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II
Zum Grundgesetz kam es nicht auf deutsche Initiative hin. Es waren die drei westlichen Siegermächte, welche es als Grundlage eines zu bildenden westdeutschen Teilstaats von den Ministerpräsidenten der wieder errichteten Länder verlangten. Diese gerieten durch die Forderung in ein Dilemma. Während sie noch in gesamtdeutschen Kategorien dachten und alles vermeiden wollten, was die Teilung zu verfestigen drohte, sahen die westlichen Alliierten nach der gescheiterten Außenministerkonferenz aller vier Siegermächte im Dezember 1947 keine Chance mehr für eine gesamtdeutsche Lösung der deutschen Frage. Auf der Londoner Sechsmächte-Konferenz im Frühjahr 1948, zu der die Benelux-Staaten hinzugezogen worden waren, entschlossen sie sich zur Gründung eines westdeutschen Teilstaats.
Am 1. Juli 1948 übergaben die Militärgouverneure der drei westlichen Besatzungszonen den Ministerpräsidenten der Länder die in London beschlossenen, nach dem Übergabeort benannten Frankfurter Dokumente, deren erstes ihnen die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung auftrug. Diese «wird eine demokratische Verfassung ausarbeiten, die für die beteiligten Länder eine Regierungsform des föderalistischen Typs schafft, die am besten geeignet ist, die gegenwärtig zerrissene deutsche Einheit schließlich wieder herzustellen, und die Rechte der Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz schafft und die Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält». Es folgten Bestimmungen über die alliierte Genehmigung und die deutsche Ratifikation des Entwurfs.
In den historischen Werken ist die Vorgeschichte der Bundesrepublik in ihrem Zusammenhang mit dem sich zuspitzenden Ost-West-Gegensatz durchweg dargelegt. Die Frankfurter Dokumente kommen überall zur Sprache. Nur in dem kürzesten Buch, Wirschings Deutscher Geschichte im 20. Jahrhundert, sind sie nicht beim Namen genannt, und nur bei Henrich-Franke ist ihr Inhalt unrichtig wiedergegeben. Die Zugeständnisse, die die Ministerpräsidenten zur Vermeidung des Eindrucks einer endgültigen Spaltung den Alliierten abtrotzten: nur ein Provisorium und kein Referendum, werden dort als alliierte Auflagen ausgegeben (52). In drei Darstellungen, bei Birke (12), Morsey (17) und Wolfrum (39), sind die Frankfurter Dokumente als «Geburtsurkunde» der Bundesrepublik bezeichnet.
Das stimmt freilich nicht. In einer Geburtsurkunde wird die erfolgte Geburt beurkundet. Wenn man von einer Geburtsurkunde der Bundesrepublik Deutschland sprechen will, ist es das Grundgesetz. Die Frankfurter Dokumente waren dagegen, sofern man die Metaphorik fortspinnt, die Aufforderung zur Zeugung. Es hätte, wie die Darstellungen selber belegen, auch zu einer Verweigerung kommen können, weil die Ministerpräsidenten der Aufforderung aus Sorge um den Erhalt der deutschen Einheit lieber ausgewichen wären. Doch hielten sie es am Ende für klüger, sich zu fügen. Später lag eine Fehlgeburt im Bereich des Möglichen, weil der Parlamentarische Rat nicht bereit war, die alliierten Forderungen nach einer Nachbesserung des Verfassungsentwurfs zu erfüllen. Doch diesmal gaben die Alliierten nach.
Was den Parlamentarischen Rat und die Ausarbeitung des Grundgesetzes angeht, fallen die geschichtlichen Darstellungen dagegen karger aus. Erwähnt wird das Bestreben der Ministerpräsidenten, lediglich ein Provisorium für die Zeit bis zur Wiedervereinigung zu schaffen, die sie sich relativ kurz vorstellten. Deswegen bestanden sie, gegen die Erwartungen der Siegermächte, auf dem von den Landtagen gemäß dem jeweiligen Parteienproporz beschickten Parlamentarischen Rat statt einer vom Volk gewählten verfassunggebenden Versammlung. Deswegen lag ihnen auch an der Bezeichnung «Grundgesetz» statt «Verfassung». Wenn Wolfrum das für einen Unterschied in der Sache hält (39), irrt er allerdings. Der Parlamentarische Rat arbeitete eine vollumfängliche Verfassung aus, der er den Namen «Grundgesetz» gab.
Durchweg erwähnt wird auch die Bedeutung der Vorarbeiten des Verfassungskonvents, der im August 1948 auf Herrenchiemsee tagte. Sein Abschlussbericht erlangte zwar nicht den Status einer Regierungsvorlage, war aber dessen ungeachtet für das Grundgesetz wegweisend, zumal einige Personen in beiden Gremien wirkten, darunter eine so einflussreiche wie Carlo Schmid. Der Parlamentarische Rat selbst wird jedoch recht stiefmütterlich behandelt. In einigen Darstellungen ist nicht einmal angegeben, wie er sich parteipolitisch zusammensetzte. Gerade von dem Umstand, dass CDU und SPD gleich stark vertreten waren, hing aber durchaus etwas ab. Er legte den Rawls'schen «veil of ignorance»[1] bezüglich der künftigen Vorherrschaft über die Verfassungsausarbeitung und begünstigte so einen fairen Interessenausgleich.
Zwar weisen einige Historiker darauf hin, dass die drei Forderungen der Frankfurter Dokumente bei den deutschen Adressaten ohnehin nicht umstritten waren. Auch wenn sie gefehlt hätten, wäre es nicht zu einer anderen Verfassung gekommen. Aber diese Eckpunkte waren hochgradig abstrakt, darin selber ein Ausdruck der Uneinigkeit zwischen den USA, die weltpolitisch dachten und für Westdeutschland eine Rolle im entstehenden Ost-West-Gegensatz vorgesehen hatten, und Frankreich, das von seinem nationalen Interesse an einer nachhaltigen Schwächung Deutschlands geleitet war. So ließen sie der Konkretisierung durch den Parlamentarischen Rat viel Spielraum, und wie dieser zu nützen sei, war unter den Mitgliedern bei Einigkeit hinsichtlich der Grundlagen durchaus kontrovers.
Von den Konflikten findet aber nur der über die föderale Ordnung des künftigen Staates erhöhte Aufmerksamkeit. Er war allerdings auch der wichtigste. Zwar stand der Föderalismus als solcher nicht in Frage, aber heftig wurde im Parlamentarischen Rat um die Gewichtsverteilung zwischen Bund und Ländern gekämpft. Die Differenzen traten besonders bei der Regelung der Finanzen und der Ausgestaltung der Ländervertretung beim Bund zutage. Einem von den Landesregierungen beschickten Bundesrat stand ein in den Ländern gewählter Senat gegenüber. Fast alle Autoren stimmen darin überein, dass sich der alliierte Einfluss vor allem in der Forderung nach größerer Länderfreundlichkeit bemerkbar machte, letztlich aber nicht durchschlug, weil die Siegermächte das Zustandekommen des Grundgesetzes daran nicht scheitern lassen wollten.
Indessen beschränkte sich der Konfliktstoff nicht auf die bundesstaatliche Ordnung. Erbittert wurde auch um das Elternrecht, das Schulwesen, namentlich die Konfessionsschule, und das Verhältnis von Staat und Kirche gerungen, bis die Lösung in der Übernahme der Kirchenartikel der Weimarer Verfassung gefunden war. Bei Birke (15) und Morsey (20 f.) klingt das an. Die meisten Darstellungen übergehen diesen Streitpunkt aber. Dass auch die Frage, ob die neue Verfassung überhaupt Grundrechte enthalten sollte, lange umstritten war, taucht ebenfalls nicht auf. Verschiedene Werke zeigen sich von der geringen Rolle überrascht, welche die Wirtschafts- und Sozialverfassung in den Beratungen spielte (so Herbert 610). Erklärungen hätten sich in den Materialien finden lassen. Die Gewerkschaften brachen deswegen den Kontakt mit dem Parlamentarischen Rat ab.
Insgesamt erwecken die Darstellungen den Eindruck eines relativ großen Konsenses, der sich vor allem aus den Erfahrungen des Scheiterns der Weimarer Republik speiste. Nirgends wird versäumt, die «Lehren von Weimar» zu erwähnen. Weimar diente, wie Conze sagt, als «negatives Vorbild» (42). Herbert reduziert das Werk des Parlamentarischen Rats sogar ganz auf die Auseinandersetzung mit der jüngsten Vergangenheit. Es sei eine Verfassung entstanden, «die in nahezu allen Punkten als Konsequenz aus der Katastrophe von Nazismus und Krieg zu verstehen war» (607). Sie sei «so etwas wie eine Summe aus den divergierenden Überzeugungen von den Ursachen für das Scheitern Weimars» (609). Auch Wirsching nennt es eine «Anti-Weimar»-Verfassung (91). Ähnlich, aber begrenzt auf die «zentralen Bestimmungen», liest es sich bei Conze (41 f.).
Hinzu tritt bei mehreren Autoren der «antitotalitäre Grundkonsens», der sich sowohl auf den Nationalsozialismus als auch auf den Kommunismus beziehen konnte. Traditionslinien, die das Grundgesetz mit älteren deutschen Verfassungsschichten verbinden, werden dagegen kaum verfolgt. Dass der Föderalismus eine nur kurzzeitig vom Nationalsozialismus unterbrochene Konstante der politischen Ordnung in Deutschland seit Jahrhunderten war und auch der Rechtsstaat schon vor dem Konstitutionalismus Gestalt angenommen hatte, kommt selten zur Sprache. Die...
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