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Am 24. Februar 2022 marschierte die russische Armee in der Ukraine ein. Die wichtigste Invasionsroute verlief von Norden her aus Belarus - der kürzeste Weg von der Grenze bis nach Kyjiw, der ukrainischen Hauptstadt. Die Russen rückten offen in Kolonnen vor, ohne jegliche Scheu und ohne Luftunterstützung oder Aufklärung. Sie hatten ihre Galauniformen für die Siegesparade dabei, die sie in drei Tagen auf dem zentralen Platz von Kyjiw veranstalten wollten.
Es gab keine Siegesparade. Sie wurden an der Stadt Butscha gestoppt - 24 Kilometer Luftlinie von Kyjiw. Das ist exakt die Entfernung, aus der die russische Artillerie das Zentrum der ukrainischen Hauptstadt erreichen konnte. Die russischen Truppen wurden von Freiwilligen aus der Nachbarstadt Irpin aufgehalten. Sie hatten einen Hügel über der Brücke zwischen den beiden Städten besetzt und feuerten von dort aus auf den Gegner.
Die Verteidiger hielten einen Monat lang die Stellung, bis reguläre ukrainische Truppen eintrafen und die Russen bis zur belarussisch-ukrainischen Grenze zurückdrängten. Die meisten Verteidiger waren Zivilisten. Unter ihnen waren ein Musiker aus einem Akademieorchester, ein Familientherapeut, der in der Freizeit argentinischen Tango unterrichtete, ein Anwalt, der sich um den Funkverkehr kümmerte, weil Funken ein Hobby von ihm war, mehrere Bauarbeiter, ein Tankwart und andere. Der Scharfschütze war Hobbyjäger. Sie waren überaus kreativ im Gefecht. Als sie von großkalibrigen Waffen unter Beschuss genommen wurden, schafften sie Betonmischer und Bulldozer heran, um einen Schutz gegen das Artilleriefeuer zu errichten. Als der Regen und die Kälte unerträglich wurden, liefen sie in ein benachbartes, inzwischen getroffenes Gebäude, um sich am Feuer aufzuwärmen und ihre Kleider zu trocknen.
Die ganze Ukraine wurde von einem Geist der Initiative und Selbstorganisation gepackt. In den ersten Kriegstagen erörterten Militärexperten, was passiert wäre, wenn Präsident Wolodymyr Selenskyj (wie westliche Regierungen angeregt hatten) Kyjiw verlassen hätte oder wenn russische Kommandotrupps (von denen es mindestens drei gab) ihn getötet hätten. Sie kamen zu dem Schluss, dass es zwar gewiss eine Tragödie für die Ukraine gewesen wäre, aber nicht radikal den Kriegsverlauf geändert hätte. Man nehme nur die Bürgermeister der großen und kleinen Städte. Jeder einzelne organisierte von sich aus die eigene Verteidigung, ohne Befehle aus der Hauptstadt abzuwarten. Das ist ein eklatanter Gegensatz zu den Russen, die jede Initiative vermissen ließen. Präsident Wladimir Putin mischte sich in die Operationen der russischen Armee ein und traf Entscheidungen auf der Ebene eines Obersten oder Brigadegenerals.
Ein Vergleich mit den Perserkriegen der alten Griechen drängt sich geradezu auf. Damals leistete eine Allianz demokratischer Gemeinwesen, die griechischen Stadtstaaten, erfolgreich dem weit größeren Perserreich Widerstand und besiegte es am Ende sogar. Herodot, der «Vater der Geschichtsschreibung», wollte die Wurzeln der griechischen Widerstandsfähigkeit verstehen. Er reiste in jene Teile der antiken Welt, die er erreichen konnte, und verglich die Gewohnheiten der alten Griechen mit denen anderer Nationen.
Die hier vorliegende Geschichte der Ukraine wurde mit einem ähnlichen Ziel geschrieben. Ich habe versucht, die Gründe für die Widerstandsfähigkeit der Ukraine im globalen Kontext zu entdecken. Denn ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist nicht einfach nur ein weiterer Krieg. Dieser Krieg wird die Konturen der künftigen Welt bestimmen. Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat ihn eine «Zeitenwende» in der neuesten Geschichte genannt. Historiker diskutieren, was geschehen wäre, wenn die Griechen die Perserkriege verloren hätten. Es gehört nicht viel Fantasie dazu, sich auszumalen, was geschehen wäre, wenn die Ukraine in den ersten Kriegswochen nicht erfolgreich Widerstand geleistet hätte. Nehmen wir nur Butscha. Nach dem Rückzug der Russen wurden die Leichen von 461 Bewohnern dort entdeckt. In der ganzen Region waren es 1137 Opfer. Die meisten hatte man erschossen, und viele Leichname wiesen Anzeichen für Folter auf.
Inzwischen steht Butscha neben Srebrenica und Darfur als ikonisches Beispiel für modernen Völkermord. Der Krieg beschert uns immer mehr tragische Symbole. Am 6. Juni 2023 wurde der Kachowka-Staudamm, der sich damals unter der Kontrolle russischer Truppen befand, gesprengt. Die entfesselten Wassermassen überschwemmten riesige Gebiete der Südukraine bis zum Schwarzen Meer, was beträchtliche Verluste an Menschen- und Tierleben sowie irreparable Umweltschäden nach sich zog. Man spricht von einem Ökozid. Aber allem Anschein nach reichte das den Russen immer noch nicht. Putin und seine Helfershelfer drohen mittlerweile mit einem Atomschlag gegen die Ukraine und gegen die westlichen Länder, die sie unterstützen. Der Welt droht eine nukleare Apokalypse.
Diese Beispiele werfen Fragen auf, die so alt wie die Geschichtsschreibung selbst sind: Worin besteht das Wesen des menschlichen Bösen? Ist es möglich, die Gewalt in der Geschichte zu begrenzen? Ist es vielleicht sogar möglich, angesichts globaler Bedrohungen nachhaltige Fortschritte zu erzielen?
Die Geschichte der Ukraine und der benachbarten Länder und Völker enthält reiches Material auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen. Einerseits ist die Vergangenheit der Ukraine durchdrungen von extremer Gewalt. Wie dieses Buch zu zeigen versucht, war und ist die Ukrainefrage, heute und in der Vergangenheit, an den kritischen Wendepunkten der Weltgeschichte immer besonders akut: die Krisen des 17. Jahrhunderts, der Erste und Zweite Weltkrieg, der Sturz des Kommunismus. Andererseits ist die ukrainische Geschichte auch besonders reich an Beispielen für Überleben, Solidarität und Zähigkeit. Somit enthält die Vergangenheit der Ukraine sowohl Warnungen als auch Grund zum Optimismus.
Ich muss vorausschicken, dass dieses Buch keine eindeutigen Antworten gibt. Seit alters her heißt es, Geschichte sei der Lehrmeister des Lebens. Doch diese Redensart ist, wohl oder übel, falsch. Wie schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel argumentierte und der Popmusiker Sting einmal sang, lehrt die Geschichte uns überhaupt nichts. Sie gleicht eher einem Souffleur hinter den Kulissen, der den Schauspielern ihre Stichworte zuflüstert.
Alexander Gerschenkron war ein Historiker für osteuropäische Geschichte in Harvard, der im zaristischen, heute ukrainischen Odessa geboren wurde. Gerschenkron schreibt: «Der Beitrag des Historikers besteht darin, auf potenziell bedeutsame Faktoren und potenziell signifikante Kombinationen unter ihnen hinzuweisen, die man innerhalb eines eingeschränkteren Referenzraums nicht so ohne Weiteres erkennen kann. Das sind die Fragen. Die Antworten selbst sind hingegen eine ganz andere Sache. Keine Erfahrung in der Vergangenheit, so reich sie auch sei, und keine historische Forschung, so gründlich sie auch sei, können der lebenden Generation die kreative Aufgabe abnehmen, eigene Antworten zu finden und ihre eigene Zukunft zu gestalten.»
Viele Bücher zur ukrainischen Geschichte sind seit ihrer Unabhängigkeit im Jahr 1991 erschienen. Das vorliegende unterscheidet sich insofern von ihnen, als es andere und schwierigere Fragen zur Vergangenheit der Ukraine stellt - Fragen, deren Antworten unter Umständen für die Zukunft der Ukraine und der ganzen Welt entscheidend sind.
Es gibt kein Patentrezept für die Geschichtsschreibung. Jeder Historiker geht nach eigenem Gutdünken vor. Ich will einige Kriterien für das nennen, was mir wichtig erscheint.
Zunächst ist mein Ideal eine Geschichte ohne Namen und Daten. Ich ziehe eine Darstellung vor, die danach trachtet, die Prozesse aufzuzeigen, die sich hinter isolierten Ereignissen verbergen. So eine Darstellung zeichnet keine detaillierte Straßenkarte, aber kann als Kompass dienen und hilft uns, den richtigen Weg zu finden.
Selbstverständlich ist es unmöglich, Geschichte ganz ohne Namen oder Daten zu schreiben. Marc Bloch, einer der größten Historiker unserer Zeit, hat seine Zunft mit den Menschenfressern der Märchen verglichen: Sie wissen genau, dass dort, wo sie menschliches Fleisch wittern, die Beute nicht weit ist. Namen und Daten sind die Muskeln und das Blut der Geschichte. Entfernt man sie, so bleibt einem nur ein vertrocknetes Skelett. Aber wenn man...
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