Schweitzer Fachinformationen
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Ich sehe die Szene heute noch vor mir, wie ich an jenem Sonnabend, es war der 3. Juli 1920, unschlüssig vor dem roten Backsteinbau des Kriminalgerichts Berlin-Moabit stand. Ich hatte an diesem Tag keine Verhandlung, aber wie jeden Tag konnte ich nicht anders, ich mußte hierher.
Die beiden Flügeltüren des Eingangs in der Turmstraße öffneten sich zur gleichen Zeit. Die rechte Tür, die zum Landgericht III führte, wurde vom Pförtner offengehalten. Er war aus seiner Loge herausgetreten, um einer Frau den Weg zu zeigen, die sich im zuständigen Gebäude geirrt hatte.
Aus der linken Tür zum Landgericht II traten zur gleichen Zeit zwei vierschrötige Männer in etwas zu farbigen, in den Schultern allzu stark auswattierten Jacketts. Sie hielten die Tür weit auf und schienen auf jemand zu warten. Ihre gutgenährten Gesichter waren gerötet und strahlten Zufriedenheit aus. Zwei Stammkunden von Moabit, das erkannte ich mit einem Blick, denen eine Sache gut ausgegangen ist. «Mensch, Orje, der Eid war'n duftet Ding, wa?» hörte ich den einen sagen.
«'n Ding wie 'ne Wanne», sagte der andere. «Darauf valöten wa eenen.»
Zwei Mädchen in billigen, sehr kurzen und sehr bunten Sommerfähnchen erschienen jetzt in der Tür. Die Kavaliere verbeugten sich gravitätisch: «De Damens imma vornewech!» flöteten sie, schoben ihre Hüte um einige Grad kesser in den Nacken und folgten den Schönen über den Damm hinüber zur Pritzwalker Straße.
Dort drüben in der Kneipe «Zur Letzten Instanz» würden sie jetzt den gelungenen Eid (wahrscheinlich einen falschen) bei vielen Hellen, kurzen Klaren und kalten Bouletten feiern .
Noch immer standen die beiden Türen offen. Durch welche sollte ich gehen? Ich ging durch die rechte zum Landgericht III, ohne mir klarzumachen, warum. Die breiten, hellen Korridore waren an diesem Tag fast menschenleer. Es war Sonnabend. Ich kreuzte gerade einen Quergang, da hörte ich hinter mir eine fröhliche Stimme: «Hallo, Herr Kollege!» Ich drehte mich um. Um die Ecke kam ein hochgewachsener Mann im grauen Rock, dem man die umgearbeitete Offiziers-Litewka noch ansah. Ich erkannte einen Kameraden aus dem Krieg, der im selben Marinekorps gewesen war wie ich. Jetzt war er Direktor beim Landgericht III.
Noch ehe ich seinen Gruß erwidern konnte, redete er schon weiter: «Sie schickt mir der Himmel! Stellen Sie sich vor, diese Schweinerei . Morgen steigt meine große Schwurgerichtssache. Mord in elf Fällen, im ganzen vierundfünfzig Anklagepunkte. Und was tut der Herr Verteidiger? Er legt nieder! Heute, sechs Wochen nachdem er die Bestellung zum Offizialverteidiger angenommen hat. Er legt einfach nieder, der Herr, jetzt, wo der ganze Apparat steht. Ein Dutzend Sachverständige, fünfzig Zeugen, die meisten von auswärts. Stellen Sie sich die Scherereien vor. Und was das den Staat wieder für Geld kostet! Lieber Kollege, Sie müssen mir helfen .»
«Ich?»
«Ja, Sie müssen einspringen und die Offizialverteidigung übernehmen.»
Ich kannte die Akten nicht und nicht den Mandanten. Gewiß, der bestellte Verteidiger hatte sich die Niederlegung des Mandats reichlich lange überlegt, allzu lange. Aber er würde wohl seine Gründe gehabt haben. Ich sah dem Landgerichtsdirektor in die Augen. Im Krieg war er Major gewesen, und ich hatte die Schulterstücke eines Kapitänleutnants getragen. Er hatte mich den höheren Rang nie fühlen lassen. Ich grinste ihn an. «Dienstlicher Befehl?»
«Nein», sagte er, «eine Bitte. Kommen Sie mit, damit ich Ihnen die Akten übergebe. In anderthalb Tagen schaffen Sie es.» Ich sagte: «Ja.»
Von diesem Augenblick an war ich Offizialverteidiger des wegen Massenmords angeklagten Schlossers Friedrich Schumann aus der Staakener Straße 6 in Berlin-Spandau, des Massenmörders vom Falkenhagener See.
Ich bat um Einsicht in die Akten. Die Anklageschrift des Staatsanwalts Dr. Steinbrecher enthielt vierundfünfzig Anklagepunkte: elf vollendete Morde, dreizehn versuchte Morde, zahlreiche Notzuchtverbrechen, Brandstiftungen und Einbrüche.
Es war, wie man in Moabit sagte, eine schöne Latte. Eine grausige Latte . Der blinde Zufall, oder vielmehr eine ganze Kette von Zufällen, die ich lieber Schicksal nennen möchte, hatte mich über Nacht zu einer der Hauptpersonen des Prozesses gemacht, dem ganz Berlin entgegenfieberte.
In zwei Tagen, am Montag um neun Uhr, sollte ich im großen Schwurgerichtssaal mit dem Staatsanwalt um den Kopf Friedrich Schumanns kämpfen. Und von diesem Augenblick an stand zwischen dem Kriegskameraden, dem ich soeben aus einer unangenehmen Situation geholfen hatte, und mir die Schranke, die im deutschen Gericht Verteidiger und Richter trennt. Er hieß Pioletti und war einer der vornehmsten der vielen hervorragenden Vorsitzenden, denen ich in meinen Tausenden von Prozessen gegenübergestanden habe.
Ich fuhr nach Hause. Meiner Frau sagte ich, daß im Laufe der nächsten beiden Tage unser teuer im Schleichhandel erworbener Kaffee draufgehen würde und daß ich im übrigen nicht gestört sein wolle. Diese letzte Bitte galt vor allem unseren Hunden, dem Dobermann «Harras» und dem Seidenspitz «Fix», den sonst unbeschränkten Herrschern über meine Freizeit.
Ich schlug die Akte Schumann auf. Als ich die ersten Seiten gelesen hatte, wußte ich, daß mir die Menschheit ein Buch mit sieben Siegeln geblieben war .
*
Am Mittwoch, dem 20. August 1919, vormittags halb elf Uhr, erscheint im Wartezimmer des praktischen Arztes Dr. Tepling, wohnhaft in Berlin-Spandau, Potsdamer Straße, ein kaum mittelgroßer, blonder Mann. Er mag etwa achtundzwanzig Jahre alt sein, trägt eine umgearbeitete feldgraue Uniform, dazu einen hellen weichen Hut. In der rechten Hand hält er einen schlanken Spazierstock aus hellem Holz. Er weist einen Krankenschein der Bezirkskrankenkasse Spandau vor. Der Schein lautet auf den Namen Friedrich Schumann, Schlosser.
«Wissen Sie», sagt der Besucher, «ich habe beruflich mit Zündern zu tun, habe Pech gehabt und bin durch Sprengstücke verletzt worden.» Er deutet auf seinen Oberarm.
Das ist in jenen Tagen nichts Ungewöhnliches. In den ehemaligen Munitionsfabriken und Arsenalen des Spandauer Bereichs liegen noch Unmengen fertiger und halbfertiger Munition aus dem Kriege herum. Ein großer Teil der männlichen Bevölkerung verschafft sich durch Verkauf des Metalls einen dringend notwendigen Nebenverdienst.
Der Arzt läßt Schumann Rock und Hemd ablegen. Um den linken Oberarm trägt Schumann einen Verband. Der Arzt entdeckt acht kleine, stark entzündete Hautwunden. Es sind winzige Löcher. Sie können niemals von Sprengstücken herrühren. Vorsichtig betastet Dr. Tepling den Arm und fühlt mehrere kleine harte Fremdkörper. Schrotkörner wahrscheinlich .
«Ich schreibe Sie krank», sagt Dr. Tepling, dem der unstete Blick des Besuchers auffällt. «Bitte nehmen Sie schon immer im Verbandzimmer Platz. Ich fürchte, Sie müssen ins Krankenhaus.»
Ruhig setzt sich Schumann in das Verbandzimmer. Er hat offenbar starke Schmerzen im Arm.
Inzwischen geht der Arzt rasch in die Küche. «Renne sofort zur Polizei», sagt er seiner Frau. «Ich glaube, das ist der Kerl, der vor zwei Tagen den Revierförster im Spandauer Forst ermordet hat.»
Dann geht Dr. Tepling in das Verbandzimmer zurück. Mit der Sonde stellt er fest, daß es sich um Schußkanäle handelt. Er fühlt jetzt die Schrotkörner deutlich.
Als Dr. Tepling den Verband anlegt, klingelt es draußen. Aus den Augenwinkeln beobachtet der Arzt den unheimlichen Patienten. Aber der schaut ins Leere, wie jemand, der einen Schmerz verbeißen will.
«Die beiden Männer vom Elektrizitätswerk», sagt die Arztfrau. «Wegen der Leitung im Schlafzimmer.»
Die beiden Männer, die jetzt auf Zehenspitzen durch das Verbandzimmer in das anschließende Schlafzimmer gehen, tragen Werkzeugtaschen. Sie machen die Tür leise hinter sich zu.
Aber schon wenige Sekunden später geht die Tür wieder auf. Jeder von ihnen hält in der Rechten einen Revolver, in der Linken eine Blechmarke.
«Kriminalpolizei! Wir verhaften Sie wegen Raubmordes.» Ruhig steht Schumann auf. Kein Erstaunen, kein Erschrecken, kein Fluchtversuch. Die Vorsicht der Beamten, die erst die vom Schlafzimmer auf den Korridor führende Tür abgeschlossen hatten, erweist sich als überflüssig.
Das geschieht am Vormittag des 20. August 1919. Am Abend melden die Zeitungen, daß die Spandauer Kriminalpolizei mit Schumann einen Doppelmörder gefaßt hat. Er habe nicht nur den Revierförster Nielbock erschossen, sondern am gleichen Tage auf der Spandauer Chaussee einen Radfahrer ermordet.
Gleichzeitig wird die Vermutung ausgesprochen, daß Schumann für eine Kette rätselhafter Mord- und Gewalttaten verantwortlich sein könnte, die in den letzten zwei Jahren die Anwohner des Spandauer Forstes und des lieblich gelegenen Falkenhagener Sees in Angst und Schrecken versetzt haben. Und schon am nächsten...
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