Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Weil ich nicht Pionier werden darf, bin ich gezwungen, mich mit der Gräfin zu verbünden und soll deswegen auf meine Lackschuhe verzichten.
Der "Neiße"dienst. Was sonst noch daheim passiert.
Vor Graafs Wohnungstür steht ein Eimer mit Wasser und Scheuerhader, daneben der Schrubber, ein Besen, Handfeger und Schaufel. Die Gräfin ist dabei, zwei Flaschen Mandora und atri, gute Limonade, die es nicht so ohne weiteres im Konsum zu kaufen gibt, auf die Fußmatte zu stellen.
"Ach, du bist's, ich dachte schon ."
Ich weiß, was sie denkt. Sie erwartet jeden Moment wiedermal zwei arme Würstchen, denen sie eine Strafarbeit aufgebrummt hat. Die Gräfin ist berüchtigt dafür. Wer in der Schule in ihrer Gegenwart tobt, sich prügelt, Papier liegen lässt oder sie nicht mit "Genossin Graaf" anspricht, etwas in der Art, ist fällig.
"Und, was sollen wir nun tun?", fragt sie, während sie ihr Opfer festhält, "willst du zu mir zur Agitationsnachhilfe oder -?" Alle antworten sofort ja. Immer wollen alle oder.
Oder bedeutet, bei der Gräfin daheim eine Strafe abzuarbeiten. Meistens ist unser Treppenhaus zu putzen. Manchmal müssen die Erwischten auch den Bürgersteig kehren oder zwischen den Gehwegplatten, mit denen unser Hof gepflastert ist, das Unkraut ziehen. Die ganze Aktion heißt unter uns Schülern Neißedienst, weil der Fluss Neiße in die Oder fließt. Wer keinen Neißedienst will, muss bei ihr eine Selbstkritik schreiben. Das Schreiben kann dauern, denn die Gräfin ist nie mit dem Ergebnis zufrieden. Beim Putzen aber drückt sie oft ein Auge zu und verpflegt die Gestraften recht ordentlich. Sie bestraft aber nur Pioniere, denn sie ist keine Lehrerin, nur Pionierleiterin. Also habe ich nichts zu befürchten.
"Wieso kommst du schon aus der Schule, habt ihr keinen Gruppennachmittag?"
Wäre ich Pionier, hätte sie mich jetzt erwischt, aber ich bin kein Pionier, deshalb kann sie mir nichts.
***
Manchmal finde ich Mittwoch den scheußlichsten Tag der Woche, obwohl er, schulisch gesehen, hausaufgabenfrei ist. Doch ist ein freier Mittwochnachmittag keine geschenkte Zeit wie ein Sonntag, denn mittwochs ist Pioniernachmittag. Was meine Person betrifft, bin ich ein Grenzfall. Obwohl kein Pionier, nehme ich trotzdem daran teil, es sei denn, alle haben in Pionierkluft zu erscheinen, um auf eine Veranstaltung zu gehen. Treffen mit der Patenbrigade, Freundschaftstreffen mit Sowjetsoldaten, Besuch bei der Volkssolidarität und so etwas. Bei solchen Anlässen bin ich nicht erwünscht, weil ich das Gesamtbild störe.
Deswegen ist so ein Mittwoch scheußlich!
Nicht, weil mir unsere Deutschlehrerin eine Extrahausaufgabe verpasst hat. Ein Wandzeitungsartikel über den Namensgeber unserer Schule sei längst überfällig, war ihr spontan eingefallen. Die alte Ziege hoffte natürlich, mich damit zu ärgern. War ihr bestimmt im Eifer des Gefechtes entgangen, dass ich druckreife Aufsätze schreibe. So erkundigte ich mich scheinheilig, worauf sie bei diesem Artikel besonderen Wert lege.
"Auf seinen Klassenkampf natürlich."
Klar worauf sonst?
"Kann es auch über Georgi Dimitroff sein?"
Ich wollte die Alte ärgern, denn ich kannte die Antwort.
Unsere Schule besteht aus zwei Schulgebäuden, die durch einen Querbau verbunden sind. Daraus hat man zwei Schulen gemacht, die 5. POS Kurt Schlosser, meine Schule und die 31.
POS Georgi Dimitroff. Georgi Dimitroff war ein bulgarischer Antifaschist, dem die Nazis den Berliner Reichstagsbrand 1933 in die Schuhe geschoben hatten, obwohl er es gar nicht war. Die Brücke, die von der Dresdner Kathedrale über die Elbe in die Neustadt zum Goldenen Reiter führt, trägt auch seinen Namen: Georgi-Dimitroff-Brücke.
Nöller drehte sich zu uns um. "Wisst ihr, warum die Dimitroff-Brücke so heißt?" Wir schüttelten die Köpfe und schielten kurz nach vorne. Unsere Deutschlehrerin war glücklicherweise ins Klassenbuch vertieft. "Na, ganz einfach. Als August der Starke immer wieder Ausschau nach schönen Frauen hielt, ließ er sich in seiner Kutsche über diese Brücke fahren. Sah er eine Schöne, so befahl er: Die mit troff, und die mit troff, und die mit ." Das ist sächsischer Dialekt und bedeutet: "Die mit drauf und die mit drauf." Nöller kam nicht weiter. Unsere Deutschlehrerin zerrte ihn am Kragen und wütete: "Das melde ich deinem Vater!"
Nöller reagierte gelassen. "Der ist heute gar nicht in der Schule."
Nöller hat überhaupt ein loses Mundwerk. Neulich erzählte uns der Physiklehrer was von Kybernetik und den Sowjetgenossen, die ja führend auf diesem Gebiet sind. Nöller drehte sich um und raunte: "Was heißt Kybernetik auf Deutsch? Russenkunde, Iwanetik."
Auch wenn man über Sinn und Unsinn von Zusatzaufgaben streiten mag, was mir in diesem Fall den Tag vermiest ist das immer wiederkehrende Gefühl, ungerecht behandelt zu werden. Aus solcher Perspektive betrachtet, ist die Zusatzaufgabe quasi eine Strafarbeit. Strafe dafür, dass ich kein Pionier bin.
Noch bevor ich in die Schule kam, bestand Oma darauf, dass meine Eltern mich nicht Pionier werden ließen, obwohl Pionier zu werden bei uns in der DDR üblich ist. Gleich am ersten Schultag, wenn du mächtig zu tun hattest, die Zuckertüte zu stemmen, gab es noch ein paar Anmeldeformulare: für die Pioniere, die Schulspeisung und die Pausenmilch. Für Pausenmilch trugen mich meine Eltern ein, für Schulspeisung auch. Die Pionieranmeldung aber ließ mein Paps wortlos in seiner Jackentasche verschwinden, bis sie schließlich zerknüllt im Papierkorb landete. Alles gegen meinen Willen.
Auf Schulspeisung hätte ich gerne verzichtet, denn ich esse kein Fleisch, ebenso auf Pausenmilch, ich bin doch kein Baby! Aber nicht auf die Pioniere. Seit dem Kindergarten hatte ich mir nichts sehnlicher gewünscht, als Pionier zu werden. Auf Pioniernachmittage hatte ich mich gefreut und das Gefühl, zu einer republikübergreifenden Gemeinschaft zu gehören. Alle wurden Pioniere. Wer nicht Pionier wurde, war nicht normal. Nicht richtig in der Gesellschaft, wie das hieß.
Dass mein Paps die Pionieranmeldung entsorgt hatte, enttäuschte mich schwer. Blieb nur zu hoffen, andere Väter handelten genauso. Als einzige kein Pionier zu sein - nicht auszudenken!
Wenigstens sieben von siebenundzwanzig Klassenvätern wären ein annehmbarer Prozentsatz gewesen. In diesem Fall wäre nicht nur ein Kind, nämlich ich, ständig bloßgestellt und attackiert worden, sondern hätte sich diese Last auf mehrere Schultern verteilt. Doch meine Hoffnungen schlugen bereits nach zwei Wochen in schlimme Befürchtungen, meine Schulzeit betreffend, um. Bis dahin hatte unsere Lehrerin auch die letzten, es waren keine sieben gewesen, breit geschlagen, überzeugt, unter Druck gesetzt, freundlich gebeten.
Alle, außer meinem Paps.
Ich war übrig geblieben.
"Wenn Sie Julina unbedingt zur Außenseiterin machen wollen", hatte sie versucht, ihm mein weiteres Leben schwarz zu malen und Paps mit so vorwurfsvoller Miene angeschaut, als sei er ein Kinderschänder. Paps blubberte, ich sei zum Lernen in der Schule und nicht wegen der Politik.
Beim ersten Elternabend gab sich das frisch gewählte Elternaktiv alle Mühe, ihn von der Notwendigkeit des Beitritts zur Pionierorganisation zu überzeugen. Pinselchens Mama versuchte es mit Logik: Auch sie wären nicht politisch, in einer Partei und so. Genau genommen wäre der Beitritt zu den Pionieren reine Formsache.
Paps blieb stur.
Der Vater von Rainer Nölder kam ihm da schon konkreter. Genosse Nölder ist unser Schuldirektor. Er nahm Paps beiseite und raunte ihm vertraulich zu, an seiner Stelle würde er mir nicht alle Wege verbauen. Ohne Mitgliedschaft bei den Pionieren oder später in der FDJ, hätte ich mit Sicherheit keine Chance auf ein Studium oder eine leitende Funktion.
Paps ignorierte den Hinweis.
Auch als ihn unsere Klassenlehrerin freundlich darauf hinwies, eigentlich sei ich ja bei den Pionieren - bis auf das Halstuch unterschiede mich kaum davon - ich käme zum Gruppennachmittag und wäre auch sonst vorbildlich aktiv, schluckte Paps diesen Köder nicht. Sie könne doch zufrieden sein, entgegnete er.
Alle Kinder aus unserm Haus sind Pioniere. Unter uns wohnt Torsten Graaf. Jetzt ist Torsten zwar bei der Armee, aber früher war er Pionier. Ging ja auch nicht anders, denn sein Vater ist ein hohes Tier in der Partei und hat einen Dienstwagen.
Nur wer in der Partei ist, muss die Graafs mögen. Wir Hausbewohner meiden sie, die Nachbarn aus andern Häusern tuscheln und lauern hinter den Gardinen, wenn der schwarze Dienstwolga vorfährt.
In unserer Hausgemeinschaft bin ich leider die einzige, die um Frau...
Dateiformat: ePUBKopierschutz: Wasserzeichen-DRM (Digital Rights Management)
Systemvoraussetzungen:
Das Dateiformat ePUB ist sehr gut für Romane und Sachbücher geeignet - also für „fließenden” Text ohne komplexes Layout. Bei E-Readern oder Smartphones passt sich der Zeilen- und Seitenumbruch automatisch den kleinen Displays an. Mit Wasserzeichen-DRM wird hier ein „weicher” Kopierschutz verwendet. Daher ist technisch zwar alles möglich – sogar eine unzulässige Weitergabe. Aber an sichtbaren und unsichtbaren Stellen wird der Käufer des E-Books als Wasserzeichen hinterlegt, sodass im Falle eines Missbrauchs die Spur zurückverfolgt werden kann.
Weitere Informationen finden Sie in unserer E-Book Hilfe.