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Kurz nach Sonnenaufgang am Freitag, dem 19. Mai 1536, verließ Sir William Kingston, Constable of the Tower of London, seine Wohnräume nahe der östlichen Festungsmauer und umrundete die Westseite des White Tower. Durch das Coldharbour Gate, das Heinrich III. um 1240 hatte errichten lassen, um den Zutritt zu den königlichen Gemächern zu sichern, gelangte er in den innersten Burghof. Bei den Räumlichkeiten der Königin angekommen, stieg er die Treppe am Südende des Gebäudes empor und durchquerte das kürzlich umgebaute Audienzzimmer. An der Tür zu der intimeren privy chamber klopfte er leise.[1]
Eine Hofdame öffnete, und hinter ihr stand eine schlanke, fünfunddreißig oder sechsunddreißig Jahre alte Frau von mittlerer Statur mit dunklen, blitzenden Augen und einem langen, schlanken Hals - Königin Anne Boleyn, die zweite Frau König Heinrichs VIII. Es war nicht das erste Mal, dass Kingston sie zu dieser Stunde besuchte. Sie hatte bereits ganz früh am Donnerstagmorgen nach ihm geschickt, nachdem sie seit zwei Uhr morgens eine unruhige Nachtwache gehalten und mit ihrem getreuen Almosenier John Skip im Gebet gekniet hatte. Als zum Tode Verurteilte hatte sie Kingston kommen lassen, während sie das Heilige Sakrament der Messe gereicht bekam und ihre Unschuld in Bezug auf die scheußlichen Verbrechen, derer man sie bezichtigte, beteuerte: Inzest, vierfacher Ehebruch und eine Intrige, um ihren Ehemann zu ermorden. Sie schwor zweimal auf das Sakrament, dass sie Gottes Wahrheit spreche, und erklärte, sie sei «eine gute Frau» und niemals untreu gewesen. Weil sie glaubte, sie werde kurz nach acht Uhr morgens sterben, der üblichen Stunde für solche Hinrichtungen, hatte sie in jener Nacht viele lange Stunden des Wartens verbracht, um sich mit dem, was ihr bevorstand, abzufinden und sich für den Gang aufs Schafott zu stählen.[2]
Sie hatte sich vorbereitet, weil eine der vier früheren Hofdamen, die ihr Ehemann jetzt zu ihren Wächterinnen ernannt hatte und die sie verabscheute - vielleicht ihre Tante Lady Elizabeth Boleyn -, sie davon in Kenntnis gesetzt hatte, dass sie an jenem Tag sterben werde. Es war ein grausames Missverständnis. Tag und Zeitpunkt der Hinrichtung waren noch gar nicht festgelegt.[3] Als nichts geschah, wuchs ihre Verzweiflung ins Unendliche. Und so sandte sie noch einmal nach dem Constable und sagte: «Master Kingston, ich höre, dass ich nicht vor Mittag sterben werde, und das tut mir sehr leid, denn ich glaubte, dann tot und über allen Schmerz hinweg zu sein.» Sie konnte nicht wissen, dass Heinrich ihren Hinrichtungsbefehl erst später an jenem Donnerstag billigen würde. Als der Erlass an Kingston schließlich gesiegelt war, hieß es darin: «Sofort bei Erhalt dieses Schreibens bringt Ihr die besagte Anne auf den Rasenplatz innerhalb Unseres Tower von London und schneidet den Kopf der besagten Anne ab, und verabsäumt dabei nichts.»[4]
Für die Verzögerung gab es noch andere Gründe. Bei Tageslicht standen die Tore des Tower offen, um Besuchern den Zugang zum äußeren Hof zu ermöglichen. Thomas Cromwell, der wichtigste Sekretär und Urteilsvollstrecker des Königs, wollte keinen Verdacht erregen, war aber eifrig bemüht zu verhindern, dass unabhängige Berichte über die genauen Umstände von Annes Tod ins Ausland gelangten. Deshalb hatte er Kingston befohlen, etwa dreißig Ausländer, die sich dort aufhielten, aus dem Bereich um den Tower zu vertreiben, bevor die Hinrichtung beginnen konnte. Cromwell beauftragte seinen loyalen Verbündeten, den Kaufmann und Bankier Richard Gresham, der (obgleich einer der meistgehassten Männern der Stadt) bald Lord Mayor von London werden sollte, sich um die Sicherheit zu kümmern und dafür zu sorgen, dass nur diejenigen, die nach dem Wunsch des Königs seine Ehefrau sterben sehen sollten, Zutritt bekamen - «wegen [der] Fragen der Leute». Gleichzeitig wollte Heinrich, der stets alles von langer Hand bis ins kleinste Detail plante, dass alle wirklich wichtigen Leute anwesend waren. In Anbetracht der anfänglichen Unsicherheit in Bezug auf Tag und Uhrzeit sorgte sich Kingston: «Wenn wir keine genaue Stunde in London bekannt geben, werden, so glaube ich, nur ein paar Menschen dasein, und ich halte eine angemessene Zahl für das Beste.» In dieser Hinsicht hätte er sich keine Sorgen machen müssen.[5]
Da er nicht ganz frei von menschlichem Mitgefühl war, versuchte Kingston Annes Aufmerksamkeit vom chaotischen Zeitplan abzulenken. «Es sollte nicht schmerzen», versuchte er zu trösten, «es ist kaum zu spüren.»
«Ich habe gehört», antwortete sie, «der Henker sei sehr gut, und ich habe ja einen dünnen Hals.» Dabei «umfasste sie ihn mit ihren Händen und lachte herzhaft». Ihr ganzes Leben lang hatte es ihr nicht an Mut gefehlt, und er verließ sie auch jetzt nicht. «Ich habe die Hinrichtung vieler Männer und auch Frauen miterlebt», ließ Kingston Cromwell wissen, «und sie alle waren in tiefer Sorge, und meines Wissens hatte diese Dame viel Freude und Vergnügen am Tod.» Nachdem ihre Ehe und ihr guter Ruf ruiniert waren, setzte Anne ihren Glauben in Christus, den Erlöser.[6]
Freitagmorgen war alles bereit. Anne, zu erschöpft, um zu schlafen, hatte eine zweite Nacht mit Skip im Gebet kniend verbracht. Bei Morgengrauen erschien Kingston erneut, um ihr zu melden, dass sie an jenem Tag sterben werde, und um ihr einen Beutel mit 20 Pfund zu überreichen, die sie der Tradition folgend vor ihrem Tod als Almosen verteilen sollte. Irgendwann nach acht Uhr morgens kehrte er zurück: Es war so weit.[7]
Anne kleidete sich mit größter Sorgfalt für ihren letzten Auftritt in der Öffentlichkeit. Als junges Mädchen am Hof von Königin Claude von Frankreich hatte sie einiges über die Macht und die Symbolik schöner Kleider gelernt. Die Gelegenheit erforderte Nüchternheit, nicht Flamboyanz, und so wählte sie ein pelzgefüttertes Gewand aus grauem Damast, über dem sie einen Hermelinumhang trug. Ihre Wahl ist bezeichnend, weil Seide und Satin in dunklen oder unauffälligen Farbtönen selten einen Platz in ihrer Garderobe fanden. Nie hatte sie Grau oder Schwarz getragen: Diese Farben war zu eng mit ihrer Vorgängerin als Königin, Katharina von Aragon, verbunden. Dann band sie ihr noch immer glänzendes dunkelbraunes Haar hoch, über dem sie eine englische Giebelhaube trug, eine weitere ungewöhnliche Wahl, weil sie die moderneren und schmeichelhafteren französischen Hauben bevorzugte. Die Bedeutung ihrer Kopfbedeckung sollten wir nicht übergehen. Anne hatte alles Französische von Kindesbeinen an geliebt: Ihr Geschmack und ihre Werte unterschieden sich radikal von denen früherer Königsgemahlinnen - doch dies war eine Gelegenheit, ihre treue Verbundenheit mit England zu zeigen.[8]
Begleitet von Lady Boleyn und den drei anderen Damen trat sie ein letztes Mal vor die Tür ihrer privy chamber und stieg die Treppe hinab. Sie überquerte den inneren Hof vor den Gemächern der Königin, ging durch das Coldharbour Gate und um den White Tower herum bis zum Tower Green vor dem House of Ordnance. Hier übten sich die Soldaten des Königs sonst oft im Schießen mit Pfeil und Bogen oder mit Feuerwaffen. Jetzt war in aller Eile ein «neues Schafott» auf dem Gras errichtet worden - heute sollte hier tatsächlich jemand den Tod finden.[9]
Das Schafott war gerade mal einen Meter hoch, vier oder fünf Stufen führten hinauf.[10] Eigentlich sollte es in schwarze Leinwand gehüllt sein, doch ob die für den Tower Verantwortlichen dies rechtzeitig geschafft hatten, ist unklar. Rundherum standen hastig aufgebaute Sitzreihen für die wichtigeren Zuschauer, allen voran Annes Stiefsohn, der siebzehnjährige Henry Fitzroy, Duke of Richmond, der illegitime Sohn des Königs, der hier vielleicht seinen Vater vertreten sollte. Anne hatte Fitzroy schlecht behandelt, und er genoss es sicherlich, sie sterben zu sehen. Ganz in seiner Nähe nahmen der Duke of Suffolk, Lordkanzler Sir Thomas Audley, Cromwell und die meisten Kronräte Platz, begleitet von Mitgliedern des Oberhauses. Hinter ihnen saßen der Lord Mayor und die Aldermen von London mit den Anführern der Gilden, zuvorderst der Master und die Ältesten der Mercers' Company, die sich ordentlich strecken mussten, um etwas ...
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