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Wir haben nicht gleich die Polizei benachrichtigt. Später habe ich mir deswegen Vorwürfe gemacht und überlegt, ob alles anders ausgegangen wäre, wenn ich die Sache sofort ernst genommen hätte, wenn ich nicht darauf beharrt hätte, dass mein Vater gar nicht wirklich verschwunden war, sondern sich nur verspätete, dass er wahrscheinlich noch immer im Wald herumlief, um nach Eugene zu suchen. Meine Mutter meint, es war nicht meine Schuld, ich habe nur optimistisch bleiben wollen, aber ich weiß es besser. Ich glaube nicht an Optimismus. Ich glaube, dass die Trennlinie zwischen Optimismus und vorsätzlicher Blödheit hauchdünn ist (wenn es überhaupt eine gibt), und deswegen vermeide ich Optimismus lieber von vornherein, damit ich diese Linie nicht versehentlich übertrete.
Mein Zwillingsbruder John versucht auch die ganze Zeit, mir meine Schuldgefühle auszureden. Er meint, dass wir gar nicht wissen konnten, dass etwas nicht stimmte, weil es ein ganz normaler Morgen war, aber das ist natürlich die blödeste Ausrede, die man überhaupt bringen kann, denn warum sollte man annehmen, dass nichts schiefgehen kann, nur weil noch nichts schiefgegangen ist? Das Leben ist keine Geometrie, die entsetzlichsten, dramatischsten Dinge passieren ständig, ohne dass man sie hätte vorhersagen können und nicht wie am Ende eines steilen Abhangs, den man geradeaus runtergebrettert ist. Tragödien und schlimme Zufälle sind tragisch und zufällig, weil sie unerwartet sind. Außerdem, wenn man irgendwas in unserer Familie als »normal« bezeichnet, dann kann ich sowieso nur den Kopf schütteln. Und dabei denke ich nicht mal an so normalitätsnahe Dinge wie die Tatsache, dass John und ich nicht nur Zwillinge sind, sondern auch noch Junge und Mädchen, unseren gemischten Hintergrund (unsere Eltern sind eine Koreanerin und ein weißer Amerikaner), die Umkehrung der elterlichen Geschlechterrollen (berufstätige Mutter, Vater Hausmann) oder die verschiedenen Nachnamen (Parson für unseren Vater + Park für unsere Mutter = die Hybridbildung Parkson für uns Kinder) - sicherlich alles nicht alltäglich, aber heutzutage in unseren Breiten weiß Gott nicht schockierend. Was an uns zweifellos und grundsätzlich unnormal ist, ist die Dualdiagnose meines kleinen Bruders Eugene: Autismus und eine seltene Gen-Anomalie namens Angelman-Syndrom (AS), wobei sich diese Gen-Anomalie nur punktuell auswirkt, »mosaikartig« sagt man dazu. Das bedeutet, dass er nicht reden kann, motorische Probleme hat und - das fasziniert die Leute, die noch nie von AS gehört haben, am meisten - ein außergewöhnlich vergnügtes Gemüt besitzt, also ganz viel grinst und lacht.
Entschuldigung, ich schweife ab. Das ist einer meiner größten Fehler, und ich versuche, daran zu arbeiten. (Ehrlich gesagt will ich es nicht komplett abschalten, weil diese Abschweifungen manchmal zu etwas Wichtigem und/oder Lustigem führen. Zum Beispiel ist meine Abschlussarbeit, Die Philosophie der Musik und das Algorithmische Programmieren: Locke, Bach und K-Pop vs. Prokofjev, Sartre und Jazz-Rap, einer Fußnote in meinem ursprünglichen Exposé entsprungen. Ich kann nichts dafür, so funktioniert mein Gehirn eben. Als Kompromiss schlage ich vor, dass ich alle meine Abschweifungen in Fußnoten packe. Wenn Sie wie mein Vater und ich amüsante kleine Umwege mögen, können Sie sie lesen. Wenn Sie Fußnoten nervig finden (so wie John) oder sofort wissen wollen, was passiert ist (wie meine Mutter), können Sie sie einfach überspringen. Wenn Sie sich nicht sicher sind, können Sie ja ein paar ausprobieren und frei kombinieren.)
Also, wie auch immer, ich hab gerade von der Polizei geredet. Tatsache ist, ich wusste, dass was nicht stimmt. Das haben wir alle gewusst. Aber wir wollten die Polizei nicht benachrichtigen, weil wir unsere Befürchtungen nicht laut aussprechen wollten. Ganz ähnlich der Art, wie ich hier jetzt um den heißen Brei herumrede und mich an diesem nebensächlichen Thema des Anrufs bei der Polizei aufhänge, statt einfach klipp und klar zu sagen, was passiert ist.
Und das ist Folgendes: Mein fünfzigjähriger Vater, Adam Parson, ist verschwunden. Um 9.30 Uhr am Dienstag, dem 23. Juni 2020. Er war mit meinem vierzehnjährigen Bruder Eugene zum nahe gelegenen River Falls Park gewandert, wie sie es an den meisten Morgen getan hatten, seit ich quarantänebedingt vom College nach Hause gekommen bin. Wir wissen, dass sie es bis zum Park geschafft haben, weil sich Zeugen gemeldet haben: ein Dutzend Mountainbiker und Gassi gehende Hundebesitzer, die sie zusammen an verschiedenen Stellen um den Wasserfallpfad gesehen haben - die späteste Sichtung war um 11.10 Uhr. Um 11.38 Uhr (wir wissen die Zeit so exakt von der Aufnahme aus der Dashcam) kam Eugene aus dem Wald, rannte in die Mitte einer schmalen Landstraße und zwang so einen Autofahrer, der ein Stoppschild überfahren hatte und zu schnell abgebogen war, seinen Wagen in einen Graben zu lenken, um ihm auszuweichen. Kurz bevor das Dashcam-Video von dem Aufprall verzerrt wird, kann man einen verschwommenen Eugene erkennen, der nicht anhält, sich nicht umdreht, nicht mal das Auto oder sonstwas anschaut - er stolpert nur ganz leicht, so nah neben dem Auto, dass man schwören könnte, es müsste ihn getroffen haben. Das Quietschen der Reifen und das Geräusch, als das Fahrzeug im Graben landete, ganz zu schweigen von der Kettenreaktion der zwei Autos dahinter, verursachte eine grässliche Kakofonie aus metallischem Knirschen, Knallen und Kreischen, das die Leute aus ihren Häusern holte. Zufällig vorbeikommende Passanten berichteten, sie hätten einen Jungen davonstolpern sehen, den sie später als Eugene identifizierten. Bemerkenswerterweise hat keiner dieser fünf Passanten, der in den Unfall verwickelten drei Fahrer und zwei Beifahrer meinen Vater vor, neben oder hinter Eugene gesehen. Wir haben uns das mehrfach bestätigen lassen, und es steht einwandfrei fest: Eugene war alleine unterwegs.
Während all das ablief, steckte ich gerade mitten in etwas, was ich damals als einen der großen tragischen Momente in meinem Leben betrachtete. Seltsam, wie relativ solche Einschätzungen sind, wie sehr sie sich je nach Zusammenhang verändern können: Dieser Tag heißt natürlich seitdem Der Tag, an dem unser Vater verschwand, aber wenn man mich an jenem Morgen gefragt hätte, hätte ich geschworen, dass es Der Tag der großen Trennung war. Nicht, dass es so dramatisch gewesen wäre. Die Trennung selbst hatte ohne mein Wissen schon früher stattgefunden, nämlich durch Vics halbes Ghosting, das mir zwar aufgefallen war, ich aber als sein Bedürfnis nach Zeit für sich fehlinterpretiert hatte. Das war meine erste Ernsthafte Beziehung (soll heißen, sie hatte länger gedauert als sechs Monate), und ich dachte, dass ich verständnisvoll handle, wenn ich mich eher zurückhalte, statt zeternd seine Aufmerksamkeit einzufordern und darauf zu bestehen, dass er sich mir öffnet und seine Seele bloßlegt oder was auch immer. Was aber wirklich passierte, war, dass ich in einer Art Test durchgefallen war - Vic wollte sehen, wie wichtig er mir war, wie viel mir unsere Beziehung bedeutete etc. Der Anruf an diesem Morgen war nur eine höfliche Mitteilung meiner Testergebnisse.
Schweigend hörte ich mir Vics (etwas zu bemüht) coole, sachliche Schlussfolgerung an, dass er es für besser hielt, wenn wir »getrennt blieben«, weil er mir ja offensichtlich egal war. Mir ging auf, dass dieser Anruf ein weiterer Test war, den ich bestehen konnte, wenn ich mich empörte und protestierte: »Natürlich bist du mir wichtig« und »Das liegt alles nur an der Quarantäne und dem quälenden Getrenntsein, der Angst vor der Isolation«, bla bla. Aber ich steh nicht auf Dramen. Außerdem war ich ganz schön sauer, dass dieser Typ, der normalerweise meine »erfrischenden Mangel an Spielchen« rühmte, jetzt selbst eines spielte, von mir erwartete, dass ich mich daran beteiligte und darin auch noch gut war....
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