuko uns Frühstück: heißen, schwarzen Tee mit Milch und Zucker, ich saß am Tisch und achtete auf das leise Geräusch, wenn sie die schmalen Papierröhrchen aufriss und den Zucker in die Tassen rutschen ließ, staunte über das japanische Toastbrot, riesige und vor allem besonders dicke Scheiben. Meine Großmutter stellte uns Butter hin, in einer rosafarbenen Plastikdose mit Katzen darauf, das kleine Messerchen darin wanderte mit in den Kühlschrank. Dazu Erdbeermarmelade, kleine Tomaten oder Gurke, ein paar Salatblätter, irgendetwas Frisches. Mit Sojasoße und Mayonnaise. Yasuko sah mir aufmerksam beim Essen zu und wollte gern immer mehr Toastbrot für mich in den kleinen Ofen schieben, aber ich war satt und schüttelte den Kopf. Nur zwei Scheiben, sagte sie ungläubig und zuckte mit den Schultern, als sei mir eben nicht zu helfen, während sie selbst gar nichts aß.
Bei vielen Gerichten, die wir im Restaurant essen oder zu Hause kochen, sogar bei Bratkartoffeln, sagt meine Mutter neuerdings, so etwas kenne sie nicht, in Japan habe es das nicht gegeben. Sie hat ständig etwas noch nie gesehen, gehört oder gegessen. Während ich antworte, Mama, natürlich hast du das schon gegessen, strahlt mein Mann sie an und sagt mit sanfter Stimme, dann probier doch mal Keiko, schmeckt wirklich gut, und sie isst mit Freude eine große Portion. Felix sagt, von ihm aus könne meine Mutter jeden Tag zum Essen kommen, sie störe nie. Wenn ich sie mit dem Auto im nahe gelegenen Wohnstift abhole, folgt ihr Monolog immer dem gleichen Muster. Den ersten Teil der Strecke, eine Sorgenfalte im Gesicht, ist sie mit der Frage beschäftigt, ob sie ihre Wohnung auch abgeschlossen hat, dabei beruhigt sie sich selbst, dass sie das doch immer gewissenhaft tut und, im Fall eines Einbruchs, bei ihr kein Geld zu finden ist. Dann kommentiert sie die langen Reihen parkender Autos, die links und rechts den Randstein säumen, bei uns in Japan, sagt sie kopfschüttelnd, ist für so viele Fahrzeuge kein Platz. Sie bewundert ausgiebig die orange und rot aufleuchtenden Rücklichter der anderen Autos, deren geschwungene moderne Form sie noch nie gesehen hat. Sie zählt Etagen, staunt über die Farben der Häuser, beurteilt Baugerüste, bis wir um die Ecke biegen und sie die dunklen Metallbalkone, die aus unserem Wohnhaus ragen, erkennt. Seit neuestem übernachtet meine Mutter hin und wieder bei uns. Sie will zwar jedes Mal doch lieber nach Hause, aber ich lasse sie einfach nicht gehen, bitte sie darum, mir zu helfen, die Wäsche aufzuhängen, mache ihr das Bett und sie bleibt. Sie zupft ewig an der Wäsche herum, zieht die Kanten gerade, bis alles symmetrisch und optimal platzsparend auf dem Wäscheständer hängt. Wenn meine Mutter im Sofakissen ein kleines Loch entdeckt, bringe ich ihr Nadel und Faden, Aki, kannst du mir mal helfen, fragt sie mich, und ich fädle für sie den Faden durchs Nadelöhr. Meine Mutter sitzt lange und zufrieden mit ihrer Handarbeit in unserem Schaukelstuhl, um mir am Ende ein äußerst seltsam oder unfertig repariertes Teil zurückzugeben. Früher stand ihr Nähzeug, ein runder Korb mit Henkel und einem gepolsterten Stoffdeckel, neben ihrem Fernsehsessel, ich mochte die farbigen Filzreste, Knöpfe und Garnrollen und ich mochte die Ruhe, die meine Mutter bei der Handarbeit ausstrahlte. Meinen Lieblingsschal besserte sie aus, indem sie das Loch darin ließ und nur dessen Rand säumte, damit es nicht größer wurde. Wenn wir Flecken in unserer Kleidung hatten, die nicht mehr herausgingen, bestickte sie sie mit hübschen kleinen Motiven. Aus weißer Spitze nähte sie mir zu Fasching ein wunderschönes Tanzkleid mit wallendem Tüllrock, befestigte für mein Clownskostüm in stundenlanger Arbeit unzählige Kreise aus buntem Filz auf einer schwarzen Cord-Latzhose. Mein Bruder Kenta bekam Batman-Ohren aus dunkelgrauem Wollstoff, ein Rest vom Kürzen einer Winterhose.
Mit den Kindern sitzen wir im Schneidersitz auf dem Teppich und legen gemeinsam Wäsche zusammen. Meine Mutter hält unsere zerknitterten Geschirrtücher hoch und sagt stirnrunzelnd, die müsse man doch bügeln, und ich antworte, wir bügeln nichts. Sie fragt, wie soll ich das nur falten, und ich antworte, wie du willst, falte es irgendwie. Während ich eine...
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