Schweitzer Fachinformationen
Wenn es um professionelles Wissen geht, ist Schweitzer Fachinformationen wegweisend. Kunden aus Recht und Beratung sowie Unternehmen, öffentliche Verwaltungen und Bibliotheken erhalten komplette Lösungen zum Beschaffen, Verwalten und Nutzen von digitalen und gedruckten Medien.
Christiane Tilly und Eckhard Klein
Wie ergeht es Betroffenen mit Magersucht im Alltag? Was gibt ihnen Hoffnung? Welche Bedeutung hat die Erkrankung für ihr Leben? Darüber wollten wir mehr erfahren. Magersucht, das wussten wir aus eigener Erfahrung, ist doch viel mehr als die Beschäftigung mit Essen, Nichtessen, Kalorienzählen oder Gewicht.
Wir waren uns vor einigen Jahren im therapeutischen Rahmen begegnet und vielleicht hätten sich unsere Wege ohne die Anorexie nie gekreuzt. Zu unterschiedlich schienen unsere Alltage auf den ersten Blick. So waren wir umso verblüffter, festzustellen, dass es erstaunlich viele Gemeinsamkeiten gab, von denen wir angenommen hatten, dass sie wohl jeweils nur exklusiv für uns persönlich galten. Es gab gute Gründe für die Erkrankung - bei jedem von uns - und gleichermaßen gab es bei uns beiden auch (unter-)gewichtige Argumente, die gegen ein »Weiter so« sprachen. Wir gehörten zu den Älteren im Behandlungssetting, und manche Angebote waren für uns einfach aufgrund einer ganz anderen Lebensphase eher unpassend. Viele Gespräche in und zwischen Therapiestunden mit anderen älteren, aber auch jüngeren Betroffenen hatten uns jedoch übereinstimmend deutlich gemacht: Wegen eines landläufig mit Magersucht assoziierten Schlankheitswahns war niemand in der Behandlung gelandet. Es ging nicht darum, attraktiver wirken zu wollen, sondern vielmehr darum, nicht fühlen, nicht denken oder nicht weiter funktionieren zu müssen - oder, oder . Gründe gab es viele. Magersucht war für alle ein unerbittlicher Kampf mit sich selbst. Bei nicht wenigen bereits über Jahre und Jahrzehnte. Die Magersucht war für viele ein schon fast lebenslanger Begleiter.
Sucht, das klingt nach dem Klischeebild eines betrunkenen Menschen, der jede Kontrolle über sich selbst verloren hat. Magersucht, das klingt nach »Sich-dünne-Machen« und Verschwinden. Ein Schwanken scheint jeder Sucht in irgendeiner Weise innezuwohnen, unser Gleichgewicht hatten wir durch die Essstörung beide irgendwie verloren, den anderen Betroffenen schien es ähnlich zu gehen. Im Spannungsfeld zwischen den inneren Stimmen - bisweilen von Behandelnden fast liebevoll anmutend als »Engelchen« (pro Gesundheit) und »Teufelchen« (pro Magersucht) bezeichnet - galt es also im Rahmen der Therapie herauszufinden, wie, wo und wer man selbst eigentlich war und sein wollte. Die Sucht also auch eine Suche nach Lösungen, nicht selten ein Versuch, zu überleben. Dies schien in den Gesprächen durch, wurde mal mehr, mal weniger klar ausgesprochen.
Und dann gab es die anderen Momente in der Therapie, in denen wir gemeinsam lachen konnten, in denen es wieder gelang, nach vorne zu schauen. Momente »ansteckender Gesundheit« und Hoffnung. - »Darüber machen wir irgendwann mal ein Buch«, so nahmen wir uns in einem dieser Momente vor.
Anfang 2020 starteten wir einen Schreibaufruf. Wir wollten hören, welche Erfahrungen Menschen mit Magersucht in der Darstellung ihrer Krankheits- und Genesungswege wichtig sind. Da wir uns mit dem Schreibaufruf an erwachsene Betroffene wandten, gingen wir davon aus, dass einige von ihnen von schwerer und anhaltender Anorexie betroffenen sein würden. Menschen also, die ihre Magersucht überdauernd als mächtigen Gegner erfahren, der den Alltag beeinflusst und dem man mit Respekt begegnen sollte
In Deutschland gilt die Magersucht als eine der Essstörungen, die am weitesten verbreitet ist. Frauen sind wesentlich häufiger betroffen, aber auch Männer erkranken an Magersucht. Immer öfter brechen auch sie ihr Schweigen und berichten von ihren Erfahrungen. Hinter statistischen Daten stehen immer individuelle Geschichten. Einige davon finden sich in diesem Buch, in dem 16 Erfahrungsberichte in das Erleben der Einzelnen hineinzoomen. Alle Erzählungen beginnen mit einem vorangestellten Satz, in dem jede und jeder die Magersucht für sich persönlich definiert. Jede Geschichte endet mit einer Aufzählung von Dingen, aus denen die Schreibenden im Alltag Kraft schöpfen.
Im Gesamtüberblick über die von den Autorinnen und Autoren verfassten Geschichten kristallisierten sich drei Schwerpunkte heraus, nach denen wir die Erzählungen im Buch angeordnet haben. Im ersten Teil finden sich Beschreibungen über die Gesichter der Magersucht - dabei geht es um zentrale Themen wie Struktur, Sicherheit und Kontrolle, die Dinge, die sich in der Stimme des »Teufelchens« zeigen können und nicht selten hilflose Selbsthilfeversuche sind. Im zweiten Teil schließen daran Erfahrungsberichte über das Leben mit der Erkrankung im Alltag an. Erfahrungen darüber, wie der stetige Kampf gegen die Erkrankung und für das Leben sich anfühlen kann und was hinter dem vermeintlichen Schlankheitswahn steht, wie etwa das Ringen um Identität. Es finden sich aber auch eine Reihe von Dingen, die den Alltag erleichtern können. Im dritten Teil geht es um Hilfen und Selbstakzeptanz - Betroffene beschreiben, wie es ihnen gelungen ist, Frieden mit sich und der Welt um sich herum zu schließen, wie Magersucht auch in Gesundungswege münden kann.
Wie bedeutsam Unterstützung von außen für Menschen mit Anorexia nervosa ist, wurde immer wieder in den Berichten der Autorinnen und Autoren sichtbar. Daher haben wir uns entschieden, neben den individuellen Erfahrungen der Betroffenen zwei Fachbeiträge mit aufzunehmen: zu Recovery und Therapieansätzen sowie zum Konzept der Ernährungsberatung. Therapie kann auch nach jahrelanger Erkrankung eine Chance sein, diese Überzeugung von Fachleuten macht Mut und zeigt, wie wichtig es ist, dass Hoffnung ebenso von professionellen Helfenden thematisiert wird. Eine Ergänzung zu den Fachperspektiven findet sich bei den Informationen zu Literatur, Adressen und Anlaufstellen im Serviceteil, am Ende des Buches.
Als wir den Schreibaufruf starteten, ahnten wir nicht, wie sehr sich die Pandemie auf uns alle und unsere Gesellschaft auswirken würde und dass durch sie auch das Thema Magersucht in den Fokus gerückt würde. In den Medien wurde darüber berichtet, dass Kinder und Jugendliche in Zeiten der Kontaktbeschränkungen häufiger an Essstörungen erkrankten. Auch in einigen Texten in diesem Buch spielen die Auswirkungen der Pandemie auf den Umgang mit der Magersucht eine Rolle. Es zeigt sich, dass die Pandemiezeit ebenfalls eine Destabilisierung für Menschen, die bereits lange Zeit erkrankt waren, erzeugt hat. Wir haben überlegt, wie bedeutsam dieser Aspekt vor dem Hintergrund einer - wie wir alle hoffen - zeitlich begrenzten gesellschaftlichen Ausnahmesituation ist. Wichtig scheinen uns darin vor allem zwei Botschaften: Zum einen wurden die gesamten Texte in der Zeit der Pandemie verfasst und es ist allen Schreibenden gelungen, davon zu erzählen, wie sie ihren Alltag bewältigen. Alle hatten außerdem Zugriff auf die Dinge, aus denen sie Kraft schöpfen. Selbst wenn es vielleicht in der Pandemiezeit nicht oder nur eingeschränkt möglich gewesen sein mag, bestimmte Sachen, die helfen, das innere Gleichgewicht herzustellen, tatsächlich tun zu können, so ist es umso ermutigender, dass diese nicht in Vergessenheit geraten waren und aufgeschrieben wurden. Und alle Geschichten erzählen davon, dass die Erkrankung Teil des Lebens ist. Lebensgeschichte und Krankheitsgeschichte sind eng miteinander verwoben. Lebensgeschichte und Gesellschaftsgeschichte ebenso. Bisweilen bedingt eines das andere, manchmal stehen alle drei scheinbar unverbunden nebeneinander. Immer sind sie aber Teil der gesamten Erfahrungen eines Menschen. Manchmal hilft dieses Wissen dann auch, Dinge rückblickend zu verstehen und sich der eigenen Person freundlicher, geduldiger und mitfühlender zuzuwenden.
Für die großartige Unterstützung aller, die unseren Schreibaufruf weitergeleitet haben, und der Fachleute, die unser Buch durch ihre Beiträge bereichert haben, bedanken wir uns herzlich. Unser ganz besonderer Dank gilt den Betroffenen, die ihre Geschichten aufgeschrieben haben. Wie mutig dies vor dem Hintergrund der leider noch immer bestehenden Stigmatisierung psychischer Erkrankung ist, kann gar nicht hoch genug eingeschätzt werden. Die Geschichten sind teilweise unter Pseudonym verfasst, weil das Risiko von Nachteilen im Alltag für manche zu groß gewesen wäre. Bis heute gilt also leider immer noch, dass sich über Magersucht - selbst, wenn die akute Erkrankungsphase lange zurückliegt - nicht wie über einen Fahrradunfall in der Pubertät berichten lässt. Vom Leichtgewicht zum Gleichgewicht ist auch ein Weg vom »Sich-dünne-Machen« zum »Sichtbar-Werden«. Selbst wenn die Erkrankung nicht mehr körperlich sichtbar sein mag, fordert sie von vielen Betroffenen dennoch weiterhin ein Unsichtbarmachen des Erlebten. Ermutigend ist jedoch, dass immer wieder neu entschieden werden kann, wo und wem gegenüber jede und jeder Einzelne über Erfahrungen mit der Erkrankung, aber auch mit ihrer Bewältigung sprechen möchte.
Hier ist es nun also, das fertige Buch. Es ist in erster Linie ein Buch von Betroffenen für Betroffene. Aber natürlich freuen wir uns auch über Fachleute und Angehörige als Lesende, die in die Geschichten von Hoffnung und Wegen zum Gleichgewicht eintauchen mögen. Die Erstellung dieses Buches war ein intensiver Prozess, für den wir insbesondere auch dem Lektorat danken. Für uns selbst hat er noch einmal eine Auseinandersetzung mit der Suche nach dem ganz persönlichen Gleichgewicht im Hinblick auf die Magersucht gefordert. Die Geschichten der Autorinnen und Autoren haben uns bewegt und etwas in Bewegung gesetzt. Aus dieser Erfahrung heraus empfehlen wir: Lasst euch Zeit...
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